𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙸𝙸

Ein Pochen schlich sich in ihren Kopf. Es war ein lang anhaltender Schmerz, der zu einer immer unerträglicheren Qual wurde. Niemals würde er enden. Das dachte Raven zumindest.

Ein Kribbeln ihrer Nase verriet ihr, dass die Kopfschmerzen noch von etwas anderem begleitet wurden. Tränen. Mit ihren Fingern kniff sie sich in den Unterarm, um das zu vermeiden.

Lächle meinem Grab in voller Freude entgegen. Und wenn das verdammt noch mal nicht ging? Eine Träne rann über ihre helle Haut, bis sie am Kinn angelangte und auf ihren Pullover fiel.

Wie konnte sie jemals wieder lachen, wenn es nichts Gutes mehr gab. Sie war nicht gut.

Das Pochen setzte erneut ein. Raven wusste, dass sie so nicht denken sollte. Aber niemand hielt sie davon ab. Denn sie selber fühlte sich dazu einfach nicht imstande.

Manchmal gab es Momente, wo sie sich hasste oder abstoßend fand. Einer davon war jetzt. Genau in diesem Augenblick. Es war einer dieser Gedanken, die ihr Kopfschmerzen bereiteten.

Immer wieder hatte sie das Gefühl gehabt, sich selbst hassen zu müssen. Weil sie zerstörte. Sich selbst und alles, was sie anfasste. Sogar ihre tote Mutter hatte sie enttäuscht. Sie konnte einfach nicht lächeln, nicht, wenn sie an sie dachte.

Wenn sie sich auf die Straße stellen würde, könnte alles vorbei sein. Könnte. Eine Garantie gab es nicht. Nein! Sie durfte nicht feige sein. Nur weil ihr Leben gerade nicht funktionierte.

Es kostete sie einige Anstrengung, von der Straße wegzublicken und sich kein Mädchen vorzustellen, die angefahren wurde.

Sie musste ruhig bleiben und durfte nicht die Kontrolle verlieren! Einfacher gesagt als getan. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wie sie zu der Straße blickte und die Szene in ihrem Kopf abspielen ließ.

Einatmen. Ausatmen. Ihre Art, sich zu beruhigen, funktionierte nicht im geringsten. Wo blieb Seth, wenn man seine positive Ausstrahlung brauchte?

Die Sekunden fühlten sich an wie Minuten, welche sich wiederum wie Stunden anfühlten.

Gebannt starrte sie zu Boden und ignorierte den pochenden Schmerz, all die Gedanken und ihre ganze Umgebung. Immer wieder versagte sie. Und erwischte sich dabei, wie sie intensiv das Pochen in sich aufnahm und die Gedanken auf sich wirken ließ.

Grauenhaft. So fühlte sie sich, als alles auf sie traf. Auf ihr Herz. Das Szenario, sich selbst Tod zu sehen oder die Gedanken darüber, dass sie zerstörte. Es ließ in ihr die Tränen hochsteigen. Ein weiteres Mal. So wie sie ein weiteres Mal nur da stehen konnte. Nicht in der Lage, die Trauer zu bezwingen.

In ihrem Inneren war keine Leere, wo Platz für positive Gedanken war. Alles war überschüttet mit diesen vielen negativen. Erinnerungen oder Gedanken, für sie war es ein und dasselbe.

Verschwommen blickte sie auf die Straße. Dort, wo gerade ein Auto fuhr. Ihren Kopf nach unten geneigt.

Raven schloss die Augen. Die Straße hatte mehrere Risse und war uneben. An den Seiten wurde sie umsäumt mit Autos. Alle in einer anderen Farbe. Und dann war noch sie da. Sie stand am Rand und musterte die Straße aufmerksam.

Sie sah nicht glücklich, jedoch auch nicht unglücklich aus. Es war ein monotoner Gesichtsausdruck, der nicht viel verriet.

Ein Auto fuhr mit rasender Geschwindigkeit durch die Straßen und bog auf diese ab. Die Beine von ihr spannten sich an. Unmittelbar bevor das Auto an ihr vorbeifuhr, rannte sie nach vorne. Direkt vor das Auto. Sie kniff die Augen noch fester zusammen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Raven zuckte zusammen und drehte sich hastig um. Das Gesicht von ihm, es war ernst. Er hatte jegliche Spur seiner Fröhlichkeit verloren. Für den Moment.

Bewusst, wie sie aussehen musste, wandte sie sich von ihm ab und strich mit ihrem Ärmel die Tränen weg.

»Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es dich so mitnimmt.« Seine Stimme war brüchig und hatte keine Festigkeit. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Denn nicht das war der Grund, warum sie weinte.

Die Vergangenheit. Schön, aber zerbrechlich und der Grund, warum sie weinte. Sie war vorbei. Genau das schmerzte. Sowie jeden Moment, den sie ohne sie verbrachte. Ohne ihre Mutter oder ihren Vater.

Lange Zeit stand sie regungslos da. Den Mund leicht geöffnet, als würde sie jeden Moment etwas sagen, aber nie kam auch nur ein einzelnes Wort darüber, über ihre Lippen.

Sie brachte es nicht hervor, ihm die Wahrheit zu sagen. Deswegen nickte sie nur und drehte sich weg. Dieser Moment, er sollte einfach vorbei sein.

Im Hintergrund vernahm sie das klirrende Geräusch eines Autoschlüssels. Raven steuerte die Beifahrertür an und umklammerte den silbernen Griff mit ihren Fingerspitzen. Intensiv durchdrang die Kälte schnell das Innere ihrer Fingerkuppen. Bevor das Gefühl sie wieder verließ.

Mit einer kräftigen Bewegung zog sie den Griff zu sich. Die Tür schwang weit auf und ließ sie einen Blick ins Innere werfen. Die Sitze hatten einen braunen Farbton und passten zu dem schwarzen Armaturenbrett.

Unelegant schaffte es Raven irgendwie in das Auto zu gelangen. Den Rucksack hatte sie zwischen ihren Beinen platziert, wo er gut aufgehoben war. Sie bemerkte, wie Seth ihr einen kurzen Blick zuwarf.

Raven zerbrach es das Herz. Man konnte sehen, dass auch er litt. Das Funkeln in seinen Augen erstarb. Er dachte, er hätte sie zum Weinen gebracht. Dabei war es etwas so Schönes und doch Trauriges zugleich.

Sie wandte den Blick ab und schaute aus der verdreckten Scheibe. So wie jedes Mal. Obwohl sie nicht einmal ein Jahr unterschied hatten, fanden sie fast nie Gesprächsthemen.

Vielleicht – lag es an dem komplett unterschiedlichen Charakter. Vielleicht aber auch an der unterschiedlichen Vergangenheit. Raven wusste es nicht. Es gab nur ein vielleicht.

Gegensätze ziehen sich an. Das war ihre Meinung vor Jahren gewesen. Bevor er sich verändert hatte. Bevor er zu ihrem schlimmsten Albtraum wurde. Er. Sie brachte es nicht einmal zustande, an seinen Namen zu denken – aus Angst.

Sie fokussierte ihren Blick wieder auf die endlose Weite der Felder. Man hätte Stunden damit verbringen können, seinen Blick darin zu verlieren. Die Felder erstrahlten in einem bräunlichen Glanz. Bedeckt mit einer Schicht Reif.

Das Landschaftsbild veränderte sich und zeigte nun imposante Bäume, die sich mit ihrem dichten Blattwerk ineinander verwoben.

Immer wieder bemerkte Raven, wie sich die Landschaft verändert. Trotzdem meinte sie eine Regelmäßigkeit darin zu entdecken. Felder. Bäume. Dann wieder Felder. Es war immer die gleiche Reihenfolge. Bis auf ein paarmal, wo die Landschaft größtenteils auch Gebäude beherbergte, bestätigte sich ihre These.

Seufzend ließ sie sich in den Sitz zurückfallen. Die Stille war unangenehm. Sie musste etwas sagen. Irgendetwas. In ihrem Kopf kramte sie nach irgendwelchen Gemeinsamkeiten.

»Wie läuft's in der Schule.« Innerlich – war das für sie selbst ein Schlag, der sie mitten drin traf. Es war allerdings das einzige Thema, welches ihr gerade eingefallen war.

»Gut, es sind bald Prüfungen.« Raven nickte bedächtig. Er hatte es nicht für nötig gehalten, sie zu fragen. Dafür war sie ihn dankbar. Den im Gegensatz zu ihm lief es bei ihr ganz und gar nicht gut. Sie war versetzungsgefährdet.

Das Auto fuhr immer langsamer. Durch die Windschutzscheibe konnte sie ein massives Gebäude wahrnehmen. Der Hof wurde von allen möglichen Sträuchern gesäumt. Vermutlich hatten sie damit versucht, die Schule nicht so trostlos aussehen zu lassen.

Sie schenkte Seth ein letztes Lächeln, bevor sie ihren Rucksack auf den Rücken bugsierte und mit ihrer Hand den Griff zu sich zog. Die Tür schwang auf. »Tschüss« nach diesen Worten drehte sie sich um und lief den gepflasterten Weg entlang. 

Einzelne Bäume spendeten vor der Morgensonne Schatten.

Nachdem sie vor den Türen ihrer Schule stand, atmete sie noch einmal aus, bevor sie den kalten Griff zwischen ihre Hände nahm und von sich weg drückte.

Als sie das Geräusch der schließenden Türen vernommen hatte, umschloss die warme Luft sie gänzlich.

Willkommen bei einem weiteren Tag in der Hölle.


»»————- ★ ————-««


Ihr Blick schweifte über die kahlen Wände des Raumes. Ein einzelnes Plakat über Frankreich schmückte eine Ecke und verlieh dem farblosen Raum etwas mehr Farbe.

Die Tische waren weiß. Nicht einmal eine Kerbe zierte die Flächen. Alles hatte seine Ordnung. Die Stühle hatten eine extravagante Form. Es gab nur zwei Stuhlbeine, die sich unter dem hintersten Teil des Stuhles befanden. Darauf folgte eine Art weiße Platte, die sich vorne wölbte, um anschließend den Sitz und die Lehne zu formen. In der Mitte der Lehnen befand sich ein kreisrundes Loch.

Die Schulklingel begann zu läuten, ein Zeichen, dass der Unterricht zu Ende war. Hastig war sie in Begriff, ihr Tablet einzupacken.

»Ihr bekommt jetzt noch euren Test, also bleibt bitte noch an euren Plätzen.« Hallte die Stimme ihres Mathelehrers durch den Raum. Mathe war noch nie ihre Stärke gewesen und gelernt hatte sie auch nicht wirklich. Viel erwarten konnte sie also nicht.

Ihre Hand zitterte, als sie über den Tisch glitt, um den Test entgegenzunehmen. Ohne den Test oder die tuschelnden Mädchen neben ihr zu beachten, stopfte sie halbherzig den Test zwischen zwei Buchseiten.

Ein Blick durch den Raum genügte, um festzustellen, dass die Gesichter Bände sprachen. Manche freuten sich und strahlten übers ganze Gesicht, andere wiederum hatten Tränen in den Augen und hätten ihren Test vermutlich gerne in zwei Hälften getrennt.

Nach einem kurzen Blick auf die Mädchen, die ihr künstlich zulächelten, lief sie über die Türschwelle in einen der langen Gänge.

An den Seiten befanden sich mehrere Spinde. Allesamt in einem Farbton. Grau.

Zielstrebig steuerte sie einen der zahlreichen Spinde an. Jeder einzelne davon hatte einen individuellen Code, den natürlich ausschließlich die Leute kannten, die ihn benutzen. Es sei denn, sie erzählten ihren Freunden davon. Doch Raven hatte keine.

Und trotzdem lagen dort in ihrem Spind haufenweise Zettel. Zettel, die nicht von ihr stammten.

Vorsichtig nahm sie den ersten in die Hand. Ihr Herz pochte so laut, dass sie Angst hatte, die Person neben ihr könnte es hören.  Das Blut in ihren Adern gefror, als sie auf den Zettel starrte.

Es waren Zahlen. Nicht wahllos aufgeschriebene. Sondern der Zahlencode ihres Spindes. Der Code, den niemand kennen durfte. Die Zahlen waren der Beweis, dass sie falschgelegen hatte, als sie anfangs dachte, die Zettel seien über einen Schlitz in ihren Spind gebracht worden.

Wie? Wie war das möglich? Sie hatte immer sorgfältig ihre Hand als Schutz genommen, damit niemand den Code sehen konnte. Trotzdem hatte irgendjemand es geschafft.

Sie wusste, sie sollte nicht weiterlesen. Raven konnte nicht anders. Spitz nahm sie den nächsten Zettel in die Hand. Bevor sie ihn öffnete, schaute sie sich um. Der Gang war fast leer. Nur einzelne Schüler unterhielten sich noch mit Freunden oder Lehrern. Niemand achtete auf sie.

Als ihre Finger das zerknüllte Papier auffalteten, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Die Letter, die vor ihr standen, bedeuteten nichts Gutes. Im Gegenteil, sie zogen mit Sicherheit verhängnisvolle Folgen mit sich.

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