𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙸

Ihre Finger strichen über die einzelnen Buchstaben, dann über ganze Wörter, bis sie mit ihren Fingerspitzen ganze Sätze und Zeilen berührte. Sie ließ es einfach auf sich wirken. 

Es waren ihre letzten Worte gewesen. Unmittelbar vor ihrem Tod. Es war nicht viel, aber in ihrem Herzen hatte es einen großen Teil beansprucht. 

Für sie war es der Gedanke, der zählte. Ein Gedanke, der das bewusste Denken ihrer Mutter zum Leben erweckte. So war sie schon immer gewesen. 

Sie wusste nicht, ob es eine Erinnerung war, die nicht stimmte, aber in ihrem Kopf gefiel ihr die Erinnerung. Vielleicht war es auch nur einer dieser schönen Gedanken, nach dem Tod eines Geliebten, wo man versuchte die Zeiten noch schöner zu reden. 

Jedes einzelne Wort hatte seine Richtigkeit. Nie war ein Wort aus ihrem Mund gekommen, welches sie nicht wollte. Sie konnte sich gut kontrollieren. 

Sie las den Brief erneut. Ihre Lippen bewegten sich, als sie flüsternd die Worte des Briefes wieder gab. Ihre Stimme zitterte leicht. 

Bei jedem einzelnen Wort musste sie erst einatmen und anschließend ausatmen. Es half ihr, nicht die Beherrschung zu verlieren und unkontrolliert in Tränen auszubrechen. Tränen waren nicht schlecht. Sie brachten allerdings nichts. Sie würden lediglich den Brief in seiner Schönheit zerstören. 

Manchmal lag sie nachts einfach nur in ihrem Bett, starrte auf die Decke und legte ihre Hand auf den Bauch. Auf eine beruhigende Art hatte sie jedes Mal das Senken und Heben des Bauches gespürt. Es war fast wie eine Art Meditation zum Einschlafen. 

Ihr Blick fokussierte sich wieder. Nachdem sie einen klaren Kopf gefasst hatte, machten die einzelnen Buchstaben allmählich in ihrer angeordneten Reihenfolge wieder einen Sinn. 

Das alles hatte sie ihrem Kopf zu verschulden, der eben nicht sonderlich unter ihrer Kontrolle stand, sondern oft das machte, was er wollte. 

Die letzten drei Wörter brachte sie kaum heraus. 

»Ave Imali Wheatly« Es waren Wörter, die einfach nur in den Raum flogen, nur um dann nach wenigen Sekunden wieder zu verklingen. 

Doch für sie war es mehr als ein Name. Es war mehr als nur der Name ihrer Mutter. Es war ein Geschenk für sie. 

Denn nie wieder würde sie diese Worte eine Person sagen hören. Nie wieder. Nur sie selbst verwendete sie. Aber nur dann, wenn niemand zuhörte. Jedoch war daran nichts verwunderlich. Es existierte niemand mehr, dem ihre Mutter so nah gestanden hatte. 

Ihre Mutter hatte laut ihren Erinnerungen keine Freunde gehabt. Zumindest hatten diese es auch nie für nötig gehalten, mit ihr über ihre Mutter zu reden. Dann gab es nur noch eine Person. Die Person, von der sie nicht einmal mehr wusste, ob sie lebte oder tot war. Die einzige Verbindung, die ihr mehr über ihre Mutter hätte erzählen können. 

Ihre Augen erhaschten ein Blick auf das Bild, das ebenfalls in dem Umschlag enthalten war. Ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück und durchwühlten ihre alten Erinnerungen. 

Sie saß auf einem roten Sofa, die Beine unter sich geklappt. Neben ihr spürte sie seine sanfte Bewegung, während er ein weiteres Bild aus der Kiste nahm. Sie war mit allem erdenklichem geschmückt. Auf eine einzigartige weiße. 

Es lagen schon etliche Bilder neben ihnen, aber sie beide hatten nicht genug von ihrem Lächeln bekommen. Denn das war unmöglich. 

»Sie sah genauso aus wie du« Er hob ihr ein großes Bild hin. Es unterschied sich kaum von den unzähligen anderen. Aber ihr Lächeln war einfach magisch. Sie konnte ihren Blick nicht von selbst davon abwenden. 

Ihre Mutter hatte so unzählig viele, verschiedene Lächeln gehabt. Alle auf ihre Art besonders. 

»Erzähl mir mehr über sie«, bat sie ihn. Doch er wischte sich nur mit seiner Hand die kleinen Tränen, die an seinen Wangen herunterrollten, weg. 

Er lächelte sie an.»Ein andermal. Nicht heute. Vielleicht morgen.« Er legte das Bild zurück in die Schachtel und nahm sie in den Arm. So fest wie sie es schon lange nicht mehr gespürt hatte. Es war, als würde er nicht sie umarmen, sondern die Person, nach die er sich so schmerzhaft sehnte. 

»Was ist los, Papa?«, fragte sie und blickte in sein Gesicht. Die braunen Augen schwammen in Tränen. Er erwiderte eine lange Zeit nichts darauf und umarmte sie einfach nur fester. Er würde sie nie wieder loslassen, das wusste sie. 

»Ich bin einfach nur glücklich« Er sprach die Worte stockend und zögernd aus. Man merkte, dass er sichtlich mühe damit hatte, die Worte auszusprechen. 

»Warum?« Sie verstand ihn nicht. Warum weinte er, wenn er glücklich war? 

»Weil sie jetzt frei ist. Sie muss nie wieder leiden.« Behutsam strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und drückte sie zärtlich zu sich. 

»Werden wir sie wieder sehen?« Eine Frage, auf die er lange Zeit keine Antwort fand. Die Stille breitete sich immer weiter aus, bis sie sich dehnte und unerträglich wurde. Warum antwortete er nicht? 

»Ja, ganz bestimmt.« Die Worte waren warm und voller Liebe. Als würde er selbst gerade in alte Erinnerungen eintauchen und sich darin verlieren. 

Ihre rechte Hand ballte sich zusammen. Sie hatte sich geirrt, bei allem, was ihn betraf und ihm vertraut. Wie sich herausstellte, war das einer ihrer ersten verheerendsten Fehler gewesen. Einen, den sie nie wieder, gerade biegen konnte. 

Leise Tränen flossen über ihre hellen Wangen. Sie wollte sie wegstreichen, so wie er es getan hatte, doch sie fühlte sich nicht in der Lage irgendetwas zu tun. Alleine das Weinen war zu viel für sie und überfordernd. 

Sie saß einfach nur ruhig da und weinte in die Stille hinein. Immer wieder ließ sie ihren Kopf die Szene erneut abspielen. Sie wollte verstehen, warum er ihr das Gefühl von Zuneigung gegeben hatte. Doch es gelang ihr nicht. 

Hatte er sie vielleicht belogen? Vielleicht. Das Wissen würde ihr allerdings nicht viel nützten. Sie wäre sicherlich nicht glücklicher, wenn er es ihr gesagt hätte. 

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Da waren noch etliche Fragen in ihrem Kopf. Auf alle gab es eine Antwort. Irgendwo da draußen. Aber nicht heute. Nicht, wenn sie nur spekulieren konnte. 

Mehrere Minuten waren verstrichen. Ruhe war wieder in ihren Körper gekommen. Ebenso die Beherrschung. Sie war aus ihrer Starre erwacht und konnte sich von der Erinnerung abwenden. Vorerst. 

Mit ihren Händen umklammerte sie das kleine Bild. Das schwarze brustlange Haar fiel ihr zu beiden Schultern herunter. Mehrere Locken schauten hervor. Ihr Gesicht war blass und bekräftigte die kleinen, hellblauen Augen. Lachend schaute sie in die Kamera. Es war ein echtes, das wusste sie. 

Es war ansteckend, wie sie fand. Lächelnd und schluchzend zugleich betrachtete sie das Bild noch eine Weile. Als könne sie dadurch mehr über sie erfahren oder sie wieder zu den Lebenden bringen. 

Es musste einfach mehr hinter diesem Lächeln stecken. Verunstalte dein Gesicht nicht, indem du vor mir weinst. Lächle meinem Grab in voller Freude entgegen. So lauteten die letzten zwei Zeilen in ihrem Brief. 

Ein Klopfen. Dann noch eines. In einem fortwährenden Tempo dröhnte es in ihren Ohren. »Kann ich hereinkommen?« Die Stimme klang dumpf durch die Tür, verlor aber nichts an ihrer Kräftigkeit. 

Schnell steckte sie den Brief zurück in den Umschlag und versteckte ihn hinter einem Bild. »Ja« In ihrer Stimme lag eine erstaunliche Ruhe, die sie selbst nicht verstehen konnte. Was war mit ihren Gefühlen passiert? 

Vielleicht hatte ihr Vater bei einer Sache recht gehabt. Man konnte glücklich sein, wenn man jemanden verloren hatte, den man geliebt hat. Ihre Mutter hatte es nicht einfach gehabt. 

Die Türangeln quietschten, als die Tür vorsichtig aufschwang und beförderten sie zurück in die Realität, wo ein grinsendes Gesicht zum Vorschein kam. Nach wenigen Sekunden erstarb das Grinsen und er setzte eine ernste Miene auf.

Er hatte die Stirn gerunzelt und war zu ihrem Schreibtisch gelaufen. Sein Finger wies auf das Bild, welches sie vergessen hatte einzupacken. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du morgens vor der Schule keine Bilder von deiner Mutter anschauen sollst.« Seine braunen Haare fielen ihm ins Gesicht, als er versuchte, das Thema lustig zu verpacken. 

Manchmal gelang es im. Oft. Aber nicht heute. 

So war eben seine Art. Er dachte immer, das Leben sei unbeschwert und setzte jeden Tag ein Lächeln auf. Egal was passierte, er war immer derjenige der sagte alles würde gut werden. Optimistischer ging es nicht. 

»Das geht dich nichts an Seth« gab sie spitz zurück. Es war ihre Mutter, nicht seine. Auch wenn sie sich jetzt eine teilten. 

»Warum so schlecht gelaunt?« Fragte ihr Adoptivbruder mit einem sarkastischen Unterton. Er konnte es einfach nicht lassen.Besäße Seth nicht so ein Charisma, würde sie den Blick von ihm abwenden. Doch das machte es unmöglich. Deswegen schaute sie ihm in die grauen Augen. War das Belustigung, die in sich in seinen Augen widerspiegelte? »Du hast noch zehn Minuten, dann musst du im Auto sitzen. Sonst fahre ich ohne dich los.« Er lachte. »Und das wäre doch zugegebener Maßen sehr schade.« 

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor sie mit großer Mühe den Blick von ihm abwenden konnte, das Bild nahm und in ihre Handyhülle legte. Seine Hände kamen ihr jedoch zuvor und schnappten ihr das Bild aus der Hand. »Das ist nicht fair.«

Mit ausgestreckter Hand versuchte sie an seine Hand zu gelangen. Allerdings war er um einiges großer und stärker. Sie entschied sich, es auf eine einfachere Weiße zu lösen. Voller Hoffnung und gespieltem Enthusiasmus hob sie ihm ihre Hand entgegen. 

Kurz zog er seine Augenbraue hoch, bevor er ihr das Bild gab. »Ich will doch nur nicht, dass du in alten Erinnerungen schwelgst.« Schnaubend nahm sie ihm das Bild wieder ab und steckte es zu seiner vollen Missgunst in die Hülle. 

Schon fast mit einer provozierenden Art bedachte sie ihn. Diesmal schaffte sie es, seinem Charisma zu widerstehen. »Dann hast du eben Pech gehabt. Die Vergangenheit ist eben schöner, als die Gegenwart.« Sie nahm ihren Rucksack von ihrem Bett und lief die Treppen runter. 

»Raven!« Sie ignorierte Seth und lief zu der Tür. Ich weiß etwas, was niemand sonst weiß. Willst du wissen, was es ist? Die Worte fuhren ihr durch den Kopf. Warum jetzt? 

Es war etwas gewesen, war ihre Mutter fast jeden Tag gesagt hatte. Früher hatte Raven gedacht, dass ihre Mutter sie ärgern wollte. Aber jetzt? Diese Worte hatte sie auch niedergeschrieben in dem Brief. Sie mussten einfach mehr bedeuten. 

Oder sie wünschte sich einfach nur, dass dieser Brief mehr bedeutete? Ich weiß etwas, was niemand sonst weiß. Willst du es wissen? Die Worte fuhren ihr wie ein Echo durch den Kopf und hatten alle ihre Wirkung. 

Ja, hätte sie früher gesagt. Jetzt, wo sie wusste, was ihre Mutter damit gemeint hatte, wünschte sie sich, dass sie nie Ja gesagt hätte. 

Sie litt an einer schweren, unheilbaren Krankheit. Die Worte klangen nah. Nicht, als wären sie vor Jahren ausgesprochen worden, sondern als hätte ihr eine Person das gerade erst mitgeteilt. So sehr schmerzte es auch. Wie ein Messerstich, der ihr ins Herz gerammt wurde und niemals aufhörte zu bluten. 

Ihre Ohren hörten nur noch diesen Satz. Sie blendeten alles andere aus. Unwillkürlich. Das Singen der Vögel oder die Autos, die durch die Straße fuhren. Alles verschmolz zu einem einzigen unerträglichen Geräusch. Der Satz, den sie nie wieder hören wollte. 

Aber sie war selber schuld. Wer Antworten wollte, musste auch damit rechnen, die Wahrheit zu erfahren. Und wenn sie noch so schrecklich war. 

Sie versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die Farben der Autos. Es gelang ihr nicht. So schnell würde sie diesen Gedanken nicht verdrängen können. 

Raven wünschte sich, sie könnte Abstand zu ihrer Vergangenheit schaffen. Sie war schöner als die Gegenwart, jedoch auch schmerzvoller. Seth hatte recht gehabt und sie, sie wollte nur stark wirken. Das war sie nicht. Nicht im Geringsten. Besonders nicht dann, wenn sie in die Vergangenheit oder Zukunft schaute. 

Denn sie wusste, die Vergangenheit hatte sie zerstört. Die Zukunft würde es aber auch. 

Mit jeder Stunde, Minute und Sekunde kam sie näher. Nicht einmal in der Gegenwart war sie sicher. Sie zerstörte sich selbst. Stück für Stück. Es war ihre Schuld. Sie hätte niemals neugierig sein sollen. Die Wahrheit schmerzte. Fürchterlich. Und sie würde sie niemals verlassen. Nicht einmal dann, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte und sie zerstört hatte. 

Tausende Male hatte sie sich überlegt, wie es gewesen wäre, wenn ihre Mutter noch am Leben wäre. Wenn sie noch eine Familie wären. Immer wieder waren ihre Gedanken abgebrochen, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, dass es so schön sein könnte. 

Einfach anders als jetzt.


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