Ich brauche sie

"Ah, Louis! Schön, dass du da bist. Du kannst gleich mitkommen" ,begrüßt Anne mich, sobald ich die Praxis betreten habe. Mit Molly auf dem Arm folge ich Robins Frau und bin ziemlich erleichtert darüber, dass ich schon so schnell dran komme. Meine Sorgen machen mich schon ganz verrückt, aber ich bin zuversichtlich, dass Robin mich beruhigen kann.

"So, da wären wir. Robin konnte euch leider nicht übernehmen, aber dafür wird sich mein Sohn wundervoll um unsere Molly kümmern" ,verspricht Anne, während sie die Tür zum zweiten Behandlungsraum öffnet.

Etwas unzufriedener folge ich ihr, da ich eigentlich fest davon ausgegangen bin, dass Robin nach ihr sieht. Immerhin kennt er sie schon gut und ich würde mich sicherer mit ihm fühlen. Annes Sohn ist ja laut Robins Aussage erst neu dabei. Bestimmt hat er noch viel zu lernen.

"Ich möchte wirklich keine Umstände machen und ich bin euch schon dankbar, dass das so kurzfristig überhaupt geklappt hat, aber wäre es nicht irgendwie möglich, dass Robin das übernimmt? Ich würde auch warten, bis er fertig ist" ,versichere ich ihr und lege Molly dabei vorsichtig auf dem Behandlungstisch ab. Meine Hände befinden sich danach immer noch in ihrem Fell und ich streichele sie zur Beruhigung.

"Es tut mir wirklich leid Louis, aber Robin wollte sich um die Katze kümmern, die eingeschläfert werden muss, weil er weiß, dass Harry dafür noch nicht bereit ist. Seine Katze musste eingeschläfert werden als er jünger war, er hat es nicht gut verkraftet, weshalb Robin ihn jetzt schützen möchte. Beide haben heute einen vollen Terminkalender und ich konnte gestern wirklich nur bei Harry etwas freischaufeln. Du musst dir aber wirklich keine Gedanken machen, mein Sohn macht das hier mit der selben Leidenschaft wie Robin, wenn etwas mit Molly nicht stimmt, wird er es herausfinden" ,versichert sie mir und tätschelt meine Hand, die auf Mollys Rücken liegt. Ich nicke leicht und sehe ein, dass mir wohl nichts anderes übrig bleibt.

Robins Sohn wird bestimmt wissen was er tut, immerhin hat er hart dafür gearbeitet, diesen Beruf auszuüben, aber ich komme nicht darum herum, mir lieber Robin zu wünschen. Er kennt Molly.

"Entschuldigung für die Verspätung, ich hoffe-"

"Ah, Harry mein Schatz, da bist du ja!" ,unterbricht Anne ihren Sohn freudestrahlend, was diesen wohl etwas aus der Bann wirft. So wie mich sein Erscheinungsbild. Braune Locken, grüne, stechende Augen und, so weit ich das erkennen konnte, besitzt dieser Mann auch noch Grübchen.

Okay, vielleicht bin ich doch ganz froh darüber, dass Robin keine Zeit hat.

"Mom, ich dachte, wir wollten professionell bleiben vor den Kunden" ,zischt er ihr zu, was diese nur die Augen verdrehen lässt. Spielerisch schlägt sie ihm gegen den Oberarm.

"Ja, aber doch nicht vor Louis, du Dummerchen."

Bei meinem Namen sieht er mich zum ersten Mal richtig an und mir bleibt fast das Herz stehen. Heilige Scheiße. Ein Lächeln bildet sich auf seinen Lippen und er beugt sich leicht nach vorne, um mir seine Hand hin zu halten. Seine Grübchen zeigen sich nun deutlicher und ich löse sprachlos meine rechte Hand aus Mollys Fell, um seine größere entgegen zu nehmen.

"Uhm, oh ja, nett, Sie kennenzulernen. Ich bin Doktor Styles Junior."

Anne verdreht erneut ihre Augen, bevor sie ihn wieder gegen den Oberarm schlägt und ihn streng ansieht. "Hör auf, ihn zu Siezen. Mach dich nicht lächerlich. Immerhin hattest du vor zehn Jahren Mal einen Crush auf ihn."

Harrys Wangen färben sich rot, während ich ihn stirnrunzelnd mustere. Vor zehn Jahren? Da war ich elf, fast zwölf, ich wusste gar nicht, dass ich Robins Sohn schon einmal kennengelernt habe.

"Mom!"

"Du hättest ihn hören müssen. Immer ging es nur um den hübschen Jungen mit den blauen Augen und der Stupsnase, der mit ihm seinen Schokoriegel geteilt hat" ,erzählt Anne mit einem Glitzern in den Augen, was mich zum lächeln bringt. Sie erinnert mich stark an meine eigene Mutter, sie hätte mich in solch einer Situation bestimmt auch aufgezogen.

Bei der Erwähnung des Schokoriegels fällt es mir allerdings wieder ein. Es gab hier früher einen Jungen, der sich im Wartezimmer immer zu Jemanden gesetzt hat und mit ihnen geredet hat. An einem Tag hat er sich auch zu Mom und mir gesetzt. Wir haben über unsere Haustiere gesprochen, aber auch über unsere Hobbies. Harry hat Ballett getanzt, diese eine Tatsache ist mir im Kopf hängen geblieben, da mich das damals schon fasziniert hat. Ob er immer noch Ballett tanzt? Bestimmt hat er jetzt keine Zeit mehr, schade eigentlich. Er würde in engen Strumpfhosen bestimmt gut aussehen.

"Okay, das reicht Mom, ich würde jetzt wirklich gern meiner Arbeit nachgehen. Kannst du Jenny reinschicken?" ,bittet Harry und schiebt sie in Richtung Tür.

"Frechheit, der eigene Sohn möchte nicht mit der Mutter zusammen arbeiten."

Kopfschüttelnd verlässt Anne den Raum, was mich schmunzeln lässt.

"Entschuldigung für ihre Unprofessionalität."

"Mir macht das überhaupt Nichts aus. Es fühlt sich dadurch direkt ein bisschen heimischer an" ,winke ich ab, da ich Annes Art wirklich sehr schätze. Sie war schon immer eine Art zweite Mutter für mich.

"Ist es okay, wenn wir uns auch duzen? Ich finde den Gedanken etwas weird dich zu siezen, wenn du mit meinen Eltern schon per du bist."

"Ich habe kein Problem damit."

Wir fangen beide an zu lächeln und für einen kurzen Moment vergesse ich, wo ich mich gerade befinde. Erst als Molly mit einem kläglichen Laut auf sich aufmerksam macht, sehe ich zu ihr herunter. Mich überkommt sofort das schlechte Gewissen, da es jetzt um sie gehen sollte und nicht um einen gutaussehenden Tierarzt.

"Und wen haben wir hier?" ,fragt Harry lächelnd und krault Molly an ihrem Kopf, während er sich zu ihr herunterbeugt. Ich fange an zu lächeln, da das tatsächlich etwas ist, das Robin auch immer macht.

"Das ist Molly, vielleicht erinnerst du dich noch an sie. Du hast sie vor zehn Jahren einmal gestreichelt" ,antworte ich mit einem kleinen Lächeln, wobei mir schon bewusst ist, dass er sich bestimmt nicht mehr an sie erinnert. Er hat bestimmt schon viele Hunde gestreichelt.

"Vor zehn Jahren? Wie alt ist sie denn?"

"21."

Harrys Mund klappt ihm auf und er löst seinen Blick von ihr, um mich anzusehen. Langsam stellt er sich wieder aufrechter hin, sieht mich allerdings immer noch überrascht an.

"21? Das ist ein sehr ungewöhnlich hohes Alter für einen Hund. Was hat sie denn?"

"Sie isst nicht mehr richtig, ist andauernd erschöpft und nimmt immer mehr ab" ,zähle ich grob die Dinge auf, die mir in letzter Zeit aufgefallen sind. Harry nickt nur und mustert Molly nachdenklich, bevor er etwas unsicher zu mir sieht. Ich sehe ihm an, dass er etwas sagen möchte, sich aber noch zurück hält. Vermutlich weiß er nicht, wie er die nächsten Sätze formulieren soll.

"Du weißt, dass das auch einfach Alterserscheinungen sein können. 15 wäre schon ein sehr stolzes Alter für eine Hündin, und sie ist nochmal 6 Jahre älter."

"Es ist nicht nur das Alter" ,entgegne ich sofort und halte an meinem schlechten Gefühl fest.

"Woher weißt du das?" ,fragt Harry berechtigterweise, doch ich lasse mich nicht verunsichern. Ich kenne Molly. Das ist nicht nur das Alter.

"Ich weiß es eben."

"Louis..."

"Nein, bitte untersuch sie einfach. Ich - ich brauche Gewissheit. Ich kenne diesen Hund seit 21 Jahren und ich bin mir sicher, dass sie etwas hat. Bitte, Harry." Flehend sehe ich ihn an, weshalb er seufzend den Blick abwendet. Vermutlich verschwende ich gerade seine Zeit.

"Okay" ,sagt er schließlich und überrascht mich etwas. Viele Tierärzte hätten ihr keinen zweiten Blick mehr geschenkt.

"Okay?"

"Okay."

Er lächelt leicht, was auf mich überspringt.

Harry fängt jetzt an, sie zu untersuchen und stellt mir nebenbei immer mal wieder fragen über sie, die ihm helfen sollen, sich ein Bild machen zu können. Irgendwann kommt auch noch eine Arzthelferin herein und unterstützt Harry, wo sie nur kann.

Stirnrunzelnd mustert er Molly, während er sich auf seiner Unterlippe herumkaut.

"Okay, es gibt gute und schlechte Neuigkeiten. Die gute ist, du hattest Recht" ,fängt Harry an zu sprechen. Ihm fällt es schwer, die kommenden Worte auszusprechen. Ich kann ihm das Bedauern ansehen, als er mir in die Augen blickt.

"Und die schlechte?" ,frage ich und kralle mich in Mollys Fell fest. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit für diese Neuigkeiten bin.

"Sie hat einen Tumor im Bauch. Er ist gutartig, allerdings nimmt er sehr viel Platz im Magen ein, weshalb sie weniger isst. Es gibt jetzt genau drei Möglichkeiten, wie du damit umgehen kannst. Entweder du machst nichts und sie wird irgendwann verhungern oder wir operieren sie, wovon ich dir allerdings stark abraten würde. Sie ist sehr alt, weshalb ich glaube, dass sie die Narkose nicht überleben würde und wir würden sie dadurch nur unnötig unter Stress setzen."

"Und die dritte Möglichkeit ist...?" ,frage ich, da die anderen zwei nicht wirklich toll sind.

Harry kneift seine Augen zusammen, bevor er mich mitleidig ansieht.

"Einschläfern."

"Nein" ,sage ich sofort, da diese Möglichkeit absolut nicht in Frage kommt.

"Louis, bitte denk darüber nach, Einschläfern ist das Beste für sie" ,versucht er, auf mich einzureden, doch ich schüttele nur meinen Kopf. Einschläfern kommt nicht in Frage, das mache ich nicht. Nein. Nope.

"Ich werde sie nicht umbringen."

"Andernfalls lässt du sie verhungern, wenn du sie Einschläfern lässt, kann sie wenigstens in deinen Armen friedlich einschlafen" ,versucht es Harry weiter, doch bei mir stößt er nur auf taube Ohren.

"Ich habe vor einem Jahr meine Mutter verloren, ich kann Molly jetzt noch nicht gehen lassen. Ich brauche sie!"

"Manchmal muss man Jemanden gehen lassen, den man liebt, damit diese von ihrem Leid erlöst werden. Es tut mir leid Louis, lass es dir nochmal durch den Kopf gehen. Sie hatte ein langes, wundervolles Leben, warum es noch weiter in die Länge ziehen, wenn sie darunter leidet? Ich weiß, dass so etwas schwer ist, aber manchmal ist es unvermeidlich" ,höre ich Harry, während ich mein Gesicht in Mollys Fell presse. Die Tränen strömen aus meinen Augen und ich versuche mit aller Kraft, Harrys Worte auf die Seite zu Drängen.

Ich kann sie nicht Einschläfern. Ich kann das nicht. Ich brauche sie.

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