8. Kapitel: "Irgendwer hält mich auf, aber wer?"
Dag schlief so tief und fest als mein Wecker klingelte, dass ich ihn bloß schnell genug ausschalten musste. Die Welle der Panik, dass ich auch ihn geweckt haben könnte, ebbte ab und ich merkte, dass allein die Angst mir vorgegaukelt hatte, ich wäre hellwach, denn in Wirklichkeit war ich todmüde. Außerdem war es so nah bei ihm kuschlig warm ... Ich legte meinen Kopf wieder auf seiner Brust ab, sog leise seinen Duft ein und seufzte geräuschlos. Bevor ich ein zweites Mal wegdriften konnte, schlug ich die Decke dann doch zurück.
Die Kälte kroch mir augenblicklich in die Knochen. Ich verzog das Gesicht und rieb fröstelnd über meine Arme. So leise wie möglich tapste ich ins Bad. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass da noch so einiges an Arbeit vor mir lag, damit ich von den Leuten auf der Straße nicht fälschlicherweise als gestrandete Prostituierte abgestempelt wurde. Ich würde gleich garantiert zu spät zu meiner Lernverabredung kommen, denn ich musste vorher unbedingt nochmal zum Supermarkt und mir Abschminktücher kaufen. Ein Notfallkit mit Make Up hatte ich zum Glück immer in jeder Handtasche dabei und die schlimmsten Knoten konnte ich aus meinen Haaren rasch rauskämmen. Notdürftig entfernte ich also mit Wasser und Klopapier die verlaufene Wimperntusche unter meinen Augen, bevor ich eine Nachricht an Joseph verfasste, in der stand, dass ich später als geplant beim Bäcker auftauchen würde.
Habe nicht zu Hause gepennt, setzte ich erklärend hinzu und löschte es sofort wieder. Es hatte meinen Kommilitonen nicht zu interessieren, wo ich war; und erst recht nicht mit wem, das ging niemanden was an.
Ich musste unwillkürlich lächeln, weil ich tatsächlich – kurz nachdem ich mich überwunden hatte und zu Dag unter die Decke gekrochen war – so gut geschlafen hatte wie schon ewig nicht mehr. Sein Geruch war so angenehm und überhaupt war er perfekt gebaut, um sich an ihn zu schmiegen ... Diese blöden Schwärmereien. Es war zum Haareraufen.
Als ich aus der Bahn stieg und mich zu unserer angestammten Backwerk-Filiale schleppte, sah ich längst nicht mehr so durchgerockt aus. Aber mein Wunsch nach Kaffee, oder eher mein dringendes Bedürfnis danach, hatte sich in schwindelerregende Höhen geschraubt.
„Morgen", begrüßte ich nacheinander Felicitas, die wir der Einfachheit halber alle nur Feli nannten, Marieke, Joseph und Moritz. Seit Beginn des Studiums lernten wir gemeinsam. Joseph und Moritz waren arbeitsmoralisch das genaue Gegenteil voneinander. Letzterer war hier, um nicht durch das aktuelle Semester zu fallen – und das seit vier Semestern; Joseph hingegen behielt stets den absoluten Durchblick. Ich persönlich wanderte langsam motivationstechnisch von Josephs Extrem in Moritz' rein.
„Wo hast du dich denn gestern Nacht rumgetrieben?", fragte Marieke neugierig. Die Schönheit mit den schwarzen Locken und den braunen Augen grinste neckisch.
„Ich musste einem Bekannten bei was helfen", antwortete ich so vage wie möglich. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin."
Joseph zog eine Augenbraue hoch. „Ich dachte, gestern Abend wäre deine Schicht in der Bar gewesen."
„Wollt ihr lernen oder mich verhören?", zickte ich ihn an. Moritz beugte sich gespannt vor
„Na, wenn du schon so fragst ..." Ich stand wortlos auf und befüllte meinen Mehrwegbecher an der Maschine mit einem Kaffee samt extra Espresso-Shot. Mein Elixier des Lebens.
„Fangen wir mit dem Epochen-Seminar an?", fragte Joseph, als ich mich wieder setzte und ich unterdrückte ein Stöhnen. Ausgerechnet Epochen.
Aber so war es eben. Joseph entschied, was gemacht wurde. Einer von uns fasste anhand seiner Notizen die Vorlesung zusammen, der Rest konnte ergänzen oder korrigieren.
Mitten in Mariekes Erzählungen zerfloss meine Konzentration. Ich war in Gedanken bei der gestrigen Nacht und mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Insgeheim hoffte ich, dass es mit Dag etwas rein Körperliches war. Das konnte ich noch einigermaßen unterbinden, obwohl mir Sex in der Beziehung durchaus wichtig war. In einer Beziehung? – Wieso?! Wenn ich eins wusste, dann, dass ich maßlos überreagierte. Und wenn ich eins verdammt nochmal nicht wusste, dann von wann bis wann die Meiji-Zeit in Japan dauerte! Entrüstet schmetterte ich meinen Kaffeebecher auf den Tisch.
„Pari, alles gut bei dir?", hakte Joseph vorsichtig nach.
„Tut mir leid, ich kapiere gerade gar nichts und das frustet mich", gestand ich.
„Ich könnte heute Nachmittag bei dir vorbeischauen und dir Nachhilfe geben. Frustriert, im Übrigen", merkte Joseph an. Marieke verdrehte die Augen.
„Oh Mann, Joseph, bitte geh dich vergraben." Sie strich mir sanft über den Rücken und ich hatte einen lebhaften Flashback zu Dag und mir auf Vincents Couch. Dorthin wünschte ich mich zurück, alles war besser als für Epochen zu pauken. „Kommst du mit raus?", fragte Marieke. „Moritz und ich wollten eh gerade 'ne Raucherpause machen."
„Pari, mein Angebot steht", wandte Joseph sich an mich. „Wartet, ich komme auch mit", schob er hinterher.
„Dann bleibe ich bei Feli, damit sie nicht allein sein muss", entschied ich.
Marieke nickte, schnappte sich ihr Drehzeug und stritt noch kurz mit Moritz, der wieder seine Filter vergessen hatte. Angeblich. Er wurde schon seit drei Wochen von ihr mitversorgt. Sie ließ es ihm durchgehen, denn sie war gutmütig, aber irgendwann war sogar sie mit ihrer Geduld am Ende. Die Streithähne zankten sich auf dem Weg nach draußen. Ich beobachtete, wie Joseph die Marlboros aus seiner Jackentasche angelte. Dag rauchte Lucky ... Jetzt erinnerst du dich an solche Details, Pari, na viel Spaß auch noch, aus der Geschichte kommst du doch nie und nimmer glimpflich wieder raus.
„Was ist los?" Feli war eigentlich die Stillste aus unserer Runde. Vielleicht mochte ich sie darum am liebsten. Ihr weicher Sprechgesang war wie ein seichtes Kraueln und linderte effektiv meine Kopfschmerzen. „Ist es ein Kerl?" Das Blau ihrer Augen war dunkler als Dags, stellte ich fest.
„Du kennst mich zu gut." Ich hielt mir die Hände vors Gesicht. Zum gefühlt zehnten Mal heute erstand sein Bild kristallklar vor mir auf.
„Du kannst mir von ihm erzählen, wenn du möchtest ", lächelte sie aufmunternd.
„Er ist überhaupt nicht mein Typ", beklagte ich mich verwirrt bei Feli.
„Und trotzdem scheinst du ihn zu mögen. Das ist doch aufregend." Völlig perplex starrte ich meine Freundin an.
„Genau", hauchte ich. „Das muss es sein. Er ist neu, anders, deswegen ..." Stürmisch umarmte ich die süße Blondine. „Danke, Feli! Das hilft mir."
„Gern geschehen."
Nach dieser Offenbarung war im Prinzip deutlich geworden, dass Dag mich reizte, weil er nicht ins Schema passte. Dabei wollte ich gar nicht aus meiner bescheidenen Welt ausbrechen, ich war schließlich kein Teenager mehr. Alles, was ich wollte, war endlich meine Zukunft zu regeln. Wie heißt es so treffend: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Ich war Arbeit, Dag war Vergnügen.
Gegen elf löste sich unsere Truppe auf. Marieke und ich machten uns auf den Weg ins Fitnessstudio. Samstags war das Tradition, da ich allerdings bei Vincent übernachtet hatte, fehlten mir die passenden Sportklamotten. Also mussten wir einen Zwischenstopp in der WG einlegen. Marieke wartete unten vor unserer Haustür und es wären ja auch bloß fünf Schritte durch den Flur bis in mein Zimmer gewesen, hätte sich meine beste Freundin nicht drohend vor mir aufgebaut.
„Wo warst du?", fragte Iara todernst.
„Ich hatte euch doch gesagt, dass ich es nicht mehr schaffe." Ich versuchte mich an ihr vorbeizuschieben, aber Iara blockierte den gesamten Gang.
„Wir dachten, du wärst nach deiner Schicht nach Hause gefahren. Was meinst du, was ich gerade für einen Schreck bekommen habe, als ich feststellen musste, dass du nicht hier bist? Ich dachte, dir wäre was auf dem Heimweg passiert." Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen.
„Wie lange bist du denn schon wach?"
„Seit drei Minuten", jammerte Mika aus der Küche, „und sie hat mich direkt geweckt." Er tauchte schlaftrunken und nur in Unterhosen im Türrahmen auf. „Blöde Kuh", streckte er Iara die Zunge raus und rieb sich die Augen. „Ich hab dir gesagt, es is' nichts."
„Elhamdurellah, Mika ... Zieh dir was an", forderte ich ihn auf, ehe ich mich Iara widmete. „Wer bist du eigentlich? Mein Babysitter?"
„Bloß kein Hohn, Pari." Für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich sie lieber angeschwindelt. Ich fuhr mir seufzend durchs Haar.
„SDP sind nach meiner Schicht in die Bar reingestolpert. Vincent war strunzbesoffen, Dag und ich haben ihn nach Hause gebracht."
„Wie bitte?" Iara starrte mich ungläubig an.
„Es war purer Zufall, für mich war es auch seltsam, okay?" Ich nutzte die Gelegenheit und huschte an meiner besten Freundin vorbei.
„Okay, und wo warst du bitteschön heute Morgen?"
„Lerngruppe", antworteten Mika und ich ihr synchron und ich schmunzelte. Das war immerhin die halbe Wahrheit.
„Geh wieder schlafen, du Kommissar", gähnte mein Mitbewohner. Mit der Trainingstasche über der Schulter winkte ich meinen Lieblingsmenschen.
„Wo gehst du hin?", fragte Iara und knautschte ihre Locken zwischen den Fingern.
„Sie geht ins Fitness, boah", knurrte Mika. „Warum weiß ich das und du nicht?"
„Achso." Iaras Arme baumelten plötzlich nutzlos herunter.
Ich stellte mich auf Zehenspitzen und drückte meiner Freundin einen Kuss auf die Wange. „Du arbeitest zu viel und solltest wirklich besser ausschlafen."
Doch nicht mal der Yoga-Kurs half mir, zu mir zurück zu finden.
„Pari, hast du mein kleines Handtuch gesehen?" Marieke war tropfnass aus der Dusche rausgetreten und sah sich suchend in der Umkleide um.
Ich verneinte. Strähne für Strähne flicht ich meine Haare zu einem Fischgrätenzopf.
„Menno, wo ist das bloß?", schmollte sie. Im Spiegel kontrollierte ich meine Erscheinung ein allerletztes Mal.„Gehen wir noch was essen?", fragte Marieke und mir fiel siedend heiß wieder ein, dass Dag gemeint hatte, Vincent würde sich mit einer Einladung bei mir bedanken wollen. Ich betete, dass er sich Zeit damit ließ.
Leider war der Zufall mir seit gestern nicht mehr wohlgesonnen. Mein Handy blinkte bereits und als ich es entsperrte, stand in der WhatsApp einer unbekannten Nummer bloß:
Danke, dass du dich um mich gekümmert hast 💕 Morgen, 20 Uhr, Amrit am Potsdamer Platz.
Vince
Die Herzchen musste er ironisch meinen, für den Rest galt das meiner laienhaften Einschätzung nach eher nicht.
War morgen nicht ...? Ich reckte die Faust in Siegerpose in die Luft und quietschte unwillkürlich. Marieke lachte. „Aber sonst geht's dir gut, ja?"
„Alles prima, ich freu mich nur auf den Geburtstag meiner Tante", sagte ich triumphierend und tippte währenddessen eine Antwort an Vincent:
Morgen kann ich nicht, meine Tante Ilayda hat Geburtstag :/ Aber vielleicht klappt es ein andermal :)
Mann, Zwerg Nase ... Ich hatte mich schon so auf dich gefreut! Na ja, hat sich damit ... Aber ruf endlich Dag an -.-
„Iara?" Stunden später klopfte ich an die Zimmertür meiner besten Freundin.
„Ja, komm rein", schallte es von drinnen zurück. Iara hockte auf ihrem Bett und versuchte mit den Fingern Puderrouge auszublenden. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen.
„Was zur Hölle glaubst du, was du da gerade tust?", fragte ich sie.
„Hör auf mich auszulachen, hilf mir lieber." Ich reichte ihr wortlos einen Pinsel aus dem Set, das neben ihr lag und das ich ihr irgendwann mal geschenkt hatte.
„Was bist du heute wieder lustig, damit hab ich's vorhin doch versucht!", regte sie sich auf. „Manno, Pari. Ich sehe aus wie ein Clown."
„Das kann man retten", sagte ich mitleidig und griff nach ihrem Puder, mit dem ich über ihre Wangenknochen alles ausblendete, sodass die Kanten verschwanden. „Guck mal." Ich gab ihr den Taschenspiegel.
„Danke", sagte sie beruhigt und umarmte mich kurz.
„Wozu der Aufwand?", wollte ich wissen. Iara schminkte sich zwar oft, aber bei weitem nicht jeden Tag und Rouge trug sie nur zu besonderen Anlässen.
„Tua ist von Sennheiser auf eine Veranstaltung eingeladen worden und hat gefragt, ob ich mit möchte, weil es gratis Essen gibt."
„Da hätte ich auch zugesagt."
„Weiß ich doch." Sie schob ihre Schminkutensilien zu mir rüber und lächelte. „Übernimm du das für mich und erzähl mir dabei, was gestern los war nach deiner Schicht."
Ich berichtete Iara also alles: Wie Dag mit Vincent in die Bar reingestolpert war, wie wir beim Späti und nach einer langen Bahnfahrt bei Vincent angelangt waren und schlussendlich erzählte ich Iara auch, was Vincent zu mir gesagt hatte. Über Dags Einstellung in Bezug auf mich.
„Er meinte, Dag würde auf mich stehen."
„Aw, das ist doch aber niedlich, wieso freust du dich nicht?"
„Na ja, ich stehe vielleicht ... auch auf ihn."
Iaras Augen wurden riesig.
„Oh mein Gott, das ist ja genial!" Völlig aus dem Häuschen darüber umarmte sie mich wieder. „Worauf wartest du?"
„Darauf, dass alles wieder normal wird", schnitt ich ihr verzweifelt das Wort ab. „Dag passt nicht in mein Raster und was soll daraus werden? Wir hätten uns inzwischen dreimal fast geküsst und wir haben uns zweimal gesehen." Ich gestikulierte ausladend, um meinen Standpunkt zu unterstreichen. „Dieser Müll muss aufhören, ich darf mich nicht schon wieder leichtfertig in irgendwas Romantisches stürzen, ich –"
„Pari!", stoppte Iara mich. „Wir müssen jetzt erstmal der Tatsache ins Auge sehen, dass du wahrscheinlich von allen Menschen auf dieser Welt, der bist, der am schlechtesten allein sein kann."
„Aber ich will mich ändern, was das angeht!"
„Gut, du willst dich ändern? Dann setzt du am besten bei Dag an."
Mach mal Platz für dich selber
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