29. Kapitel: "Als sie ging, hab ich nächtelang geheult."

Hätte ich behauptet, dass es mich nicht überraschte, als ein paar zähe, lange Tage später plötzlich Vincent an die Tür meines Zimmers klopfte, wäre das eine dreiste Lüge gewesen. Noch bevor ich ihn richtig hereinbitten konnte, marschierte er schon in den Raum. Ich saß gerade im Schneidersitz in meinem Sessel und futterte eine Tafel Schokolade, während ich mir ganz faul eine Folge Death Note reinzog, statt etwas Produktives zu tun.
„Hey, Zwerg Nase", winkte er mir. Vielmehr als die Situation anzunehmen, blieb mir ohnehin nicht übrig, also zeigte ich erst auf die Schokolade und dann auf ihn. „Nee, danke", lehnte er ab. „Seit du mich als dick bezeichnet hast, bin ich auf strenger Diät." Natürlich meinte er es nicht ernst. Ich schmunzelte.

„Was führt dich denn zu mir?", fragte ich, nachdem ich das Stück Vollmilch zerkaut und runtergeschluckt hatte.
„Was denkst du denn? Ich spiele den Vermittler zwischen Dag und dir."
„Und ich dachte schon, wir wären Freunde und du würdest einfach mal spontan vorbeischauen."
„Ja, klar." Vince zeigte mir einen Vogel und ließ sich auf meinen Schreibtischstuhl fallen. „Du hast Alexa und Linus kennengelernt, hab ich gehört", rollte er das Thema ohne große Umschweife auf.
„Ja, ich habe sie kennengelernt." Das letzte Wort setzte ich in imaginäre Anführungszeichen.
„Damit hast du etlichen Leuten was voraus. Ich bin sicher, du hast mit Iara schon drüber gesprochen und sie hat dir gesagt, dass sie Alexas Namen noch nie zuvor gehört hat, geschweige denn den von ihrem Sohn", sagte Vincent. Ich sah auf meine Hände und wusste nicht, ob ich Vincent die Frage stellen konnte, die ich ihm stellen wollte. „Linus ist nicht Dags Kind", kam er mir jedoch zuvor. „Das heißt", fuhr er fort und alle meine Muskeln spannten sich an, „mit 99,9%-iger Wahrscheinlichkeit ist er nicht der Vater."

„Es gibt also eine geringe Chance?", fragte ich.
„Eine verschwindend geringe", mahnte mich Vince. „Dag schwört Stein und Bein, dass sie immer verhütet haben."
„Du weißt doch nicht, was Leute in einer festen Beziehung hinter geschlossen Türen treiben", wollte ich ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen, aber seine Miene blieb unverändert. „Alexa ist nicht irgendeine Ex, Pari – Sie war seine allererste Freundin." Ich starrte ihn bloß an. „Als er sitzenblieb, war sie in seiner Parallelklasse und die beiden haben sich Hals über Kopf ineinander verliebt. Zwischen ihm und mir gab's keine Geheimnisse damals, er hat dauernd von ihr geredet und sie hing auch viel mit uns ab. Lexi und er haben zusammen die Schule geschwänzt und nachdem Marlene und ich uns brav den Arsch im Unterricht platt gesessen hatten, haben wir uns draußen getroffen."
„Wie lange waren sie zusammen?", wollte ich wissen.
„Ein Jahr vielleicht?", vermutete er. „Sie ist zur Schulzeit ins Ausland gegangen, nach Spanien, wenn ich mich richtig erinnere. Die Hälfte der Zeit über, in der sie weg war, hatte er Liebeskummer; und pünktlich zu ihrer Rückkehr hatte er 'ne hübsche neue Freundin am Start. Alexa hat das akzeptiert. Dag hat die Gefühle, die er noch immer für sie hatte, vor ihr versteckt und letzten Endes ist sie einem anderen Typen begegnet. Der Kontakt zu ihr hat sich danach komplett aufgelöst. Bis sie vor zehn oder elf Jahren unter ihm eingezogen ist. Beide waren Single. Zumindest dachte er das. Sie sind auf ein paar Dates gegangen, aber Dag meinte zu mir, sie wären einander fremd geworden. Er hat sie zwei-, dreimal flachgelegt – na ja, öfter mal halt, aber dann fand er irgendwie heraus, dass sie einen Freund hatte."

„Das ist hart", kommentierte ich mitleidig. Vincent nickte und stand auf. Er trat ans Fenster, öffnete es und lehnte sich raus. Ich raffte mich auf und stellte mich schräg hinter ihn. „Was ist danach passiert?"
„Ihr Freund hat erfahren, dass sie ihn betrogen hat und er hat sie zusammengeschlagen. Jemand im Haus hat die Polizei gerufen und sie haben ihn zu einer Haftstrafe verurteilt."
„Scheiße", sagte ich leise.
„Scheiße war vor allem, dass Alexa schwanger von dem Mistkerl war."
Das setzt dem Ganzen wirklich die Krone auf. Ich wusste nicht, dass die Geschichte, die sich um Linus rankte, so tiefschwarz wie Alexas wunderschöne Augen war. „Dag wollte immer Kinder", offenbarte Vincent. „Der eingetragene Vater ist aber Alexas Ex-Freund, der nach wie vor im Knast sitzt. Und angeblich lässt sich das durch einen Vaterschaftstest auch belegen, aber Dag hat sich die Ergebnisse nie zeigen lassen. Er behandelt Linus wie seinen leiblichen Sohn, weil er den Gedanken nicht erträgt, dass seine erste große Liebe ein Kind mit einem Frauenschläger hat."

„Er ist nie über Alexa hinweggekommen?", fragte ich vorsichtig.
„Über sie? Oh doch, definitiv, über sie ist er hinweg. Womit er nach wie vor zu kämpfen hat, sind all die Vorstellungen davon, was hätte sein können. Wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er sie nie wiedergesehen hätte; wenn ihr Ex-Freund nie gewesen wäre und sie wieder zueinander gefunden hätten .... Das ist es, was wirklich an ihm nagt – Die ständige Frage, was wäre wenn."

Ich ging ein paar Schritte auf Vincent zu, bis ich unmittelbar neben ihm stand. Wir blickten gemeinsam aus dem Fenster, raus auf die Baumkronen der Linden, die unsere Straße säumten.
„Warum kann er mir das nicht selbst erzählen?", fragte ich, nachdem sich die Information langsam in mir gesetzt hatte. Vince schaute mich an, als wüsste er nicht, wieso ich ihm diese Frage überhaupt stellte.
„Es tut zu sehr weh", antwortete er. „Dass du jetzt Bescheid weißt über diesen Teil seines Lebens, den er allen verschweigt, macht ihn unglaublich verletzlich vor dir. Ich weihe dich auch nicht zum Spaß darin ein. Geh weise mit dem Wissen um, dass du jetzt von mir bekommen hast."

„Wieso hast du überhaupt etwas gesagt, wenn er dich nicht dazu angestiftet hat?"
„Ich will Frieden für ihn. Vor allem vor dem Hintergrund rund um Alexa braucht er das. Sie wird höchstwahrscheinlich immer ein Teil seines Lebens sein. Du weißt ja, was man über die erste große Liebe sagt, ewige Verbundenheit, bla bla bla. Trotzdem ... Weißt du, er hat ein echtes Trauma davongetragen, als das alles passiert ist. Und ich habe oft versucht, ihm da rauszuhelfen, ihm einen Stoß in die richtige Richtung zu verpassen, damit er sieht, dass er loslassen muss. Meine Versuche haben nie gefruchtet, aber er begreift langsam, dass die Zeit doch nicht stehengeblieben ist danach – und im Zusammenhang damit, redet er viel von dir; fast so, wie er damals über Alexa gesprochen hat."

Grübelnd knetete ich meine Finger.
„Meinst du, er ist vielleicht dabei, sich in mich zu verlieben?" Vincent musterte mich von der Seite.
„Vollkommen ausschließen kann ich das nicht. Aber verrätst du mir mal, was eigentlich so schlimm daran wäre?" Ich sah ihm ernst in die Augen.
„Das sind die Gefühle, die ich nicht erwidern kann und ich glaube, das wäre schlimm. Oder siehst du das anders?" Er schüttelte den Kopf.
„Nein, da hast du Recht. Das wäre schlecht."
„Soll ich es beenden?", fragte ich. „Noch ginge das ja bestimmt."
„Wem willst du was vormachen, Pari? Dafür ist es zu spät. Ich verstehe, dass du niemanden verletzen möchtest, aber in dem Fall ist es der falsche Weg, das so ohne Weiteres zu beenden. Du hast dich korrekt verhalten, als du an dem Abend abgehauen bist und keiner kann dir was vorwerfen. Dag kennt deinen Standpunkt, diesmal ist er selbst schuld. Deine Kritik, weil er dir nichts von Alexa und Linus gesagt hat, war berechtigt. Er ist einfach nur zu sensibel, was die beiden angeht. Ich habe noch einen Rat für dich, falls du ihn hören willst."
„Nur zu."
„Lass das nicht zu nah an dich ran. Alexa war lange vor deiner Zeit. Damit muss Dag sich auseinandersetzen, das ist nicht deine Aufgabe. Du musst ihn auch nicht unterstützen."
„Weil ich nicht seine feste Freundin bin", führte ich Vincents Gedanken aus.
„Richtig. Er hat mich und seine anderen Freunde." Dags bester Kumpel faltete die Hände über meiner Fensterbank. Er sah alt aus, wie er da stand und die Sorge tiefe Täler in sein Gesicht fräste.
„Willst du noch irgendwas anderes bei mir abladen?", hakte ich nach.

Vince haderte mit sich, öffnete sich mir jedoch letztlich.
„Ich hatte Sex mit Charlotte, als sie ihr Zeug abgeholt hat, aber ich wusste nicht, dass sie angetrunken war. Sie kann das gut vor Leuten verbergen. Danach hat sie mir gesteckt, wie verwirrt sie noch immer ist, dass das alles nur noch schlimmer gemacht hat und sie jetzt gar nicht mehr weiß, was sie von mir halten soll. Ihre Eltern haben sie bei sich aufgenommen, sagt sie. Sie erträgt ihre eigene Wohnung nicht mehr, weil sie dort ständig an uns denken muss. Eine Freundin kümmert sich um ihre Post und die Blumen und ist dabei, Fotos und Erinnerungen an mich in Kisten zu verstauen."
„Hört sich verdächtig danach an, als würde sie dich noch lieben, Vinnie."
„Ich fühle mich wie ein absolutes Scheusal."
„Das bist du nicht", wandte ich ein und legte eine Hand auf seinen Rücken.
„Sie versucht alles, um über mich hinwegzukommen, sie hat es wirklich schwer damit. Und ich liebe sie, date aber andere Frauen, das ist doch unfair von mir, oder?" Ich war nicht sicher, ob die Frage rhetorisch gemeint war, also schwieg ich. „Wahrscheinlich trauere ich unserer Beziehung nur aus Nostalgie nach", resümierte er.

Leise räusperte ich mich.
„Iara sagt, es gibt ein simples Rezept, um sich Klarheit zu verschaffen. Du nimmst dir ein bisschen Zeit allein und dann noch ein bisschen Zeit, nur mit den Menschen, die dich schätzen, so wie du bist. Ansonsten ist es bloß an eine strenge Regel geknüpft: Du darfst nur solche Dinge tun, die gut für dich sind."
„Mit anderen Worten – arbeiten." Er grinste, aber es reichte nicht bis zu seinen Augen, die matt wirkten.
„Wenn ich dich so anschaue, ist mein erster Gedanke – schlafen", entgegnete ich. „Du siehst echt furchtbar aus. Los, komm mit, ich mach dir einen Kaffee." In der Küche holte ich Kardamom aus dem Schrank und brühte frisches Wasser auf. „Was sagt Dag zu der ganzen Thematik?"
„Er meinte, ich soll in erster Linie damit aufhören, mich dafür zu schämen, dass ich mit ihr geschlafen habe, weil das im Nachhinein sowieso nichts mehr bringt." Vincent checkte kurz sein Handy, das er sofort wieder in der Tasche seiner Kapuzenjacke versenkte. „Er weist mich oft genug darauf hin, dass ich mich kein Stück verhalte, als würde ich Charlotte tatsächlich zurückwollen." Ich nickte zustimmend.
„Ja, weil du nicht zu ihr sagen kannst, dass du noch Gefühle für sie hast, um dann zwei Tage später ein Foto von dir zu posten, wie du dich für ein Date fertigmachst. Ist doch logisch, dass sie davon verwirrt ist. Du benimmst dich komplett widersprüchlich."
„Unter dem Foto stand nichts", murrte er.
„Vinnie, du sahst gestriegelt aus auf dem Bild, wie das beste Pferd im Stall. Wenn ich eins und eins zusammenzählen konnte, dann konnte die Frau, mit der du in einer langfristigen Beziehung warst, das todsicher auch", verdeutlichte ich. „Mit oder ohne Zucker?"

„Ohne." Er nahm die Tasse entgegen und ich setzte mich zu ihm an den Esstisch. Die Idee überraschte mich selbst, aber sobald sie mich überfallen hatte, trommelte ich ungeduldig mit meinen lila lackierten Fingernägeln auf die Tischplatte.
„Alles klar bei dir?", fragte Vincent skeptisch.
„Warte hier kurz", bat ich ihn, stand auf und lief ins Badezimmer, wo ich das Regal durchwühlte, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte. Eine befüllbare Plastikreisegröße. Ich schraubte den großen Glasflakon mit dem selbstzusammengestellten Badeöl von Oma Soraya auf und kippte etwas davon in das Plastefläschchen. Stresshemmender Lavendel, kühlende Minze, entspannender Eukalyptus und Kamille für das Wohlbefinden. Mit der Probe lief ich zu Vince. „Das ist für dich – Und das auch." Rasch warf ich ein paar Reismehlplätzchen aus unserer Keksdose in eine Tüte, die ich feierlich zuknotete und ihm überreichte.
„Was ist das?", zeigte er auf das Fläschchen. „Du hast doch eine Badewanne und das ist ein Badeöl. Fahr nach Hause und lass es ruhen. Es wird sich schon alles fügen", versprach ich.
„Das ist süß von dir, Zwerg Nase", lächelte er. „Hey, ähm ... Soll ich dich im Studio absetzen? Dag ist da und arbeitet an ein paar Songs. Ihr könntet reden."

Im Studio der Jungs war die Luft stickig. Vincent hatte mir seinen Schlüssel geliehen und mich allein hochgeschickt.
„Ich dachte, du brauchst Zeit für dich", sagte Dag. Er stimmte seine Gitarre und machte keine Anstalten, sich umzudrehen. Wer sollte außer Vincent auch einfach so die Tür aufschließen.
„Du warst so eingeschnappt, dass ich dachte, du brauchst Zeit", sagte ich und Dag schaute perplex von der leichten Erhöhung, auf der die Sofas standen, zu mir runter.

„Hey", begrüßte er mich tonlos.
„Vince hat mir seinen Schlüssel gegeben." Dag schnaubte.
„Er ist zu dir gefahren."
„Tut mir leid, dass ich gedacht habe, du lügst mich vielleicht an, was Linus betrifft."
„Das sollte dir auch leidtun", patzte er. „Hab ich dir irgendeinen Anlass gegeben, auch nur in Betracht zu ziehen, dass ich lüge? Und dann noch bei sowas?" Ich schritt die Treppe zu ihm hoch und blieb vor ihm stehen.
„War ein Fehler von mir", gestand ich. Ich kam nicht umhin, eine Hand an seine Wange zu legen, und mit dem Daumen darüber zu streichen. Innerlich machte ich Freudensprünge. Er zuckte nicht weg, er ließ es geschehen. So wütend konnte er also nicht auf mich sein. „Tut mir leid", wiederholte ich sanft. Ich beugte mich vor, hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, so zart und so entschuldigend, wie ich es fertigbrachte. Dag atmete einmal tief durch, nachdem ich mich wieder zurückgezogen hatte. Er legte die Gitarre weg und zog mich auf seinen Schoß, strich über die Seiten meines ausgestellten, weißen Rocks.
„Wie geht's dir?", fragte er. „Du hast dich mit Iara vertragen, das stimmt doch, oder? Sie hat Fotos hochgeladen und dich darauf markiert."
„Ja, zwischen ihr und mir ist wieder alles in Butter." Fragend zog ich die Augenbrauen hoch.
Dag grinste spöttisch.
„Ja, Iara und ich verstehen uns auch prima." Er zog an einer meiner Haarsträhnen.
„Du weißt ganz genau, wie ich das gemeint habe", rügte ich ihn und kniff ihn in den Nacken.
„Alles okay", urteilte er mit gedämpfter Stimme. „Los, ich lade dich zum Essen ein."

Jung, dumm und pleite

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