28. Kapitel: "Doch du bist immer da für mich."

Dag lachte nicht auf, wie ich es eigentlich gehofft hatte. Er sah mich für einen Sekundenbruchteil nur aus glasigen Augen an und ich spiegelte irgendwann seinen Gesichtsausdruck. Wo blieb das klare Nein, auf das ich wartete?
„Du hast ein Kind und sagst mir nichts davon?", fragte ich tonlos.
„Er ist nicht mein Sohn, Pari. Natürlich hätte ich dir was gesagt, wenn ich ein Kind hätte."
„Warum trägst du dann die Verantwortung für ihn?"
„Ich babysitte ihn, weil ich Alexa gut kenne und quasi nebenan wohne. Wenn ich hier in Berlin bin und nicht auf Tour, habe ich oft Zeit. Für sie ist das praktischer, als Linus bei seinen Großeltern abzuliefern, oder jemand Externes anzuheuern, denn ich passe gratis auf ihn auf, weil es mir Spaß macht. Kinder sind cool."
„Und woher, wenn ich fragen darf, kennst du dein Fahrgestell von Nachbarin so gut?" Ich funkelte ihn herausfordernd an.

Dag presste die Lippen aufeinander.
„Sie ist meine Ex-Freundin."

„Ach, und da bist du dir zu einhundert Prozent sicher, dass Linus nicht dein Sohn ist?"
„Siehst du irgendwas, was ich nicht sehe?"
„Der Junge hat blaue Augen und braune Haare", sagte ich trocken.
„Ich bin nicht der einzige Mann mit braunen Haaren und blauen Augen, wie paranoid bist du eigentlich?"
„Wieso wirst du ausfällig?", stellte ich eine Gegenfrage. „Gibt's einen Vaterschaftstest, der beweist, dass er nicht dein Kind ist?"
„Du bist doch bekloppt", fuhr er mich zischend an.
„Okay, das war's. Ich werde jetzt gehen. Du tickst doch nicht mehr ganz sauber, wenn du glaubst, dass ich mit dir auf das Kind deiner Ex-Freundin aufpasse. Leck mich." Mit erhobenem Mittelfinger stürzte ich zurück in den Wohnbereich und vorbei an Linus, dem ich in einem Anflug letzter Klarheit gerade so noch ein Lächeln schenkte.
„Pari." Dag war mir hinterhergelaufen. „Das ist nicht, wie du denkst."
„Ich bin es leid, dass du mir immer erzählst, was ich denke", fauchte ich leise. „Tschüss, Linus!", rief ich und warf Dag einen letzten verächtlichen Blick zu, bevor ich aus der Tür stürmte.

In der S-Bahn wählte ich Tuas Nummer.
„Geh ran", betete ich flüsternd vor mich hin.
„Hallo?"
„Hi! Hi, ich bin's: Pari", begann ich aufgeregt. „Ist Iara bei dir?"
„Ja, ist sie. Sicher, dass du mit ihr sprechen willst? Sie ist noch ziemlich sauer auf dich", warnte er mich.
„Ich habe mich auch völlig beschränkt ihr gegenüber benommen, aber es ist mittlerweile eine Menge Zeit vergangen für unsere Verhältnisse. Meinst du nicht, dass sie sich langsam wieder so im Griff hat, dass wir uns wenigstens mal wie Erwachsene unterhalten können?", seufzte ich. „Ich brauche meine beste Freundin."

„Hallo", hörte ich kurz darauf Iara sagen.
„Oh, Mann", lächelte ich unwillkürlich. „Deine Stimme zu hören, tut gerade so gut, das glaubst du gar nicht", begrüßte ich sie erleichtert.
„Mika hat mir erzählt, dass zwischen dir und ihm wieder alles in Ordnung ist. Respekt, wie hast du das denn geschafft?" Ihr schnippischer Unterton entging mir nicht.
„Das war nicht einfach, ich dachte, ich kriege das nie wieder geradegebogen", gab ich zu.
„Na, anscheinend hast du's ja irgendwie hinbekommen. Was gibt's so Dringendes?"

„Tut mir leid, dass ich meinte, du würdest mir nicht zuhören und deine Ratschläge wären Müll. Das stimmt überhaupt nicht." Eine Pause entstand.
„Ich akzeptiere deine Entschuldigung", kam es schließlich von ihr und ich spürte, wie eine riesige Last von mir abfiel.
„Können wir uns vielleicht treffen? Jetzt gleich? Ich muss dir was Wichtiges erzählen."
„Ähm, okay. Na gut, dann im Atopia, in einer halben Stunde?"
„Das müsste gehen", willigte ich ein.
„Alles klar, Süße, bis gleich."
„Bis dann."

„Ich wusste gar nichts von diesem Kind", stellte Iara etwa eine Stunde später klar und nippte an ihrem heißen Ingwertee. „Und ich hatte auch keine Ahnung, dass seine Ex-Freundin nur eine Etage unter ihm wohnt."
„Viel schlimmer ist für mich, dass sie so vertraut miteinander wirken", sagte ich. „Er hatte praktisch nichts an, als er sie zum Abschied umarmt hat."
„Manchmal kannst du ganz schön prüde sein", grinste Iara spöttisch.
„Prüde? Was hat das denn damit zu tun?", hielt ich verärgert dagegen. „Stell dir mal vor, Tua würde eine seiner Ex-Freundinnen vor deinen Augen umarmen, und zwar mit nichts weiter als einem Handtuch um die Hüften." Iara schüttelte schmunzelnd den Kopf.
„Was ist?", fragte ich sie aufgebracht.
„Du vergisst eine entscheidende Sache. Tua ist mein Freund; aber Dag ist nicht deiner. Er darf halbnackt umarmen, wen er will, denn ihr seid nicht in einer Beziehung."

Ich schwieg, mir lief ein Schauer über den Rücken bei dem Gedanken daran, dass Iara im Grunde genommen Recht hatte und Alexa Dag in der Vergangenheit sowieso schon splitterfasernackt gesehen hatte.
„Trotzdem ist es merkwürdig", schmollte ich. „Ich stand immerhin unmittelbar daneben." Nervös schüttete ich meinen doppelten Espresso herunter.
„Du brichst am laufenden Band deine eigenen Regeln. Dich würde das normalerweise kein Stück stören, aber du bist eifersüchtig."
„Weißt du, wie die aussieht? Die Frau könnte problemlos für den Playboy modeln und das, obwohl sie ein Kind hat. Ich bin nicht eifersüchtig auf ihr enges Verhältnis zu Dag, sondern auf ihre mörderisch gute Figur", konstatierte ich.

„Mag sein, dass sie für deinen persönlichen Geschmack zu vertraut miteinander umgehen, aber sie hat ein Kind mit einem andern."
„Ist es wirklich nicht von ihm?" Ich kaute unsicher auf meiner Unterlippe herum.
„Wenn Dag vor acht Jahren Vater geworden wäre, hätte ich das über kurz oder lang erfahren", beschwichtigte sie mich. „Du hast ihn direkt gefragt und er hat nein gesagt, was erwartest du noch? Einen Ausdruck der Geburtsurkunde von dem kleinen Jungen?"
„Mir ist das alles nicht geheuer, Iara", gestand ich ängstlich. „Was, wenn das so ein On-Off-Ding zwischen ihm und seiner Nachbarin ist?"
„Gegen Naturalien passt er auf ihr Kind auf, meinst du?", hakte meine beste Freundin nach und ich hörte sie kichern, als ich eifrig nickte.

„Manche Menschen tun ab und an nette Dinge, ohne mit einer Gegenleistung zu rechnen", erklärte sie schließlich. „Dag zum Beispiel. Er hat dich doch nach Hause gebracht, als du nach dem Treffen mit deinem Ex-Freund draußen umgeknickt bist. Hat er danach irgendwas von dir verlangt?" Nein, er hatte nichts von mir verlangt, aber er hatte etwas bekommen. In meinem Kopf kreisten meine Gedanken plötzlich in einer wirren Spirale um die Frage, ob mich das Gefühl, ihm für seine Fürsorge etwas schuldig zu sein, dazu getrieben hatte, mit ihm zu schlafen. „Nein, für ihn war das selbstverständlich", antwortete ich meiner besten Freundin.
„Siehst du", sagte sie. „Du hast dich doch genauso verhalten an dem Abend, an dem ihr Vincent geholfen habt, als der so strunzbesoffen war. Dass er ab und an auf ihr Kind aufpasst, heißt nicht automatisch, dass er auch hin und wieder mit ihr schläft. Du interpretierst da zu viel rein. Außerdem: Seit wann interessiert dich das? Vor ein paar Stunden habt ihr euch auf Exklusivität geeinigt und kaum ist das ein Thema zwischen euch, spielt dein Hirn verrückt und fragt sich, ob Dag vielleicht die ganze Zeit über noch was mit seiner Nachbarin hatte?"
„Ich weiß", jammerte ich.

„Darf ich dich nochmal daran erinnern, dass du zuerst mit deinem Ex geflirtet hast?" Zum Glück rettete mich ein eingehender Anruf vor einer peinlichen Rechtfertigung, doch als ich sah, wer mich zu erreichen versuchte, wäre ich vor Scham am liebsten im Boden versunken. Iara lachte laut los, als Dags Name im Display auftauchte – direkt vor einem Foto, das ihn oben ohne zeigte. „Das Bild hat er hinzugefügt, das war ich nicht!", beschwor ich sie und lief dabei puterrot an. Ich legte schnell auf.
„Selbstverliebter Schönling", kommentierte sie ausgelassen und wischte sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel. „Oh Gott, hast du ihn weggedrückt?", fragte sie dann erschrocken.
„Ich muss erstmal nachdenken, ich kann jetzt noch nicht mit ihm sprechen", verteidigte ich mich. Iara schnaubte.
„Hast du denn nichts aus der Sache gelernt? Ihr müsst miteinander reden. Freundschaft, Affäre oder Beziehung – Probleme lösen sich nie einfach so in Luft auf."

Unschlüssig taxierte ich mein Telefon. Als hätte ich stumm darum gebeten, rief Dag ein zweites Mal an. „Geh endlich ran!", befahl Iara, als das dritte Signal verstrich. Ohne es diesmal weiter totzudenken, schnappte ich mir das Handy und wischte den grünen Hörer zur Seite.
„Hey", meldete ich mich.
„Hi. Was rennst du denn einfach weg?", wollte er wissen. „Tut mir leid, dass ich dich mit Alexa und Linus so überrumpelt habe. Ich war heute Morgen noch durcheinander, wegen dir. Hatte voll verpeilt, dass sie ihn bei mir lassen wollte."
„Das war echt uncool von dir", knirschte ich mit den Zähnen.
„Ich weiß, du bist sauer, aber mehr als mich bei dir zu entschuldigen –"
„Schon gut", unterbrach ich ihn. „Wie lange musst du noch auf ihn aufpassen?" Ich wusste, dass er am anderen Ende der Leitung lautlos seufzte.
„Keine Ahnung, das ist Alexas drittes Date mit demselben Kerl heute, könnte länger dauern. Eventuell übernachtet Linus bei mir und sie holt ihn erst morgen früh ab."

Ich schloss die Augen.
„Du kannst trotzdem zurückkommen, der Platz würde reichen", bot er an.
„Danke", sagte ich und bemühte mich, nicht allzu enttäuscht zu klingen. „Tut mir leid, aber das ist heute wahrscheinlich ein bisschen zu viel für mich."
„Ja, kann ich nachvollziehen." Ich sah förmlich vor mir, wie er sich durch die Haare fuhr. „Ich ruf dich an", versprach er.
„Das ist echt heftig, Dag", merkte ich ernst an.

„Ich – Mann, er ist nicht mein Kind, wie oft denn noch?!" Er atmete tief durch, versuchte sich zu sammeln. „Weißt du, nimm dir ein paar Tage, um das zu verarbeiten und ruf mich an, wenn du mir nicht mehr in jedem zweiten Satz 'nen Vorwurf machst." Perplex führte ich das Telefon weg von meinem Ohr. Er hatte aufgelegt.

„Hast du das mitangehört?", fragte ich Iara und zeigte auf mein Smartphone. Meine beste Freundin nickte.
„Das war untypisch aggressiv für ihn. Ich schließe mich dir zwar nur ungern an, aber es klingt wirklich, als wäre an der Geschichte was faul." Ich legte das Handy beiseite und nahm stattdessen mein Portemonnaie zur Hand. Mist. Ich hatte nicht mal mehr genügend Kleingeld für eine stinknormale Tasse Kaffee.
„Du", stupste Iara gegen mein Knie. „Soll ich ihn für dich aushorchen?"
„Lieb von dir, Süße, aber ich glaube, noch ein Vertrauensbruch und ich bin ihn endgültig los", lehnte ich ab.
„Wollen wir dann heimfahren?", fragte sie. Dankbar dafür, dass ich keinen Cent für eine zweite Runde Getränke locker machen musste, bestätigte ich: „Klar, super gern. WG-Filmabend wäre genau das Richtige, oder?" Iara lächelte und hakte sich bei mir unter.
„Mal schauen, ob Mika zu Hause ist oder bei Kitty. Aber wenn er bei seiner Freundin ist, machen wir uns einfach einen schönen Abend zu zweit. Nicht weiter dramatisch." Ich umarmte sie und konnte nicht aufhören zu grinsen. Endlich hatte ich sie zurück. Der Duft ihres Parfüms hüllte mich ein.
„Du hast mir gefehlt", nuschelte ich in ihren Pullover.
„Du mir auch", erwiderte sie und drückte mich noch ein wenig fester an sich.

Egal, was zwischen Dag und mir noch passieren würde: Ich hatte meine beste Freundin wieder.

Echte Freunde

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