27. Kapitel: "Und dann kommt es immer noch schlimmer."

Ich stand am Herd in Dags Küchenzeile und schlug Eier in die Pfanne, in der schon ein paar Scheiben Bacon vor sich hin brutzelten. Irgendwie hatte ich es geschafft, mir mein Handy ans Ohr zu klemmen, aber Iara nahm nicht ab. Als ich aufgewacht war, war ich festentschlossen gewesen, den Streit mit ihr heute aus der Welt zu schaffen. Enttäuscht legte ich auf und presste einige Orangen aus, bis ich drei Gläser mit Saft befüllen konnte. Die Idee kam mir spontan, als ich wieder wie paralysiert auf das Display meines Smartphones starrte. Vielleicht sollte ich Tua anrufen und über ihn versuchen, an meine beste Freundin ranzukommen.

Bevor ich allerdings meinen Plan in die Tat umsetzen konnte, hörte ich ein Gähnen. Vincent streckte sich auf der Couch und sah verschlafen zu mir rüber. Ich nahm eine Tasse aus dem Schrank.
„Kaffee?", formte ich die Frage stumm mit den Lippen. Vincent lächelte dankbar. Ich schenkte uns ein, dann trug ich die Kaffeetassen rüber zur Couch. Die Hitze der Herdplatte hatte ich runtergeregelt, also setzte ich mich entspannt zu Vince.
„Ich muss gleich los", eröffnete er mir flüsternd.
„Ich habe aber für uns drei Frühstück gemacht." Schmollend schob ich die Unterlippe vor.
„Das ist auch echt lieb von dir, Zwerg Nase, aber Charlotte holt heute ihren restlichen Kram bei mir ab", erklärte er. Schon klar, dass er seine Ex-Freundin da nicht versetzen konnte.

„Liebst du sie noch?", wollte ich mich auf den neusten Stand bringen lassen, während Vincent seine Jeans von gestern über die Boxershorts zog. Er lächelte traurig.
„Ja, tu ich. Aber ich kann sie ja schlecht zwingen, bei mir zu bleiben."
„Wieso kämpfst du nicht?", fragte ich ihn ernst.
„Ich kämpfe nicht gerne", antwortete er. „Das ist nicht meine Art."
„Was ist denn deine Art? Abwarten und Tee trinken, oder was?"
„Kaffee." Er prostete mir mit seiner Tasse zu. „Abwarten und Kaffee trinken. Was machst du jetzt mit Dag?", fragte er mich.
„Abwarten und Kaffee trinken."
„Pari." Vincent klang so ernst, wie ich ihn nur selten erlebt hatte. „Er ist mein bester Freund. Egal, was zwischen euch noch passiert und egal, wie gut ich dich leiden kann: Wenn's hart auf hart kommt, bin ich auf seiner Seite, nur dass du's weißt."

Nachdem Vincent verschwunden war, knabberte ich an dem, was er zu mir gesagt hatte und außerdem an ein paar italienischen Brotsticks mit eingebackenen Oliven, die ich in einem der Küchenschränke entdeckt hatte. Seit ich bei Dag meine bisher heftigste Panikattacke durchlitten hatte, sah ich Parallelen zwischen mir und meiner kleinen Schwester. Layas Prüfungsangst war auch wie aus dem Nichts aufgetaucht, zumindest hatte sie es mir so erzählt, als ich bei ihr auf dem Bett gesessen und mich um sie gekümmert hatte, so gut ich konnte. Ihr waren die Ursachen unsichtbar erschienen, aber für mich war an dem Tag eigentlich klar gewesen, dass es sich um eine komplexe Verknüpfung verschiedener Faktoren handeln musste. Einerseits war da die fehlende Fürsorge unserer Eltern. Die Wohnung war vernachlässigt worden, dabei waren weder meine Mutter noch mein Vater gänzlich unbegabt in der Haushaltsführung. Eher im Gegenteil. Ich erinnerte mich daran, wie mein Vater immer lächelnd die Wäsche auf der Sonnenterrasse aufhing, als ich noch klein war und wie meine Mutter mir eingetrichtert hatte, am Kochen würde kein Weg vorbeiführen, weil wir alle essen müssten. Ich hatte Lieferdienste als Kind nicht einmal gekannt. Aber die Verantwortung für Layas Erziehung, die meine Eltern offensichtlich nicht mehr halb so ernstnahmen wie bei mir früher, war nicht der einzige Grund für ihre Angstzustände. Laya hatte nicht das Gefühl, im Unterricht etwas zu lernen und so, wie sie es mir beschrieben hatte, lag das nicht daran, dass sie die Inhalte nicht verstand, sondern eher daran, dass ihr alles zu langsam ging. Wieso sie aber in den Prüfungen fürchterliche Angst bekam, sodass sie der Situation entfliehen wollte, konnte sie mir nicht sagen und ich konnte es mir genauso wenig erschließen.

Mir ging es in gewisser Hinsicht mit Dag wie meiner kleinen Schwester mit ihren Prüfungen. Ich konnte ihn eigentlich händeln, wir mochten uns immerhin wirklich und wahrhaftig. Es war gar nicht schwer, mit ihm umzugehen – außer in bestimmten Situationen, in denen er andeutete, dass er es einfach nicht lassen konnte, auch auf emotionaler Ebene meine Nähe zu suchen, denn ich war nicht bereit dafür. Iara hatte mich darüber aufgeklärt, dass Dag Onenightstands nicht ausstehen konnte und er hatte es mir sogar selbst bestätigt. Die Idee, er könnte einmalige Sachen ablehnen, weil er Physisches und Emotionales nicht voneinander trennen konnte, klang gar nicht abwegig. Wenn dem tatsächlich so war, und das würde ich ihn direkt fragen, ohne dass er mir ausweichen könnte, würde ich es beenden. Ich fühlte etwas für Dag, weil mein Leben in den Momenten erträglicher war, in denen wir Zeit miteinander verbrachten. Das war kein Zufall, dessen war ich mir auch bewusst. Nichtsdestotrotz war die Gelassenheit, die er mir verschaffte, nichts, was mit Romantik zu tun gehabt hätte. Romantische Gefühle zu empfinden verlangte mir zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben mehr ab, als Dag mir geben konnte. Ich fühlte mich wohl bei ihm, aber ich fühlte mich genauso im Kreis meiner Freunde. Nach wie vor war unsere Affäre für mich rein körperlich. Ich musste ihm die Chance geben, auf Abstand zu gehen.

„Hey", nahm ich seinen kratzigen Gruß rechts von mir wahr. Er setzte sich in seinem Bett auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
„Na", sagte ich leise und setzte ein Lächeln auf.
„Hast du gekocht?", fragte er und atmete den deftigen Geruch des Frühstücks ein, der sich im gesamten Raum verteilt hatte.
„Es gibt Eier und Speck zum Frühstück." Ich stand auf, schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein und brachte sie ihm.
„Danke. Auch für gestern."

„Mach das bitte nie wieder, okay? Du kannst nicht in die Bar kommen und dich sinnlos besaufen, nur um mit mir zu reden. Das geht nicht, Dag, das ist gefährlich", belehrte ich ihn.
„Ich wusste mir nicht anders zu helfen, du hast mich dauernd abblitzen lassen." Er wirkte frustriert. „Ich hatte gehofft, es würde dir schwerer fallen, wenn ich tatsächlich vor dir stehe."
„Tut mir leid", entschuldigte ich mich. „Du hast Recht, wir müssen reden. Ich stehe mit meinen Eltern ja immer noch auf Kriegsfuß, deswegen arbeite ich so viel, ich versuche mich dadurch irgendwie über Wasser zu halten. Es ist doof, dass du dafür zurückstecken musst und wir uns zurzeit nicht so häufig sehen können, aber um ehrlich zu sein betrachte ich die jetzige Situation eher als Chance für dich. Du kannst mit der nötigen Distanz auf das gucken, was zwischen uns läuft und entscheiden, ob du das überhaupt noch willst. Ich glaube, wir entwickeln uns gerade in unterschiedliche Richtungen, was unsere Einstellungen dazu angeht."

„Was genau meinst du damit?", fragte er und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
„Desto mehr ich darüber nachdenke, umso stärker kristallisiert sich heraus, dass ich einer Beziehung nicht gewachsen bin. Egal, wie sehr ich mir eine wünsche. Für mich gibt es dich und mich nur in einer Affäre, oder ohne direkten Kontakt zueinander", sprach ich Klartext. Dag musterte mich nachdenklich.
„Pari", sagte er und sah mir dabei in die Augen. „Ich glaube nicht, dass du das wirklich so siehst", murmelte er und sein Blick glitt aus dem Fenster.
„Entschuldige?", hakte ich nach. Mein Mund war trocken. Wieso stellte er infrage, was mich so viel Überwindung gekostet hatte, auszusprechen?

Er seufzte.
„Ich habe versucht, mich von dir fernzuhalten und es hat auch funktioniert. Aber ich habe mich irgendwann doch bei dir gemeldet, weil ich festgestellt habe, dass es nicht das ist, was ich will. Ich würde lieber Zeit mit dir verbringen, als keine Zeit mit dir zu verbringen. Und ich weiß, dass du das vielleicht denkst, aber das hat nichts mit unausgesprochenen Gefühlen zu tun. Ich mag dich einfach. Es ist normal, zu den Menschen den Kontakt halten zu wollen, die man mag. Ich respektiere deinen Freiraum, aber ich habe ein Bedürfnis danach, dich zu sehen, das ich erfüllen möchte. Da kann ich nicht dauernd deine Interessen über meine eigenen stellen."
„Das verstehe ich." Dag lächelte melancholisch.
„Mir ist das momentan zu toxisch mit dir. Ich will wenigstens Exklusivität. Der Gedanke, du könntest dich mit wem anders treffen, hat meinen Selbstwert in den letzten Tagen ziemlich runtergezogen. Ich muss, wie du auch, meine Grenzen ziehen dürfen, okay? Eine monogame Affäre ist übrigens keine Beziehung in spe. Nicht für mich jedenfalls, also wüsste ich nicht, warum du das anders sehen solltest." Er hielt mir seinen kleinen Finger entgegen. „Auf eine gesunde Affäre?"
Das lief besser als erwartet.
„Auf eine gesunde, monogame Affäre." Ich wand meinen kleinen Finger um seinen und genoss den darauffolgenden Kuss.

„Mach mal bitte auf", tönte Dag aus dem Bad, als es an seiner Tür klingelte. Ich legte mein Handy beiseite und stand auf. Vermutlich war es nur der Postbote, der irgendein Paket vorbeibringen wollte. Doch ich sollte mich täuschen.

Die Frau, die mich überrascht aus ihren großen tiefdunklen Augen anschaute, als ich die Tür öffnete, war nicht viel größer als ich. Sie hatte langes, kräftiges Haar, das schwarz und gesund glänzte, als wäre sie frisch vom Friseur gekommen. Ihr dezentes Make Up stand ihr zwar, aber sie hätte die Vorzüge ihres anmutigen Gesichts kaum zu betonen brauchen. Ihre Wangenknochen lagen hoch in ihrem niedlichen Herzgesicht, mit dem spitzen Kinn, auf dem sich kleine Grübchen bildeten, als sich ihre vollen Lippen zu einem vorsichtigen Lächeln verzogen.
„Hi", sagte sie. Ihre Stimme war angenehm rauchig. Synchronsprecherin für Erotik-Romane, das wäre der passende Beruf für sie gewesen. „Ist Dag zu sprechen?", fragte sie und linste neugierig in die Wohnung.
„Ist gerade schlecht", erwiderte ich und konnte nicht verhindern, dass mein Blick zu ihren prominent ausgestellten Brüsten glitt, die sie in ihrem roten Kleid gekonnt in Szene setzte. Es war aus leicht transparentem Stoff. Man glaubte, alles von ihr zu sehen, und doch sah man in Wirklichkeit überhaupt nichts von ihrem Traumkörper darunter. Sie war ohne Frage kurvig und durch die paar Zentimeter Größe, die sie mir voraushatte, wirkte bei ihr jedes Gramm wie am richtigen Platz. Das Kleid war hier und dort gerafft, sodass es ihrer Wahnsinnsfigur besonders schmeichelte.

„Schade", schnurrte sie sanft. „Ich wohne unten", erklärte sie und sah mir dabei in die Augen. „Alexa." Sie streckte die Hand aus. Ich schüttelte sie. Ihre Fingernägel waren kurz und nur ein bisschen mit Klarlack aufpoliert. Alles in allem konnte Dags Nachbarin ihre schwarzen Schnür-Stilettos zu diesem roten Kleid zum Niederknien tragen, ohne dabei übertrieben oder unnatürlich zu wirken. Ich kam mir plötzlich schrecklich underdressed in meinem Rock und dem eng anliegenden Pullover vor.
„Pari", stellte ich mich ihr vor.
„Hör mal, Pari, keine Ahnung, wo er gerade ist. Ich bin sicher, du wirst es wissen. Es ist wichtig, dass wir miteinander sprechen, also würdest du ihm bitte ausrichten –"

In diesem Moment ging die Tür des Badezimmers auf. Dag hatte bloß ein Handtuch um die Hüften gewickelt und ich traute meinen Augen kaum, als er in exakt diesem Aufzug zu uns an die Tür trat.
„Hey", begrüßte er Alexa. In seiner Stimme lag diese Wärme, die mich damals dazu gebracht hatte, ihm wenigstens ein bisschen Vertrauen einzuräumen. „Wo ist er?", fragte Dag.
„Er kommt gleich. Ich habe ihn zu seinem Kumpel spielen geschickt, damit ich mich in Ruhe fertigmachen kann." Dann wandte sie sich an mich. „Passt ihr gemeinsam auf Linus auf?", fragte sie. Dabei lächelte sie noch immer höflich distanziert, aber nicht unfreundlich. Ich sah Dag ratlos an.
„Mal schauen", antwortete er Alexa vage. Wer war Linus? In meinem Kopf ging es plötzlich drunter und drüber. Erst hatte ich an einen Hund oder ein anderes Haustier gedacht, aber Haustiere wurden in der Regel nicht zu ihren Freunden geschickt, damit man sich in Ruhe fertigmachen konnte. Sowas machte man eher mit ... Kindern.

„Er soll klingeln", sagte Dag zu Alexa. „Ich zieh mir rasch was an."
„Ja, wäre besser so", zwinkerte sie ihm zu.
„Viel Spaß heute Abend, du siehst fantastisch aus." Mir entwischte ein empörtes Japsen, das ich gerade noch in ein Husten verwandeln konnte.
„'Tschuldigung", nuschelte ich. „Ich glaube, ich werde krank."
„Oh." Alexa legte besorgt die Stirn in Falten. „Dann ist es vielleicht besser, wenn du dich ein bisschen schonst. Dag kümmert sich garantiert auch allein um Linus", versprach sie.
„Jetzt hau schon ab, du kommst noch zu spät", scheuchte Dag sie los.
„Danke dir", sagte sie, umarmte ihn kurz, aber fest, und hauchte ihm sogar einen Kuss auf die Wange. Ich stand bloß blinzelnd und wie gelähmt daneben. Schließlich schloss Dag die Tür hinter Alexa und ich sah ihn abwartend an.

„Ich zieh mich um, dann bekommst du deine Erklärung." Er stolperte zu seinem Kleiderschrank. Ich hörte, wie er Sachen von den Bügeln nahm, als es wieder klingelte. Ich öffnete die Haustür ein zweites Mal. Vor mir stand ein kleiner Junge mit braunen fluffigen Haaren, blauen Augen und vollen rosigen Lippen. Auch seine Wangen waren leicht gerötet und bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand.
„Hallo", begrüßte er mich außer Atem. „Hey!", rief Dag hinter mir und die Augen des Jungen begannen zu leuchten. Er lief auf ihn zu, Dag hob ihn lachend hoch und wirbelte das Kind durch die Luft. Das musste Linus sein. Ich schätzte ihn auf etwas zwischen sieben und neun, alt genug auf jeden Fall, um Alexas Sohn zu sein – und eventuell Dags. Mein Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass er ein Kind haben könnte, das er mir bis dato verschwiegen hatte. Dags Blick fiel auf mich und er setzte Linus ab.
„Wie sieht's aus? Hast du Lust was zu kochen, oder wollen wir lieber was bestellen?", fragte er den Jungen.
„Ich hab schon bei Marius gegessen", antwortete er.
„Ich aber nicht", gab Dag zurück. „Na gut, gibst du mir fünf Minuten mit Pari, Kleiner?", fragte er Linus und wuschelte ihm durchs Haar. Der Junge bestätigte es grinsend und Dag winkte mich zu sich heran.

Ich spielte kurz mit dem Gedanken, meinen Trenchcoat vom Haken zu nehmen, meine Handtasche zu schultern und wortlos zu gehen, aber dann würde mich die Ungewissheit, wer Linus war, in welcher Beziehung er zu Dag stand (und in welcher Beziehung Dag zu Alexa stand) noch ewig quälen. Deswegen folgte ich ihm auf den Balkon, während Linus sich auf den Teppich vor den Fernseher hockte und Dags Videospielsammlung durchwühlte.

„Alexa ist meine Nachbarin", meinte er, als wir draußen standen.
„Ich weiß, das hat sie mir schon gesagt."
„Wahrscheinlich konntest du dir auch schon denken, dass Linus zu ihr gehört."
„Ist sie seine Mutter?" Dag nickte und steckte sich eine Zigarette an.
„Wie alt ist er?"
„Acht. Ich bin sozusagen mit in der Verantwortung und passe hin und wieder auf ihn auf, wenn es bei ihr nicht geht."
„Was soll das heißen, du bist sozusagen in der Verantwortung? Ist er dein Sohn?"

Nein

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