2. Kapitel: "OOTD, #wokeuplikethis"
Es war ein verregneter erster Morgen, an dem ich das vielleicht prägendste Kapitel meines Lebens aufschlug. Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in den Händen stand ich vor dem dreigeteilten Fenster meines chaotischen Zimmers und wurde mit jedem heißen Schluck, den ich trank, wacher. Ich würde heute all meine Energie benötigen, um unsere WG-Einweihungsparty samt der Vorbereitungen heil zu überstehen.
Mika und Iara schliefen noch. Oder vielleicht waren sie wach, wie ich, und hingen ihren eigenen Gedanken nach.
Morgens ist es ruhig. Nicht nur auf den Straßen; auch in den Köpfen der Menschen. Zumindest in meinem Kopf hält morgens jede Stimme ihre Klappe.
Meine leere Tasse stellte ich auf der Fensterbank ab. Hinter dem Haus gegenüber ging die blassgelbe Wintersonne auf. Obwohl ich mich langsam hätte aufraffen sollen, konnte ich meine Augen unmöglich von diesem wunderschönen Anblick wenden. Golden, aber gedimmt von den Wasserschlieren, die der nächtliche Schauer auf der Scheibe hinterlassen hatte, glühte sie am grau-klaren Himmel. Ein ausgewaschener, konturloser Regenbogen schmückte den Horizont in der Ferne; makellos und magisch.
Lächelnd kehrte ich dem einmaligen Wetterspektakel irgendwann doch den Rücken und schlüpfte in ein bequemes Strickkleid und eine schwarz-karierte Strumpfhose. Für den Vormittag war das vollkommen ausreichend. Eine spärliche Schicht Mascara und einen Spritzer Parfüm später, stand ich meiner besten Freundin in der Küche gegenüber.
Sie tippte im Stenographen-Tempo auf ihrem Handy herum und beachtete mich gar nicht, während sie von ihrem frisch aufgebackenen Croissant abbiss. Rein um auszutesten, wann sie mich wohl bemerken würde, lehnte ich mich gegen den holzverkleideten Kühlschrank, ohne auch nur einen Mucks von mir zu geben. Unter manchen Freaks gilt Unsichtbarkeit als die coolste Superkraft. Für die war ich wahrscheinlich die größte Superheldin.
Tatsächlich sah Iara erst von ihrem Display auf, als Mika Morgenmuffel die Küche betrat.
„Hey! Gut geschlafen?", begrüßte sie ihn fröhlich. Ich wusste es besser als Iara und sprach ihn gar nicht erst an. Stattdessen ging ich ihm aus dem Weg, als er auf den Kühlschrank zuwankte. „Oh, Pari", bemerkte Iara mich endlich. „Wie lange stehst du schon dort? Deine Croissants schmecken himmlisch", versuchte sie ihre Unaufmerksamkeit mit einem nett gemeinten Kompliment zu überspielen.
„Seit ein paar Minuten schon. Kannst du das mit der Arbeit nicht wenigstens für heute sein lassen, Iara?", bat ich sie und dankte Mika leise für den Orangensaft, den er mir auf meinen Fingerzeig hin in ein Glas schüttete.
„Entschuldige, es war extrem wichtig."
Mika schluckte seinen ersten Bissen Croissant herunter. Man konnte problemlos und in Echtzeit beobachten, wie seine Lebensgeister erwachten.
„Wirst du nicht verrückt davon, wenn du heute nebenbei noch versuchst, Sachen für die Künstleragentur zu regeln?", fragte er Iara.
Sie zuckte die Schultern.
„Verrückt bin ich doch eh schon. Wann kommt Kitty?", fragte sie ihn. Mikas Freundin hatte versprochen, uns heute unter die Arme zu greifen.
„Gegen zehn."
„Also in zwanzig Minuten. Pari, hilfst du mir mit dem Einkauf?" Ich wollte mir gerade eine zweite Tasse Kaffee einschenken, stoppte in der Bewegung und fuhr zu ihr herum.
„Du willst jetzt sofort los?"
„Je schneller alles erledigt ist, desto eher können wir uns entspannt zurücklehnen." Iara klatschte in die Hände. „Lasst uns loslegen, das wird ein langer Tag."
+
Eine Stunde später drückte meine beste Freundin mir zwei vollgepackte Einkaufstüten in die Hand. Am liebsten hätte ich beide demonstrativ fallenlassen. Iara hatte meinen zweiten Kaffee tatsächlich unterschlagen. Dabei war der Umzugstag gestern anstrengend genug gewesen. Und warum durfte Mika überhaupt in der Küche die Salate machen, während ich mit meiner übermotivierten Mitbewohnerin zehn Tonnen Partyproviant in den fünften Stock schleppen musste? Ich war immerhin die Zierlichste in unserem Haushalt ...
„Wo ist dein muskelbepackter fester Freund, wenn man ihn mal braucht?", jammerte ich.
„Er hat verschlafen", erklärte sie und zeigte der Kassiererin ihre EC-Karte.
„Es ist später Nachmittag." Blind gab sie die vierstellige PIN ein und beäugte mich dabei kritisch.
„Saßt du schon mal bis drei im Studio, weil dich plötzlich die Kreativität gepackt hat? Die Musik ist nun mal seine Existenzgrundlage. Er sollte nach solchen Late-Night-Sessions wenigstens ausschlafen können. Heute Abend muss er wach sein und durchhalten." Das Kartenlesegerät piepste bestätigend und Iara verstaute Bon und Karte in ihrem Portemonnaie, bevor sie sich ihre eigenen Tüten schnappte. Mühelos hob sie beide hoch und trug sie ungerührt an mir vorbei.
„Durchhalten wofür?", murmelte ich. Sollten Iara und Tua im Zimmer nebenan nach der Feier noch zur Sache gehen, könnte ich die Wiederholung meines Lateinvokabulars vor dem Schlafengehen knicken. „Hast du's so nötig? Du machst noch seinen Biorhythmus kaputt", warnte ich sie und biss mir direkt danach auf die Zunge. Iara bremste ohne mit der Wimper zu zucken, trotz ihrer überdurchschnittlichen 6 km/h Schritttempo.
„Ich?! Ich habe es nötig und zerstöre Biorhythmen?" Fast wäre ich in sie reingerasselt. Eingeschnappt drehte sie sich zu mir um. „Wenn ich Tua sich selbst überlassen würde, bekämst du ihn tagsüber gar nicht mehr zu Gesicht. Sein Biorhythmus war schon kaputt, bevor ich ihn überhaupt kennengelernt habe. Finde endlich eine eigene Beziehung, an der du rumnörgeln kannst!" Zugegeben, ich hatte mich im Tonfall vergriffen, als ich sie angeschnauzt hatte, also verdiente ich ihre harschen Worte wahrscheinlich. Trotzdem blinzelte ich sie mindestens so verwundert wie gekränkt an. Iara hatte einen wunden Punkt getroffen, und sie wusste das ganz genau. „Entschuldige, Pari", sagte sie etwas sanfter. „Ich bin gestresst, wir sind mit dem Zeitplan im Verzug."
Ich nickte nur stumpf.
„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, schon okay."
„Hey ..." Sie stellte ihre Tüten für einen Moment ab und legte mir die Hände auf die Schultern. „Tut mir leid. Ich kann deinen Frust wirklich verstehen, nachdem was der letzte Idiot bei dir abgezogen hat. Das war unsensibel von mir."
„Wie gesagt, schon okay." Ich rang mir ein halbherziges Lächeln ab, womit Iara sich ausnahmsweise zufriedengab. Wäre sie nicht derart angespannt gewesen, hätte sie weiter nachgebohrt.
Stattdessen klemmte sie sich unsere Einkäufe wieder unter die Arme.
„Bitte nimm's nicht so schwer, Pari; und jetzt hab dich nicht so, das sind nur zwei Tüten. Außerdem ist es auch deine Einweihungsparty, das wird toll", erinnerte sie mich. Ich watschelte ihr missmutig hinterher.
„Die sind randvoll", beklagte ich mich. „Was, wenn der Henkel abreißt?"
„Scheiße, der Henkel ist abgerissen?" Iara sah sich mit weitaufgerissenen Augen nach mir um und stöhnte genervt, als sie bemerkte, dass sie mich bloß falsch verstanden hatte. Die mir zugeteilten Papiertüten waren völlig intakt. „Ach, komm. Es sind zweihundert Meter bis zu unserer Wohnung."
„Und fünf Stockwerke ohne Fahrstuhl", brummte ich. Daraufhin griff sich meine Freundin, die mittlerweile die Schnauze gestrichen voll von mir haben musste, eine meiner Tüten. Allerdings nicht ohne mir vorher einen tadelnden Blick zuzuwerfen.
„Los, Prinzesschen", forderte sie mich streng auf.
„Nein, gib mir meine Tüte zurück", protestierte ich und heftete mich an ihre Fersen. „So ist das Gewicht ungleichmäßig verteilt." Iara zuckte die Schultern, die drei Tüten perfekt ausbalancierend. Ich stolperte währenddessen beinah über meine eigenen Füße. „Tut mir leid, ich weiß, ich bin schrecklich", zeigte ich mich einsichtig. Meine beste Freundin hatte keine Zeit, darauf zu reagieren. Ihr Handy klingelte.
„Verdammt, Tua", fluchte sie leise über das ungünstige Timing und ließ die Tragetaschen sinken.
„Guten Morgen, Schlafmütze", schnurrte sie ins Telefon. Seufzend lehnte ich mich an die Fassade des Supermarkts.
Ich war kein verwöhntes Mädchen, aber so viele Lebensmittel musste ich sonst höchstens im Iran tragen, wenn Oma Soraya mich dazu zwang. Sie tat das mit der total einleuchtenden Begründung, dass ich ein Mädchen war und es eben zu den Aufgaben einer Frau gehört, den Haushalt zu schmeißen. Ich mochte meine Oma, aber manchmal war sie nichts als eine konservative, alte Schrulle. Am liebsten hätte ich jedes Mal erwidert, dass mir dabei einen Fingernagel einreißen könnte, was sich ja wohl genauso wenig schickte für ein Mädchen.
„Gute Nachrichten", riss Iara mich aus meinen Gedanken. „Tua läuft uns entgegen und nimmt dir sogar die zweite Tüte ab."
„Können wir ganz langsam laufen?", fragte ich hoffnungsvoll.
„Du benimmst dich egoistisch, Pari", rügte Iara mich, obwohl das, was ich gesagt hatte nur so halb ernst gemeint gewesen war.
Schmollend, ohne einen wirklichen Grund dafür zu haben, trottete ich hinter meiner besten Freundin her. Als ich ihren Freund in der Ferne ausmachen konnte, atmete ich erleichtert auf. Iara lief Tua entgegen, der ihr fürsorglich die Tüte abnahm, die sie mir stibitzt hatte, um mich zu entlasten. Sie drückte ihm einen raschen Kuss auf die Lippen. Innerlich seufzte ich. Was hätte ich dafür gegeben, auch mal wieder jemanden zu küssen?
„Sie ist doch viel unsportlicher als du, was ist los mit dir?" Tua grinste mich spöttisch an, während er mir auch die zweite Tüte abnahm, sodass ich lediglich das Klopapier und die Kartoffeln behielt. Iara verdrehte die Augen über seinen subtilen Seitenhieb.
„Als stünde Bizeps in meinem Trainingsplan ..." Ich zeigte ihm einen Vogel. „Iara und ich haben einfach eine Prinzipiendifferenz, was das Tragen schwerer Gegenstände anbelangt."
„Schon klar, du trägst nichts Schweres, weil du ein kleines zierliches Prinzesschen bist", stichelte er. Verärgert funkelte ich meine grinsende beste Freundin an.
„Ich weiß nicht, ob ich dir je verzeihen kann, dass du ihm diesen blöden Spitznamen verraten hast."
„Der Umzug war anstrengend für dich, hm?", erkundigte Tua sich. War das etwa Einfühlsamkeit, die da in seiner Stimme mitschwang?
„Ja", betonte ich nachdrücklich. Er lachte. Ich hatte mich also getäuscht, doch kein Mitleid.
„Das Schwerste, was ich dich gestern habe tragen sehen, war ein mittlerer Blumentopf."
„Da war eine ausgewachsene Zimmerpalme drin!", verteidigte ich mich. „Außerdem habe ich bei allen Regalen mit angepackt!"
„Pari, er triezt dich nur", versuchte Iara mich zu besänftigen.
„Die Pflanze war so groß wie du", zog er mich unbeirrt weiter auf. Ich zeigte ihm den Mittelfinger für den blöden Spruch.
„Halt die Klappe, Goliath."
Mikas Schritte waren im Treppenhaus zu hören, als wir vor dem Altbau ankamen, in dem wir unser neues Zuhause gefunden hatten. Bald darauf gesellte sich mein anderer – ebenfalls motivierter – Mitbewohner zu uns. Iara, die ihn auf dem Weg hierher angerufen und runtergebeten hatte, übergab ihm wortlos ihre Tüten und sprintete voraus. Mit ihren langen Beinen nahm sie immer zwei Stufen auf einmal. Im vierten Stock saß sie uns aber keuchend auf der Fensterbank gegenüber, was niemanden wirklich überraschte.
Mika grinste sie im Vorbeigehen an.
„Wann lernst du endlich, was für 'ne beschissene Kondition du hast?"
„Nie", antwortete Tua für seine Freundin und sie japste etwas, das vermutlich eine Beleidigung sein sollte. Ich blieb bei ihr stehen und wartete geduldig, bis sie ruhiger atmete. Erschöpft umfasste Iara meine Hüfte, sodass ich sie den restlichen Weg nach oben schleifen durfte.
Kitty öffnete Mika gerade die Tür. Ihr Freund hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und schob sich an ihr vorbei in die Küche, gefolgt von Tua. Kitty aber blieb genau, wo sie war.
„Ihr beide ..." Sie sah Iara und mich an. „Wir kümmern uns erstmal um eure Outfits für den Abend."
Verdammt, das hatte ich verdrängt.
Mikas Freundin versuchte sich aktuell neben ihrem Designstudium als Stylistin selbstständig zu machen. Sie war dabei, ihre eigene Website einzurichten und hatte Iara und mir ihre Dienste kostenfrei angeboten, im Austausch gegen ein paar Fotos, die sie zu Werbezwecken nutzen wollte und unsere authentischen Reviews, die auf der Startseite aufploppen sollten. Kitty hatte Talent, aber ich gab das Zepter nicht gern ab, wenn es um mein Aussehen ging.
„Es vergehen noch Stunden, bis die ersten Leute hier auftauchen", stöhnte Iara.
„Man kann nie früh genug anfangen, sich fertig zu machen", belehrte ich sie und Kitty nickte bedeutsam.
„Warte!", rief Iara panisch als Kitty sie prompt mit sich ins Bad zerren wollte. Ich half mit, mehr um meine beste Freundin zu ärgern. „Tua, kannst du bitte die Champignons mit irgendwas Gemüseartigem befüllen?", delegierte sie spontan ein paar der Aufgaben.
„Ich nehme Gemüse, wenn dir das gemüseartig genug ist", erwiderte ihr Freund staubtrocken.
„Dankeschön. Und Mika, die Schüsseln für die Snacks stehen in meinem Zimmer auf dem Tisch, füllst du die bitte um?", rief sie noch, ehe im nächsten Moment die Badezimmertür einen Zentimeter vor ihrer Nasenspitze zufiel. Andächtig atmete sie aus und schloss die Augen. „Ich hoffe für dich, dass das schnell geht. Wir können nicht alles den Jungs überlassen. Ich muss noch zig Sachen auf die Beine stellen, bevor es losgeht."
Kitty verschränkte die Arme vor der Brust.
„Unter anderem dein Outfit. Wir kriegen das so schnell hin wie ein Laufsteg-Fitting, wenn du möchtest."
„Was auch immer das in Minuten übersetzt heißen soll ...", murmelte Iara.
Kitty nahm einen Stapel frischer, ordentlich gefalteter Klamotten von der Waschmaschine runter.
„Du hattest diesen schlabbrigen Comic-Pulli von deinem ehemaligen Mitbewohner. Ich habe ihn dir umgenäht und deine beste Jeans dazu kombiniert. Der Goldschmuck, den du tragen wirst, hängt dort." Sie zeigte auf einen der Haken, die eigentlich für Handtücher gedacht waren, und von dem eine Vintage-Armbanduhr und Kreolen baumelten. Iara gähnte zustimmend und zog sich dabei bereits ihren Hoodie über den Kopf. „Für dich", begann Kitty episch und wandte sich mir zu, „habe ich ein Kleid bestellt."
Sie zauberte einen Bügel mit einem herzförmig ausgeschnittenen cremeweißen Cocktailkleid von einem anderen Handtuchhaken und reicht ihn mir.
Skeptisch musterte ich, was Kitty für mich ausgesucht hatte. Ich bereute, dass ich keine Rahmenbedingungen mit ihr aushandelt hatte.
„Das sieht ganz schön eng aus", kommentierte ich.
„Es harmoniert perfekt mit dem warmen Unterton deiner hellen Haut, und du kannst es dir sowieso leisten, ein so enges Kleid zu tragen", versuchte Kitty meine Zweifel auszuräumen.
Obwohl ihr Zuspruch mir nicht genügte, sprach die gesamte Ausstrahlung meiner besten Freundin für das Umstyling, das Kitty ihr verpasst hatte. Sie hatte es geschafft, das Beste aus Iaras schlanker Erscheinung herauszuholen. Ihr stand der bedruckte, alte Pulli ihres ehemaligen Mitbewohners mit den Scooby-Doo-Motiven fantastisch. Nach Kittys Änderungen wäre er glatt als aufregendes Designerstück durchgegangen. Lässig und ein bisschen sexy. Die Markenjeans dazu saßen wie angegossen. Iara betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Mit den Accessoires wirkte das Outfit bequem und dennoch stylisch.
„Danke." Sie schenkte Kitty ein aufrichtiges Lächeln und redete mir Mut zu: „Zieh endlich das Kleid an, Pari."
„Das ist zu eng", sagte ich im Brustton der Überzeugung, als ich halb drinsteckte.
„Dir tut doch nichts weh, oder?", wollte Kitty besorgt wissen.
„Nein, aber –"
„Kein Aber, du kannst atmen, alles paletti", mischte Iara sich entschieden ein und half mir mit den Trägern.
„Das ist auf deinem Mist gewachsen, oder?", zischte ich ihr wütend zu. „Du hast dich hinter meinem Rücken mit ihr abgesprochen." Iara lächelte bloß geheimnisvoll.
Als Kitty den Reißverschluss schloss, der zu meiner Verwunderung kein bisschen hakte, pfiff meine beste Freundin anerkennend.
„Scharf", grinste sie und fächelte sich Luft zu.
Argwöhnisch observierte ich mich im Spiegel.
„Das ist ... gewöhnungsbedürftig."
„Falsch, das ist heiß", widersprach Kitty.
Iara grinste frech.
„Wenn du damit heute keinen Kerl abschleppst, ist alles verloren und du endest mit Sicherheit als einsame Katzenlady." Ich schüttelte den Kopf.
Kitty drapierte indes eine Kette um meinen Hals. Ein geschliffener Rosenquarz, eingefasst in Gold, thronte zwischen meinen Schlüsselbeinen. Die dazu passenden Ohrringe hielt sie auch schon für mich bereit. Schelmisch zwinkerte sie mir zu.
„Iara hat mir ständig von deinen Schminkkünsten vorgeschwärmt, als wir besprochen haben, womit man deine Kurven am besten zur Geltung bringen könnte." Sie zog einen Puderpinsel aus meinem Behälter für Schminkpinsel, der hinter ihr im Schrank stand. „Jetzt bist du an der Reihe."
„Das ist hinterlistig", überging ich Kitty vorerst und sah Iara anklagend in die Augen. „Wieso sagst du mir nicht einfach, dass du mich so dringend verkuppeln willst heute?" Meine beste Freundin zuckte die Schultern.
„Du hättest bloß unnötig Trara gemacht deswegen."
„Gib mir das nächste Mal wenigstens die Chance, mich darüber aufzuregen." Enttäuscht nahm ich Kitty meinen Pinsel aus der Hand.
„Pari", versuchte Iara mich zu besänftigen. „Du siehst wirklich super aus. Bitte sei nicht böse auf mich, lass uns den Abend genießen, okay? Während du Kitty schminkst, schaue ich draußen bei den Jungs nach dem Rechten." Sie umarmte mich. „Du bist wundervoll", flüsterte sie mir zu. „Geh ein bisschen mehr aus dir raus. Tu's für mich."
+
Eine weitere Stunde später sah Kitty aus wie der K-Popstar auf dem Foto, dass sie mir gezeigt hatte. Bei Iara hingegen hielt ich den Look dezent, wie sie es gern mochte; und ich entschied mich bei mir selbst für ein rosiges Farbschema mit goldenen Akzenten – inspiriert von meinem Schmuck. Es half mir, mich und die anderen zu schminken. Make Up brachte mich eigentlich immer auf andere, weniger pessimistische Gedanken.
Iara grinste zufrieden.
„Bereit?"
Ich lugte scheu über Kittys Schulter, als sie die Badezimmertür aufstieß.
„Wurde aber auch Zeit", grummelte Mika. „Ich muss dring- Wow."
Er starrte mich an, und nicht seine feste Freundin, weshalb ich mich gleich noch ein wenig kleiner machte.
Kitty boxte ihn in die Seite und räusperte sich dabei.
„Was denn? Du bist selber schuld dran, dass alle Pari anglotzen werden."
„Ich will aber gar nicht angeglotzt werden", fiepte ich.
„Na toll", fauchte Kitty. „Vielen Dank auch. Weißt du, wie lange es gedauert hat, sie davon zu überzeugen das Kleid endlich anzuprobieren?", zeterte sie drauflos. „Ey!", blaffte sie ihn an, denn er schien schon wieder völlig abgelenkt, diesmal jedoch von Iara und Tua, die eine Knutschorgie gestartet hatten.
Kitty fuhr sich fassungslos durchs Haar.
„Du Super-Stylistin bringst Menschen zusammen", verspottete Mika sie liebevoll. „Ganz nah, wenn du verstehst, was ich meine." Sie wollte etwas erwidern, doch er küsste sie am Hals und so kicherte sie stattdessen.
Ich presste die Lippen aufeinander. Als Single umgeben von Paaren hat man es nie leicht, so viel wusste ich inzwischen.
Um meine glücklich vergebenen Mitbewohner nicht zu stören, zog ich mich in mein Zimmer zurück und sortierte weiter meine Manga-Sammlung in das weiße Bücherregal an der hinteren Wand ein. Während ich die ‚Nana'-Reihe hintereinander aufstellte, schoss mir durch den Kopf, wie ähnlich die bravere der zwei Nanas mir war, die eine der beiden Protagonistinnen der Geschichte. Zumindest, was den Umgang mit Männern betraf. Jeden Tag verliebt in einen neuen süßen Kerl. Sie ist so naiv romantisch, dass es beim Lesen fast wehtut. Aber wenigstens ist Nana eine loyale Freundin.
Ich stand auf und musterte mich erneut im Spiegel. Eigentlich war ich heute zufrieden mit mir. Mein dunkles Haar glänzte im schwindenden Sonnenlicht schokoladig-golden. Kitty hatte recht, das Kleid, das ich trug, war figurschmeichelnd. Ich sah weiblicher denn je aus, mit Augen so groß wie die einer niedlichen Puppe. Ein Lächeln zeichnete mein Gesicht weich und tupfte ein Grübchen auf meine rechte Wange, als wäre mein Spiegelbild gemalt.
Mit reuevoller Miene wandte ich den Blick ab. Das war gerade eindeutig ein beschämender Batzen Eigenlob gewesen.
Um diese bizarre Selbstverherrlichung runterzufahren, lag praktischerweise auf dem Schreibtisch vor mir das ultimative Gegengift: mein Handy. In meinem Instagram-Feed begegneten mir tagtäglich die schönsten, elegantesten Models. Insta brachte mich zuverlässig zurück auf den Boden, wenn ich mich mal wieder in Eitelkeit zu verlieren glaubte.
Meine Unsicherheit beherrschte mich. Wahrscheinlich hätte ich mich öfter mit mir selbst auseinandersetzen sollen, aber wozu den daraus resultierenden Stress inkaufnehmen, durch den ich mich unweigerlich außer Gefecht setzen würde? Ich hatte ein Studium zu absolvieren, den Stolz meiner Familie zu wahren, und für meine Freunde da zu sein. Das war alles, was mich ausmachte.
Ich startete eine mir empfohlene Playlist auf Spotify. Iara denkt oft nach, während sie Musik hört. Ich kann das nicht. Ich betäube jeden Gedanken damit.
Mitunter haben die Welt und ich ein ernsthaftes Kommunikationsproblem, oder ... So war das jedenfalls, bis ich an diesem schicksalhaften Abend Dag kennenlernte.
Selfie
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