14. Kapitel: "Manchmal stehst du auf der Bühne."

Völlig entnervt klopfte ich gegen die Badezimmertür.
„Mika, bist du irgendwann mal fertig?"
„Entspann dich, wir kommen schon pünktlich."
„Ich muss aber nochmal pinkeln, bevor wir losfahren", jammerte ich und zerrte den Saum meines blau-weiß-floral gemusterten Kleids bis zu den Knien meiner überkreuzten Beine runter.
„Wie alt bist du denn? Fünf?", tönte Mika amüsiert.
„Mann, ich mach mir gleich in die Hosen", verstärkte ich meinen Protest.
„Du trägst doch fast nie Hosen." Die Tür ging auf und ich starrte mitten in Mikas grüne Augen. „In Hosen bist du vielleicht zweimal rumgelaufen, seit wir uns kennen."
„Geh mir aus dem Weg", zeterte ich. Mika warf einen Blick auf sein Handy.
„Unsere U-Bahn kommt in fünf Minuten. Schaffst du, oder?"
„Wir müssten überhaupt nicht hetzen, wenn du nicht immer so lange bräuchtest", holte ich meinen Mitbewohner auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Hübsch siehst du aus, Prinzesschen", lächelte er. Ich zeigte ihm den Mittelfinger und schloss die Tür hinter mir.

Wenige Minuten später saßen wir nebeneinander in der U-Bahn und redeten über den Zwischenfall mit Joseph.
„Mir ist der Kragen endgültig geplatzt, als er mich gefragt hat, ob ich was mit dir hätte."
Mika grinste. „Ich weiß, manchmal bereust du's noch, aber langsam musst du drüber hinwegkommen."
„Du Assi", lachte ich fassungslos. „Wenn deine Freundin dich gehört hätte ...", mahnte ich ihn.
„Die hätte bloß gelacht", meinte er selbstsicher und streckte sich. Ich beobachtete, wie er erst den einen Arm in die Höhe reckte, dann den anderen nur knapp danach und sich schließlich die linke Hand vor den Mund hielt, um herzhaft zu gähnen. Er trug an diesem Abend einen bedruckten Merch-Sweater, altmodische, schwarze Cord-Hosen und helle Reeboks an den Füßen. „Lass uns noch Kaffee auf dem Weg mitnehmen", schlug er vor.
Von seiner Müdigkeit angesteckt, nickte ich. „Guter Plan."

Mika musterte mich von der Seite.
„Sicher, dass dieser Joseph null Signale gesendet hat?"
„Hundertprozentig."
„Komischer Typ."
„Das kannst du laut sagen. Findest du das nicht auch super dreist von ihm? Er taucht ohne Vorwarnung in der Bar auf, baggert mich an und posaunt durch den halben Laden, ich hätte was mit einem Star." Den letzten Teil meiner Tirade setzte ich in imaginäre Anführungszeichen.
„Hast du ja auch irgendwie", zwinkerte Mika mir zu.
„So ein Blödsinn", widersprach ich.
„Du wirst rot wie 'ne Tomate, Pari", schmunzelte er.
„Gar nicht wahr." Schmollend verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Du bist volle Kanne verknallt in Dag, ich seh's dir an der Nasenspitze an", reizte er mich weiter.
„Psst!", machte ich leise und deutete auf die vielen anderen Fahrgäste.
„Du bist niedlich." Mika wuschelte mir durch die Haare.
„Ich hasse dich."
„Gar nicht wahr", schraubte er seine Stimme hoch.
„Du bist ein schlechter Imitator, lass es einfach."
„Und du bist eingeladen. Dein Kaffee geht auf mich", wechselte er einfach das Thema.

„Rede keinen Unsinn, Mika-Pika."
„Ich weiß, dass deine Eltern die Unterhaltszahlungen eingefroren haben", offenbarte er. „Diskutier gar nicht erst mit mir über die paar Euro."
„Iara hat's dir gesagt, oder?", hakte ich monoton nach.
„Ja. Tut mir leid, dass es deine Schwester so schwer zu Hause hat." Ich biss mir auf die Unterlippe.
„Ich wünschte, ich wüsste, was mit meinen Eltern los ist. Für mich waren sie immer da, aber Laya behandeln sie wie einen Bastard. Es ist schrecklich, was sie gerade alles abbekommt. Unsere Eltern haben mich verhätschelt, aber Laya vernachlässigen sie total."
„Das ist echt beschissen ..." Mika starrte ins Leere.

„Woran denkst du?", fragte ich.
„Bloß an was, was meine Mama mir erzählt hat. Sie hatte Wochenbettdepressionen nach meiner Geburt. Mein Vater ist vor seiner Verantwortung weggelaufen und sie war ganz allein mit mir."
„Aber mein Vater hat uns nie verlassen und meine Mutter hatte weder eine Wochenbettdepression, noch war es so, dass sie keine Unterstützung gehabt hätte nach Layas Geburt", meinte ich verständnislos.
„Oma und Opa haben Mama auch mit mir geholfen, sie hat sich trotzdem alleingelassen gefühlt."
„Laya ist ihre Tochter, meine Eltern haben sich bewusst dafür entschieden, sie gemeinsam in die Welt zu setzen. Man sollte keine Kinder bekommen, wenn man nicht bereit ist, sich um sie kümmern", äußerte ich meine Meinung.

„Meine Mutter und mein Vater haben sich auch bewusst für ein Kind entschieden. Eins der wichtigsten Argumente für ein Baby, das Mama am Ende auch überzeugt hat, war ja, dass sie in meinem Vater jemanden gefunden hatte, auf den sie zählen konnte und der sie nicht hängenlassen würde. Sie war sich sicher, dass sie mich wollte. Dann ist mein Vater abgehauen, als sie im siebten Monat mit mir schwanger war und sie hat ihre Entscheidung angezweifelt. Sie sagt, sie hat es nie bereut, aber plötzlich ohne denjenigen dazustehen, der dieses Kind mit ihr großziehen wollte, war wie ein Schlag ins Gesicht für sie."

„Okay, das verstehe ich", gab ich nach. „Deine Mutter ist eine starke Frau. Nicht jeder erholt sich von solchen Schicksalsschlägen."
„Ihre Karriere auf dem Immobilienmarkt geht sogar richtig steil", lächelte er stolz.
Ich wäre auch gern stolz auf meine Eltern gewesen. Beruflich hatten sie einiges erreicht: Mein Vater war ein wirklich kompetenter Arzt und meine Mutter eine anerkannte Altertumswissenschaftlerin, beiden waren schon Preise auf ihrem jeweiligen Fachgebiet verliehen worden. Nur den Goldpokal für die beste Kindererziehung würden sie auf keinen Fall einheimsen.

Vor der Location schlürften wir genüsslich unseren Kaffee. Mika hatte uns in eine Gruppe von Fans integriert, die er auf ehemaligen SDP-Konzerten kennengelernt haben musste. Das Wetter war gnädig mit uns. In den letzten Tagen waren die Temperaturen ein paar Grad gestiegen und die Frühlingssonne, die mittags hin und wieder schüchtern durch die dichten Wolken lugte, wärmte mich und gab mir Kraft. Iara hatte angedeutet, dass meine gute Laune genauso gut damit zusammenhängen könnte, dass die Tour der Jungs bald vorbei und Dag ab heute wieder in Berlin war, woraufhin ich versucht hatte, meine Verlegenheit mit einem schmalen Lächeln zu überspielen. Doch Iara wäre nicht meine beste Freundin, hätte sie mich nicht sofort durchschaut.

Natürlich freute ich mich seit unserem ersten und bisher einzigen Telefonat, ihn endlich wiederzusehen, meine Hoffnungen hielt ich aber vorsorglich klein. Ich mochte Dag und war inzwischen auch bereit, mir das offen einzugestehen. Um sagen zu können, auf welche Art ich ihn mochte, abgesehen von der offensichtlichen körperlichen Anziehung, die zwischen uns wirkte, war es allerdings noch viel zu früh. Wir kannten einander kaum und das galt es erstmal zu ändern, bevor ich mich kopfüber ins nächste romantische Desaster stürzen würde.
Als die Menschenmenge sich schleppend in Bewegung setzte, bot Mika mir seinen Arm an und ich hakte mich dankbar bei ihm unter.
„Ciao, wir sehen uns drinnen", nickte er seinen Freunden zu. Ich winkte den Jungs und Mädels zum Abschied, ehe Mika und ich auf den separaten Eingang für geladene Gäste zusteuerten, wo wir unsere Personalausweise vorlegten und unsere Namen abgehakt wurden.
„Das sind eure VIP-Pässe", erläuterte der minijobbende Student im Kassenhäuschen und reichte uns zwei Karten raus, die an grauen Schlüsselbändern befestigt waren. „Zeigt die nach dem Konzert einem der Security-Typen hinter der Absperrung zur Bühne. Der wird euch in den Backstage-Bereich begleiten. Viel Spaß."

Überall, wo ich hinsah, erblickte ich Menschen über Menschen, als ich die Halle betrat. Manche trugen bunte, verrückte Shirts, andere waren monochrom gekleidet und die Altersdurchmischung des Publikums war vielfältiger als ich vermutet hätte.
Fasziniert schob ich mich an Mikas Seite durch die Menge. Ein Mädchen etwa in meinem Alter knickte mehrere Knicklichter auf einmal, rechts von uns küsste sich ein glückliches Pärchen, weiter vorn, wo es gen Bühne ging, exten drei Jungs zusammen ihre Shots.

„Da sind sie." Mika zog mich scharf mit sich nach links und ich fand mich neben den Freunden meines Mitbewohners wieder, deren Namen mir ungünstigerweise vor einigen Sekunden wieder entfallen waren.
„Bier?", sprach mich einer mit abrasierten braunen Haaren und dunklen Augen an.
„Gern", bejahte ich sein knappes Angebot und nahm ihm den Becher aus der Hand.
Während ich nach meinem Portemonnaie in meiner Tasche kramte, legte Mika einen Arm um meine Schulter und beugte sich ein Stück zu mir runter.
„Lass stecken", flüsterte er mir ins Ohr.
„Hör auf, du hast schon meinen Kaffee bezahlt", widersprach ich.
„Sch", legte er mir den Zeigefinger auf die Lippen. Skeptisch hielt ich die Hände still und hängte mir die weiße Crossbody-Clutch mit goldenen Akzenten über die Schulter.
Ich ließ ein zweites Mal den Blick schweifen. Auf meinem letzten Konzert war ich mit Feli gewesen, eine kleine unbekannte Indie-Band hatte in einem Jugendclub gespielt. Das hier war eine ganz andere Nummer.

Nachdem ich mich an die Lautstärke der Musik gewöhnt hatte, die mit dem Abzug der Vorband und dem Auftauchen von Dag und Vincent nochmal hochgeschraubt worden war, spürte ich exakt das, was Iara und Mika an Konzerten so lieben. Ich fühlte die Musik wortwörtlich. Der Bass durchdrang meinen Körper. In der Masse von Fans kam ich mir unbedeutend vor, aber auf eine gute Art und Weise – ich fühlte mich frei.

„Soll ich dich huckepack nehmen?!", brüllte Mika mir ins Ohr.
„Ich habe ein Kleid an!", schrie ich auf Zehenspitzen zurück.
„Dann hast du hoffentlich auch schöne Unterwäsche an!" Er grinste und hob mich hoch. Ich kreischte spitz auf, doch mein Schrei wurde erstickt von Erstaunen. So an Mikas Rücken gepresst überblickte ich alles, beinah wie Simba im König der Löwen. Vor mir saß ein Mädchen mit bunt gefärbten Haaren auf den Schultern ihres Freunds; etwa auf unserer Höhe half ein blonder Wikinger-Verschnitt mit Vollbart einem Milchbubi im Moshpit auf die Beine. Egal, wo ich hinsah, tanzten und jubelten die Leute SDP zu. Vincent, der gerade seine Strophe sang, schien voll in seinem Element zu sein, genau wie Dag, der neben ihm stand und Gitarre spielte. Ich war meterweit entfernt von ihnen, doch konnte ungebremst spüren, wie die beiden vor Enthusiasmus glühten. Die Freude, die sich in ihren Gesichtern spiegelte, übertrug sich auf ausnahmslos jeden im Saal. Sogar auf mich. Alles kribbelte, bis in die Fingerspitzen konnte ich es fühlen.

Ich begann in dem Rhythmus mit zu klatschen, den Vincent auf der Bühne vorgab und lauschte dem Publikum, das den Refrain von ‚Lied für die Fans von den anderen Bands' mitgrölte.
In meiner Gedankenwelt tat sich ein Paralleluniversum auf, in dem Dag und ich uns über die Menge hinweg romantisch in die Augen schauten. Das passierte nicht, aber die Vorstellung reichte mir aus. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen klopfte ich Mika kräftig auf die Schulter, damit er mich wieder runterließ.
„Krass, oder?!", fragte er, als er mich auf dem Boden absetzte.
„Übertrieben!", nickte ich eifrig. „Das ist so cool!"
„Sie sind live echt heftig!" Eins der Mädels aus unserer Runde vorhin hängte sich an seinen Oberarm und zerrte ihn mit sich in Richtung Moshpit. Mein Kumpel lächelte mir entschuldigend zu, dann verschluckte ihn die Menschenmenge.

Ich entdeckte Mika erst, als die meisten aus der Halle rausströmten. Er lachte über etwas, das Ellie – so hieß sie! – gesagt hatte. Ich winkte dem Rest der Crew, die freundlicherweise gewartet hatte, bis ich meine Begleitperson wiedergefunden hatte, was ja jetzt der Fall war. Rasch huschte ich zu meinem Freund. Ellie schob schmollend die Unterlippe vor.
„Haut ihr ab?", fragte sie.
„Ja, wir hauen rein, sind noch verabredet", meinte Mika. Sie strahlte uns an.
„Schmeißt jemand eine Home in der Nähe? Könnte ich da nicht mit euch hingehen?"
„Wir bekommen Ärger, wenn wir dich mitnehmen", erwiderte Mika mitleidig. „Ist nur für geladene Gäste. Im Pearl geht's aber ab, wenn du noch was suchst. Hat meine Freundin mir gerade geschrieben", lächelte er.
„Du hast eine Freundin?", rutschte es Ellie raus und ihre Wangen färbten sich feuerrot. Mika zuckte die Schultern. „Seit vier Monaten. Sorry."
„Hast du mit ihr geflirtet?", fragte ich anklagend.
„Nein." - „Ja." Die beiden sahen einander an und ich schaute vom einen zur anderen.
„Klärt das eventuell kurz, ich gehe vor, okay?"

Dag sah mich einfach schweigend an, als ich durch den Vorhang in den Backstagebereich trat.
„Zwerg Nase!" Breit grinsend kam Vincent auf mich zu und schloss mich kurz in die Arme. Er hatte mich tatsächlich angerufen, gleich am nächsten Tag und mir erklärt, dass er meine Entschuldigung akzeptierte, wir das Thema aber trotzdem aufrollen müssten, sobald er wieder in Berlin wäre. Doch er wirkte aktuell weniger in der Verfassung für ein ernstes Gespräch, als ich mir ausgemalt hatte. „Cool, dass du da bist!", befand er stattdessen laut. „Magst du was trinken?!"
„Du musst mich nicht anbrüllen, aber ja, ich würde gern was trinken", lächelte ich.
„Oh, sorry", entschuldigte Vincent sich. „Alk? Oder bist du heute langweilig?"
„Ein Bier", antwortete ich.
„Also nur ein bisschen langweilig", schmunzelte Vincent, doch mein Blick hing bereits an Dag, der sich am Drummer und dem Bassisten vorbeischob, um unmittelbar vor mir stehenzubleiben.

Ich lächelte zaghaft. Er erwiderte es nicht, sondern zog mich wortlos in seine Arme und hielt mich dort. Tick, tack, tick, tack ... Sekunde um Sekunde verstrich. Er hatte gerade erst geduscht. Ich vergrub meine Nase in seinem Shirt und schmiegte mich an ihn. „Es tut gut, dich zu sehen", flüsterte er mir irgendwann ins Ohr.

„Ey, Pari", rief Vincent. „Lieber Budweiser oder Schöffi?"
„Budweiser", räusperte ich mich. Vincent gab mir eine Flasche. „Und du? Was is' mit dir?", wandte er sich an Dag.
„Ich hab noch, danke."
„Nein, Mann", lachte Vince. „Ich meine, ob du glücklich bist, jetzt, wo sie doch noch aufgetaucht ist." Dag schmunzelte, trank aber demonstrativ einen Schluck Bier.
„Na schön, Dickerchen. Ick lass euch ma' in Ruhe, wa'?"

Das Leben ist ein Rockkonzert

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top