13. Kapitel: "Irgendwann verstehst du mich."
„Hallo?"
„Hey ..."
„Pari?"
Ich schluckte meinen Stolz runter.
„Ja, ich bin's."
„Es ist kurz vor zwei, bist du besoffen oder so?" Seine Worte versetzen mir einen Stich, aber was hatte ich auch anderes erwartet?
„Nein, bin ich nicht. Meine Schicht in der Bar hat gerade geendet."
„Aha."
„Dag, ich –" Ich brach ab. Was sollte ich denn jetzt sagen? Ich hätte mir das auf dem Heimweg gründlicher überlegen sollen.
„Pari, wenn du angerufen hast, um mir was vor zu stottern, dann lass es bitte einfach bleiben."
Fest presste ich meinen Kiefer zusammen. Die Wärme war aus seiner tiefen Stimme verschwunden. Ich wusste, wieso; ich war auch nicht ganz unschuldig daran. Die Sekunden verstrichen zäh und mir fiel keine Antwort ein. Nichts von dem, was ich mir von der Seele reden wollte, passte in ein Telefonat, und ich verstand ihn sogar: Dieses Gespräch hätte längst stattgefunden haben sollen, wozu also überhaupt noch höflich tun? Trotzdem bemühte ich mich, rational zu klingen.
„Ich hätte mich eher bei dir melden müssen", sah ich meinen Fehler ein.
„Die Erkenntnis kommt dir ja reichlich spät." Der Satz brach mir fast das Genick.
„Aber besser spät als nie ...?", hauchte ich fragend. Schweigen. Er nahm einen tiefen Atemzug.
„Was willst du?"
„Ich möchte mich mit dir treffen, sobald du wieder hier bist", fiepste ich. Einen Kerl darum zu bitten, war tatsächlich genauso unangenehm, wie ich mir das immer ausgemalt hatte. Die Gewohnheit packte mich mit eisernen Klauen und würgte mich, bis ich ihr nachgab. „Freundschaftlich", schob ich schwach hinterher.
„Freundschaftlich? Freunde ficken nicht", bekam ich trocken von ihm zurück.
„Bist du besoffen?" Ich schämte mich fast, dass ich nach diesem letzten Strohhalm angelte und nicht einsehen wollte, dass er zurecht wütend war.
„Nein, ich bin angepisst", stellte er klar.
„Gut, dass du's sagst, hätte ich sonst gar nicht gemerkt", murmelte ich. Dag schnaubte.
„Du rufst mich mitten in der Nacht nach einem Auftritt an. Ich bin fix und fertig."
„Okay!", wurde ich unabsichtlich unfreundlicher. „Es tut mir leid."
„Was genau?"
„Alles. Mein Tonfall gerade; dass ich dich nicht schon früher angerufen habe, aber das ist im Moment auch egal. Du sollst nur wissen, dass es mir eher schwergefallen ist, dich nicht anzurufen. Im Dezember schon; und dann nach der Nacht-und-Nebel-Aktion, bei der wir Vincent nach Hause gebracht haben, ging es mir noch dreckiger damit. Ob du's glaubst oder nicht: Dich nicht anzurufen und nicht mit dir zu reden, war schwerer als mich jetzt - in diesem beschissenen Augenblick - normal mit dir zu unterhalten, obwohl du mich so herablassend anpampst. Du hast allen Grund wütend auf mich zu sein, weil ich dir vielleicht Hoffnungen gemacht habe. Aber ich vermisse euch und ich vermisse dich und ich kann mich dagegen nicht wehren, ich bin zu schwach dazu." Grenzenlose Idiotie war nebst der erträglicheren Unscheinbarkeit meine zweite bescheuerte Superkraft. Dag setzte mehrfach zu einer Antwort an, bis er sagte: „Ich rufe dich gleich über Facetime an, okay?"
„Okay."
Das Klicken in der Leitung markierte sein Auflegen. Ich schloss die Augen und atmete aus. Meine Hände sanken samt Handy auf meine Brust. Was war das denn, Pari?
Als ich die Vibration spürte, nahm ich sofort ab. Dags Gesicht erschien im Display. Ungelenk fuhr ich mir durch die nassen und dadurch doppelt so schweren Haare. „Wundere dich nicht, ich war gerade noch duschen." Das hatte ich gebraucht, um den Kopf wenigstens einigermaßen freizukriegen. Er hielt selbst ein Handtuch in der Hand. „Du offenbar auch", nuschelte ich eingeschüchtert und versuchte krampfhaft, ihn mir dabei nicht bildlich vorzustellen.
„Du bist nach dem Duschen noch geschminkt?", fragte er mit hochgezogener Augenbraue.
„Das sind nur die Reste vom Tag. Ich schminke mich gleich ordentlich ab, bitte keine Kommentare zu den Panda-Augen, ich weiß, wie scheiße ich aussehe. Ich wollte dich einfach anrufen", erwiderte ich wahrheitsgetreu.
„So dringend ist das für dich, hm?" Ich sah, wie er auf ein schmales Bett fiel.
„Hör bitte auf damit", bat ich ihn.
„Du vermisst mich also." Er schnappte sich ein schwarzes T-Shirt, das zerknüllt neben seinem Kopfkissen gelegen hatte und ich begriff, dass das, was ich bis dato für ein tiefausgeschnittenes Tank Top gehalten hatte, in Wahrheit sein nackter Oberkörper war. Dag zog das Shirt mit Brandflecken am Saum an. Immerhin ging mein rasender Puls ganz rasch wieder runter. „Du vermisst uns", zitierte er mich indirekt. „Warum hast du Vincent dann nicht vor mir angerufen? Ihr seid doch inzwischen Best Friends, die sich fast täglich schreiben." Er klang kühl und ich trug inzwischen einen erbitterten Kampf mit mir selbst aus. Ein Teil von mir wollte auflegen, ein anderer wollte ihm sagen, dass ich mir selbst im Weg stand und viel mehr in Bezug auf ihn fühlte, als ich mir bisher eingestanden hatte.
„Ich habe ihn gestern sogar angerufen und ihn zur Schnecke gemacht, das tut aber nichts zur Sache. Um Vincent geht's doch hier gar nicht", äußerte ich leise meine Meinung.
„Das ist die erste intelligente Sache, die du bisher gesagt hast." Ich presste die Lippen fest aufeinander.
„Bitte", begann ich leidvoll. „Dieses Gespräch ist schon furchtbar genug und wenn ich gleich anfange zu heulen, wird es nur noch schlimmer. Für uns beide."
Dag seufzte und kratzte sich am Kinn. Ich konnte erkennen, dass er im Schneidersitz auf der Matratze hockte und sich gegen die Wand lehnte.
„Du kannst mich nicht in irgendeine deiner Schubladen stecken", erklärte er. „Wir können nicht einfach irgendwas sein, weil dir genau das am besten in den Kram passt. Wir können nur handeln, und am Ende des Tages richtet unser Verhalten darüber, wer wir sind ... Ich kann nicht auf Knopfdruck mit dir befreundet sein; entweder ergibt sich das oder es geht in eine andere Richtung. Aber dazu musst du dir überhaupt erstmal die nötige Offenheit antrainieren. So, wie es momentan zwischen uns ist, entwickelt sich rein gar nichts, weil du dem Ganzen keine Chance gibst. Wir stecken fest." Er sah mich an und ich starrte stumm in seine blauen Augen, dann fuhr er fort. „Mal ehrlich: Dieses ewige Katz-und-Maus-Spiel mit dir geht mir auf die Nerven –"
„Schon gut, ich hab's ja kapiert", unterbrach ich ihn. „Es war dumm und naiv von mir, dir einfach zu glauben, als du meintest, du würdest es mir überlassen, wann ich mich melde."
„Das ist die ewige Diskrepanz zwischen sagen und meinen", rechtfertigte er sich. „Hätte ich dir lieber ein Ultimatum stellen sollen, um mich direkt bei dir ins Aus zu katapultieren?"
„Du hast mir doch sowieso ein Ultimatum gestellt", protestierte ich. „Tu doch nicht so scheinheilig. Du hast eine Frist festgesetzt, ohne mich einzuweihen. Bis wann hätte ich mich bei dir melden müssen, damit du mich jetzt nicht so von oben herab behandelst? Wie viel Zeit hättest du mir tatsächlich zugestanden? Eine Woche? Dein gesamtes Gelaber, von wegen ich könnte dich auch erst im nächsten Jahrzehnt anrufen, das waren doch bloß leere Worte."
Perplex legte Dag die Stirn in Falten.
„An dem Abend der Einweihungsparty waren das keine leeren Worte. Kannst du dir nicht denken, was mich wirklich verletzt hat? Ich konnte dir die Freiheit lassen, mich meinetwegen auch erst im nächsten Jahrzehnt anzurufen, weil ich wusste: Egal, ob du mich morgen oder in sechs Jahren erst kontaktierst - Ich hätte dich nie vergessen. Du hast dich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich habe seit eurer Party oft an dich gedacht, aber dass ich jeden einzelnen Tag an dich denken muss, das hat angefangen, nachdem du bei Vincent auf der Couch neben mir eingeschlafen bist. Mann, ich steh' auf dich! Und in der Nacht war ich mir ziemlich sicher, dass es dir mit mir ähnlich geht. So war das zumindest, bis ich aufgewacht bin und du verschwunden warst. Keine verpassten Anrufe von dir, keine Nachrichten, gar nichts; und dann erzählt mir Vincent 'ne Woche später, er hätte für uns ein Treffen mit dir klargemacht. Da kam ich mir das erste Mal richtig verarscht von dir vor. Weißt du, wie scheiße es war, mich dauernd mit dem Gedanken rumzutragen, dass die Chemie, die ich zwischen uns gespürt hatte, eventuell gar nicht echt ist?"
Natürlich wusste ich, wie scheiße das war. Ich hatte mir das Drama selbst eingebrockt und nun musste ich auch mit den Konsequenzen leben. Zitternd wischte ich mir über die feuchten Augen. Jeder Muskel meines Körpers war angespannt. Es kostete mich all meine verbleibende Kraft, nicht in Tränen auszubrechen. Ich hatte es versaut. Mal wieder.
„Hey, weinst du?", erkundigte sich Dag besorgt.
„Nein", widersprach ich erstickt. „Ich bin kurz davor, aber ich weine nicht." Wieder tupfte ich mit dem Ärmel meines Longsleeves über meine mascaraverschmierte Augenpartie. „Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich diese unerklärliche Angst habe. Angst vor allem, was neu ist. Angst vor jeder Entscheidung." Dag sah mir in die Augen und für den Moment vergaß ich, dass es virtuell war.
„Das geht vorbei", tröstete er mich. „Deine Ängste sind bloß Hirngespinste. Du hast Angst vor etwas, das dir nur passieren könnte. Fang an zu leben, Pari. Du verpasst echt was." Ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals. „Mich zerreißt es, dich so zu sehen", sagte er leise. „Ich wünschte, ich könnte dich jetzt umarmen."
„Sag sowas nicht", schniefte ich.
Dags Miene wurde verzweifelter.
„Hör mal, wenn du dich weiter mit Händen und Füßen dagegen wehren willst, was du empfindest, und du dich meinetwegen schwach fühlst, dann sollten wir uns in Zukunft vielleicht wirklich aus dem Weg gehen. Ich akzeptiere das. Aber ich verstelle mich nicht für dich, damit kommen wir jetzt auch nicht voran." Ich kniff die Augen zusammen.
„Ist das irgendwie deine Masche?"
„Bitte was?"
„Gibst du dich vor jeder so verletzlich, damit du sie früher oder später brechen kannst?"
„Ich gebe mich nicht so, ich bin so", verbesserte er mich. „Wer sind die, und warum sollte ich sie brechen wollen? Die Frauen? Hast du noch mehr wüste Unterstellungen in petto?"
„Vincent hat mir dieses Bild von dir mit der Blondine geschickt, du hast gar keinen Grund beleidigt zu sein. Ich will vor Mikas Geburtstag reinen Tisch mit dir machen, das ist nur fair", platzte es aus mir heraus.
„Vincent hat dir ein Bild von mir mit einer Blondine geschickt?", hakte er verwirrt nach. „Und ... – Und du hast mich nur angerufen, weil du dachtest, ich würde mich sonst auf dem Geburtstag deines Kumpels mit dir streiten?" Seine Stimme zitterte vor Ärger. „Das ist doch ein Scherz, oder?"
„Ach, komm schon, Dag", stöhnte ich genervt. „Das wäre böse ausgegangen, wären wir uns dort begegnet, ohne vorher nochmal miteinander gesprochen zu haben."
„Das stimmt doch überhaupt nicht! Ich hätte dich auf der Party halt gemieden, aber als ob ich dir auf seinem Geburtstag vor all den Leuten eine Riesenszene deswegen mache. Und wie war das jetzt mit diesem dubiosen Foto, das Vince dir geschickt hat?"
„Gestern hat er mir ein Bild von dir und einer Frau geschickt, du hast deinen Arm um ihre Hüfte gelegt", antwortete ich ihm vorwurfsvoll. „Ihr habt ziemlich vertraut miteinander gewirkt." In Dags Hirn begann es zu rattern.
„Meinst du - ...? Oh, meine Fresse." Sein Hinterkopf stieß gegen die Holzwand. „Was fährst du dir denn für üble Filme? Dieses Mädchen und ich wirken so vertraut miteinander, weil wir es sind. Das ist eine uralte Freundin von Vincent und mir", klärte er das Missverständnis auf. „Das ist diejenige, die uns einander vorgestellt hat und der wir eine Menge zu verdanken haben, wenn du's genau wissen willst. Sie heißt Marlene und ist seit Jahren verheiratet. Denkst du ich vögle 'ne verheiratete Frau?"
„Ich kann doch nicht wissen, wer das ist und außerdem geht es mich nichts an, wen du flachlegst, das ist deine Sache", tue ich es ab.
„Im Ernst? Was für Kerle hast du denn in deinem Leben kennengelernt? Vergebene Frauen sind absolut tabu, sowas macht man als echter Mann nicht."
„Was ist denn ein echter Mann?", konterte ich bissig.
„Ein echter Mann ist dasselbe wie eine echte Frau und die echten drölfzigtausend anderen Geschlechter – ein Mensch mit Anstand."
„Gut gerettet. Von denen kenn' ich tatsächlich kaum welche", gab ich zu. Dag lachte und diesmal war es echt. Es war dieses warme, wundervolle Lachen.
„Wow, das tut mir leid für dich."
„Mir auch gerade", seufzte ich und lächelte zögerlich. Er erwiderte es.
Das war meine Chance.
„Hey, ähm ... Wir haben uns gerade hauptsächlich angezickt, weil wir vorschnelle Schlüsse über den anderen gezogen haben. Meinst du, wir könnten mal versuchen, diese blöden Vorurteile auszuräumen? Indem wir einander besser kennenlernen zum Beispiel?"
Erleichterung breitete sich in mir aus, als ich ihn grinsen sah.
„Das wäre cool", befand er. „Am ersten März feiern wir unseren Tourabschluss in Berlin. Ich kann dich auf die Gästeliste setzen. Mika wird ohnehin da sein, er nimmt dich bestimmt mit."
„Oder ich ihn, wie man's nimmt", lachte ich. „Wenn ich nämlich Pech habe, verdonnert er mich, ihn zum Konzert und wieder zurück zu kutschieren, damit er in Frieden saufen kann."
„Du könntest nein sagen", erinnerte er mich. „Dann zahle ich ihm das Taxi."
„Ihm zahlst du also ein Taxi? Wirst du mir je ein Taxi zahlen?", lachte ich.
„Höchstens eins, das dich auf direktem Weg zu mir bringt", flirtete er ungeniert mit mir und ich konnte mein Grinsen nicht vor ihm verstecken. „Deine Grübchen sind süß", flüsterte er.
„Ganz langsam, Tiger", lächelte ich mit einer Selbstsicherheit, die ich mir gar nicht zugetraut hätte.
„Ich sollte eh auflegen. Ist spät geworden." Ich warf einen Blick auf den altmodischen Wecker, der neben mir im Regal stand, und sah, dass er Recht hatte. Doch mich plagte weiterhin das schlechte Gewissen jemand anderem gegenüber.
„Kannst du Vincent bitte ausrichten, dass er mich anrufen soll, wenn er zwischendurch mal Zeit hat?", wandte ich mich mit einer letzten Bitte an ihn.
„Alles okay zwischen euch?", fragte Dag.
„Wir haben uns gezofft", sagte ich ihm die Wahrheit. „Und wo ich gerade schon dabei bin, Entschuldigungen rauszuhauen ..." Ich lächelte traurig.
„Ich sag's ihm."
„Danke. Ich will dich nicht länger vom Schlafen abhalten. Bis dann."
„Träum was Schönes."
„Ich würde gern was Schönes träumen, aber wahrscheinlich träume ich von dir", neckte ich ihn.
Er lachte, bevor er mich nur noch anschaute, als wäre ich das Kostbarste für ihn.
Ich kannte diesen Blick. Dieser Blick von Männern hatte mir das Herz gebrochen, mehr als einmal schon.
Ich räusperte mich.
„Ich lege auf, okay? Wir sehen uns."
„Ja, klar und – Pari?"
„Hm?"
„Ich vermisse dich auch."
„Schlaf gut", sagte ich und legte auf.
Total verschlossen
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