11. Kapitel: "Na klar rufe ich an, aber ganz bestimmt nicht dich."

„Hast du ihn angerufen?"
„Wird das jetzt dein täglicher Ersatz für das Guten Morgen, das mir eigentlich zusteht?"

Ich griff nach dem Joghurt-Eimer, doch Iara schnappte mir den Hauptbestandteil meines Frühstücks vor der Nase weg.
„Ich weiß nicht, was dein Problem ist, Pari." Sie legte den Deckel beiseite und langte mit einem großen Esslöffel in den Sahnejoghurt griechischer Art. Ohne ihre grünen Augen von mir abzuwenden, steckte sie sich den Löffel in den Mund. Sie schien auf eine Antwort zu warten, während sie mir gleichzeitig einen stummen Vorwurf machte. Sowas konnte wirklich nur meine beste Freundin. Da ich an den Joghurt nicht mehr rankam, entschied ich, mich erst um das Obst zu kümmern. Ich griff an Iara vorbei und angelte einen Apfel aus der Schale, die hinter ihr stand. „Komm schon, Süße", versuchte sie mich mit weicher Stimme zu beeinflussen. „Du musst mir das genauer erklären. Du hast ein Problem damit, dass Dag auf dich steht, weil du selbst auf ihn stehst?"

Ich taxierte den Apfel und strich mir wortlos eine Haarsträhne hinters Ohr, bevor ich ihn mit unserem schärfsten Küchenmesser halbierte. Aus ihrem Mund klang es zugegebenermaßen ziemlich bescheuert, was ich ihr vor ein paar Wochen in Bezug auf Dag mitgeteilt hatte.
„Ja ...", erwiderte ich zögerlich, aber da gingen mir die Worte auch schon wieder aus.
„Fühlt es sich denn an, als würdest du das Richtige tun?", fragte Iara ernst.
„Du weißt am besten, dass es sich für mich nie anfühlt, als würde ich das Richtige tun." Schmach und Schande stand mir ins Gesicht geschrieben, als ich zu ihr aufblickte.
„Dabei machst du so vieles richtig." Sie legte ihre Hand auf meine, bis ich das Messer kraftlos aufs Schneidebrettchen fallen ließ. Ich umarmte sie fest. „Musst du nicht arbeiten oder so?", flüsterte ich.
„Nein, jetzt muss ich dich erstmal umarmen."

Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Iara duftete wie ihr Freund, was kein Wunder war, denn sie trug seinen Pullover. Trotzdem hatte sie ihr Parfüm auf seinen Hoodie gesprüht. Ich wusste nicht, weshalb Iara den Geruch von Gras so sehr mochte, dass sie Geld für ein Eau de Toilette ausgab, das ihn imitierte; aber dieser Duft gehörte zu ihr und ihn einzuatmen, tröstete mich auf eine seltsame Art. Es erinnerte mich daran, dass sie stets an meiner Seite war und dass sie die Entspannung in mir hervorrief, die manche nur im Drogenrausch fanden.

 „Je länger du es hinauszögerst, desto übler wird er es dir nehmen, das ist dir bewusst, oder?", sprach Iara meine innere Angst an.
„Das ist mir bewusst." SDP waren bereits drei Wochen auf Tour. Ich hätte Dag noch vor ihrer Abreise anrufen können, stattdessen hatte ich Vincents Abschiedsnachricht ignoriert: ein Memo, in dem er mir sein herzliches Beileid ausrichtete - meiner offensichtlichen Inkompetenz in Liebesdingen wegen. „Aber vor der Einweihungsparty sind wir einander auch nie begegnet. Es sollte eigentlich kein Problem sein, ihn nie wieder zu sehen und die ganze Sache zu vergessen."

„Und wen lade ich dann an meinem Geburtstag wieder aus? Ihn oder dich?"

Irritiert blickte ich hinter mich und auch Iara fuhr zu Mika herum.
„Du hast Dag eingeladen?", fragte sie.
„Ich habe Vince und ihn eingeladen und sie haben beide zugesagt." Mein Mitbewohner schüttete Schokopops in eine leere Schüssel und sah mahnend zu mir rüber. „Ich lade weder meine Lieblingsband noch eine meiner zwei besten Freundinnen aus. Das kannst du knicken, Pari. Engagier dich irgendwie mit ihm."
„Arrangieren, Schatz", korrigierte Iara.
Schatz mich nicht", gähnte er grummelig.
„Dann rede ordentlich", konterte sie sofort. „Wie hast du sie dazu bekommen, dir zuzusagen?"
„Mann, die haben dank dir doch ohnehin jedes Jahr bei mir angerufen. Nachdem sie zur Einweihungsparty hier waren, dachte ich, es ist vielleicht langsam mal angemessen, dass sie persönlich auftauchen, um mir zu gratulieren. Is' ja nicht so, dass die davon gar nichts hätten, immerhin gibt's Freibier."
„Deswegen feierst du dieses Jahr erst so spät", realisierte Iara. „Du wolltest abwarten, bis sie mit ihrer Tour durch sind."
„Klar, wann bietet sich mir dazu schon je wieder die Gelegenheit?"

Ich starrte Mika an.
„Im Ernst jetzt?" Er zuckte bloß die Schultern.
„Logisch. Es ist zu früh morgens für Humor."
„Elhamdurellah", murmelte ich. Mir wurde schwindlig und ich musste mich setzen. Iara strich mir beruhigend über den Arm.
„Was denn?", herrschte Mika mich an. „Kann ich was dafür, dass du deinen Arsch bei Dag nicht hochkriegst?" Iaras Augen funkelten strafend in seine Richtung.
„Wow, wenn's dir zu früh für Humor ist, dann wohl auch für jegliche Form von Einfühlsamkeit."

Mikas Gesichtsausdruck wechselte von genervt zu schuldbewusst. „Ey", wandte er sich sanfter an mich. „Tut mir leid, okay?" Er schämte sich tatsächlich für seinen Tonfall, es war ihm anzusehen.
„Was mache ich denn jetzt?", stieß ich verzweifelt aus.
„Du rufst ihn an", meinte Iara. Mika nickte gewichtig.
„Außer du willst eiskalte Stimmung auf meiner Geburtstagsfete verbreiten, und das würde ich dir übelnehmen."

„Ich dachte, ich muss ihn vielleicht nie wiedersehen", hauchte ich fassungslos. Als Mika auflachte erkannte ich, dass ich wieder einmal falsch gelegen hatte. „Warum seid ihr Männer immer so scheiße kompliziert?!", meckerte ich ihn stellvertretend für seine gesamte Spezies an.
„Weil ihr Frauen so einfach seid oder was?"
„Hey!", unterbrach Iara die Debatte. „Fangt nicht an zu streiten. Ich muss los und wenn ich nachher heimkomme, soll keiner von euch ausgezogen sein."
„Klar, wir arrangieren uns." Mika umarmte Iara kurz, die daraufhin auch mich nochmal in die Arme schloss.

Ich schielte auf mein Handy.
„Ich könnte seine Nummer löschen."
„Spinnst du? Und dann lügst du ihn an, wenn er fragt, warum du ihn nicht angerufen hast oder wie stellst du dir das vor?" Mika war noch immer der Junge, der mir freundschaftlich am nächsten stand. Seine Perspektive war eine ganz andere.
„Ich habe ihn am Haken, oder?", wollte ich wissen. „Oh, scheiße, ich habe ihn am Haken", flüsterte ich. Mir war die gesamte Situation fürchterlich unangenehm. Dag verdiente es nicht, dass ich ihn so in der Luft hängen ließ.

„Es ist auf jeden Fall uncool, dass du ihm nicht sagst, was Phase ist. Du willst keine Beziehung, stimmt das?" Ich nickte. Eine Beziehung war momentan das letzte, was ich gebrauchen konnte; in eine gesunde Beziehung müsste ich Zeit und Mühe investieren. Dazu fehlte mir die Muße. „Aber allein sein macht dir Angst." Wieder nickte ich. Iara hatte Recht: allein sein und einsam sein fühlten sich für mich kaum unterschiedlich an. „Wieso überhaupt?"
„Na, weil's doof ist, allein zu sein."

Mika schwieg.
„Stimmt", deklarierte er nach einer Weile.
Solche Gespräche konnte ich mit meiner besten Freundin wesentlich besser führen.

Vielleicht gab es aber Informationen, über die Mika mit seinen zwei Jahren mehr Lebenserfahrung verfügte.
„Hattest du mal was Lockeres?" Er beäugte mich schief.
„Du hattest auch mal was Lockeres", erwiderte er.
„Das meinte ich nicht", wischte ich es augenverdrehend beiseite. „Ich fühle etwas für Dag, aber was, das möchte ich nicht wissen. Ich darf mich in nichts verrennen, das bringt mich vom Kurs ab."
„Um dich in nichts zu verrennen, rennst du also weg", stellte er fest.
„Ich steuere auf ein Ziel zu", kam es von mir wie aus der Pistole geschossen. Die Stimme in meinem Kopf bläute mir ein, dass ich gar kein Ziel hatte. Wieso log ich Mika an?
„Na, wie du meinst." Er stand auf. „Ich muss in die Tischlerei, amüsier dich in der Uni."

Ich amüsierte mich nicht in der Uni.
In Epochen kritzelte ich ein paar Mangazeichnungen aufs Papier, anstatt zuzuhören. Warum weiß ich nicht genau, aber ich zeichne vornehmlich Yaoi und Yuri. Möglicherweise ja, weil ich zu wenig Sex habe. Diese Genres haben mich in die Welt der Mangas reingezogen, sie waren die ersten, die ich mochte und so blieb ich dabei. Die feinen Linien meines schwarzen Kugelschreibers verwoben sich miteinander zu zwei eng umschlungenen Körpern. Yaoi und Yuri thematisieren sonst gleichgeschlechtliche Paare, doch ich malte ein Mädchen und einen Jungen, ohne zu begreifen, was geschah. Ich fühlte mich verloren und mein Unterbewusstsein übernahm jede Bewegung meiner Finger. Kunst und Kontrolle haben nichts miteinander zu schaffen, denke ich.

„Zeichnest du dich selbst?", fragte Moritz, der neben mir saß, plötzlich leise und riss mich unsanft aus dem Prozess.
„Psst", machte ich und sah nervös zu unserem Professor, der vorn mit dem Laserpointer kämpfte. Ich fragte mich, wann er wohl kapieren würde, dass jemand das Licht abgeklebt hatte.
Moritz grinste. „Zeig mal her", verlangte er.
„Gern, gib mir fünf Euro." Ich funkelte ihn herausfordernd an.
Moritz kramte in seiner Tasche und drückte mir tatsächlich einen Fünf-Euro-Schein in die Hand. Während ich noch perplex auf das Geld stierte, schnappte er sich bereits mein Skizzenbuch.

„Wenn das du bist, wer ist denn dann der Typ?" Mein Sitznachbar wackelte anzüglich mit den Augenbrauen.
„Das bin nicht ich", redete ich mich raus.
„Ich bitte dich." Er legte die Zeichnung wieder vor mir ab. Das Mädchen hatte die gleiche Haarstruktur wie ich, ihre Augenform kam meiner ziemlich nah und in meiner Statur ähnelte ich der Zeichnung ebenfalls. Gewissermaßen war nicht von der Hand zu weisen, was Moritz behauptete. Meine Pupillen sprangen zu der zweiten gezeichneten Person. „Der kommt mir irgendwie bekannt vor", sagte Moritz.

Ja, mir kam er auch bekannt vor. Ich hatte Dag gezeichnet.

Reflexartig trennte ich die Seite aus dem Skizzenbuch. Ich hasste es, Blätter rauszureißen, aber das ging zu weit.
„Schenke ich dir", sagte ich zu Moritz und schob ihm das Papier zu.
„Äh, dankeschön. Heißt das, ich kriege meinen Fünfer wieder? Ich wollte mir nämlich gleich am Kiosk Filter kaufen."

Am späten Nachmittag schlug mir der Geruch von Süßkartoffel-Chili-Auflauf entgegen, einem brasilianischen Rezept. Iara stand in der Küche und räumte den Geschirrspüler ein.
„Hi", begrüßte sie mich.
„Hey. Du bist aber früh von der Arbeit zurück."
„Keine Sorge, du hast gleich sturmfrei. Bastian hat mir geschrieben, wir müssen eins der Konzerte hochverlegen in eine größere Location, die mehr Leute fasst. Nach nur einem Tag ausverkauft, die Fans sind wohl verrückt geworden."
„Du musst nochmal weg?" Iara stemmte seufzend die Arme in die Hüften.
„Ich habe ein Geschäftsessen mit einem potentiellen neuen Veranstalter, der explizit nach mir gefragt hat." Sie suchte auf ihrem Handy nach einem Bild und hielt mir ein Foto von einem schmierigen Kerl entgegen.
„Thorsten Jäger", erklärte sie.
„Der will dir an die Wäsche, Iara."
„Ich weiß, aber denkst du, meine Arbeitgeber juckt das? Zum Glück ist das egal, ich bestelle Tua hin, falls der Schleimbolzen übertreibt, ist er in der Nähe." Meine beste Freundin schaltete den Ofen aus und löffelte etwas von dem dampfenden Auflauf in eine Tupperdose. „Bis morgen, Süße." Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange.
„Pass auf dich auf."

Jetzt, wo ich die Küche für mich hatte, konnte ich Masghati machen. Blanchierte Mandeln, Kardamom, Pistazien, Rosenwasser - Wohin war die Tüte Safran verschwunden?
Ich kletterte auf einen unserer Stühle und musste trotzdem den gesamten Schrank mit den Gewürzen ausräumen, bis ich fand, wonach ich suchte. Vorsichtig öffnete ich die Packung und sog den Duft des gelben Pulvers ein. Mir schossen Erinnerungen durch den Kopf. Ich sah mich, wie ich mit meiner Großmutter über den Vakil-Bazaar laufe; zu Nedim, der uns von allen Verkäufern dort die Gewürze zum besten Preis anbietet. Mein Onkel Barsam winkt uns von seinem Teppich-Stand aus zu, doch meine Oma zerrt mich durch die Menschenmassen an ihm vorbei und wir trinken Tee mit meiner älteren Cousine Nesrin.

Ich hatte einen Moment die Augen geschlossen. Nun öffnete ich sie wieder. Kein Kuppeldach über mir, kein Lärm. Da war nur ich, allein, in unserer berliner Wohnung.
Im Iran wäre ich weit weg von all dem gewesen. Weit weg von Dag.

Ich rührte die Zutaten für die Masghati in einer Schüssel zusammen, kam aber nicht umhin, einen Blick auf Instagram zu werfen. Vincent und Dag hatten eine Story gepostet. Sie saßen Backstage und spielten gemeinsam einen ihrer Songs. Während Dag sang, ploppte eine Nachricht auf meinem Display auf. Mika hatte mir geschrieben, dass er bei Kitty übernachten und nicht heimkommen würde. Also war ich mir selbst schutzlos ausgeliefert.

In meinem Zimmer hörte ich Musik auf Shuffle, doch Spotify spielte dauernd SDP-Songs und ich kam mir irgendwann vom Universum so verarscht vor, dass ich den Streaming-Dienst schloss. Je später der Abend, desto weniger Möglichkeiten blieben übrig, um mich abzulenken. Deshalb fand ich mich eine halbe Stunde später mit einer Tasse Tee auf dem Bett wieder.

Die Tour der Jungs war zur Hälfte rum und erst heute hatte ich erfahren, dass mein Mitbewohner seine Lieblingsband zu seiner Geburtstagsparty eingeladen hatte. Wenn ich ihn nicht anrief, würde das eine Katastrophe werden. Ich konnte es nicht riskieren, Mika die Feier zu versauen. Er war mein Freund und natürlich hatte er Recht: Er konnte nichts dafür, dass ich mich mit Dag überworfen hatte. Obwohl ... Lagen wir im Clinch miteinander, weil ich mich nicht gemeldet hatte oder sah ich bloß alles schwarz? Immerhin hatte er mir gesagt, ich wäre diejenige, die entschied, wann das passieren würde.
In dieser Sekunde trudelte eine Nachricht von Vince ein:

Du bist raus.

Verwirrt las ich die Worte ein zweites Mal.

Was meinst du damit?

Diesmal schickte Vincent mir ein Foto, auf dem Dag den Arm um die Hüfte einer fremden Frau gelegt hatte.

Nervensäge

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