COREY - Kapitel 6

Der Typ am Telefon war super nett, als ich ihn wegen des Unterrichtes angerufen habe. Er meinte, Montag hätte er noch keine Schüler, wir könnten die Zeit also frei bestimmen. Noch am Telefon hat er sich informiert, wie fit Lilly motorisch sei. Und dann hat er gefragt, ob es okay wäre, wenn seine Schwester im weiteren Verlauf einen Teil des Unterrichtes unter seiner Anleitung übernimmt. Ist ein bisschen strange, aber einem geschenkten Gaul und so...


„Was machen wir jetzt?", fragt Lilly, als ich sie nachmittags abhole.

„Streng geheim!" Ich zwinkere ihr zu.

Dann fahre ich mit ihr zu der Adresse, die der Lehrer mir genannt hat. Ein hohes schmiedeeisernes Tor und dicke Backsteinmauern umschließen ein leicht verwildert wirkendes Grundstück. Der imposante Ziegelbau einer alten Fabrik schlummert im Schatten riesiger Bäume. Ich drücke auf die Klingel und das Tor schwingt wie von Zauberhand auf.

Ein junger Mann, etwas älter als ich, kommt uns auf einen Stock gestützt entgegen. Er wirkt gepflegt, sein helles Haar ist ordentlich geschnitten und frisiert. Seine grauen Augen funkeln fröhlich. Er ist mir auf Anhieb sympathisch. Sein rechtes Bein schlenkert er beim Gehen nach außen.

„Du bist ja behindert!", stellt Lilly überrascht fest.

Himmel, Lilly! Warum muss sie immer sofort sagen, was sie denkt?

„Aber nur halb", sagt er grinsend. Er streckt ihr seine linke Hand entgegen. „Du musst Lilly sein! Ich bin Niall."

Dann schüttelt er mir die Hand. „Wir haben telefoniert, oder?", fragt er mich.

„Ja, genau. Freut mich, dass es so spontan gleich klappt."

Ich mag ihn, glaube ich. Er hat nette Umgangsformen, eine verbindliche Art und er ist freundlich zu Lilly.

„Komm, dann lernt ihr gleich mal meine rechte Hand kennen." Ich schmunzle über die Zweideutigkeit seiner Aussage. Eine gute Portion Humor hat er offensichtlich auch, wenn er über sich selbst solche Witze machen kann.

„Weißt du Lilly, ich habe ja nur die Linke, mit der ich spielen kann. Und meine Schwester leiht uns am Anfang ihre Hände, bis du sicher weißt, was zu tun ist. Dann können wir versuchen, ob es reicht, dir zu erklären, was du machen sollst." Lilly mustert ihn neugierig und nickt.

Wir gehen durch das Erdgeschoss bis zu einem riesigen Aufzug und Lillys Augen werden groß wie Untertassen. „Das ist der riesigste Aufzug den ich je gesehen habe!" staunt sie.

Niall nickt. „Ich kenne auch keinen größeren. Hier passen ganze Autos rein. Die meisten benutzen aber die Treppe, weil es hier manchmal nach Abgasen riecht, wenn unser Vermieter gerade mit seinem Wagen nach unten gefahren ist."

Wir steigen im ersten Stock aus und auf dem blankpolierten Parkett steht ein riesiger Flügel mitten im Raum. Und so wie es aussieht ein sehr teurer Flügel. An dem soll Lilly spielen? Lilly blickt dem Ungetüm unsicher entgegen. „Darf ich mal auf die Tasten drücken?", fragt sie und schleicht zu dem glänzenden, lackschwarzen Instrument.

Niall legt ihr eine Hand auf die Schulter und führt sie zum Flügel. „Dafür bist du doch hier oder nicht?"

Lilly dreht sich zu mir. „Darf ich?"

Und ich nicke.

„Wir haben hier eine einmalige Akustik", erklärt Niall mir. „Fast wie in einem Konzertsaal."

Zu Lilly gewandt, die vorsichtig einige Tasten anschlägt, sagt er dann: „Komm wir suchen mal Cathy. So heißt meine Schwester. Aber die meisten sagen Cat zu ihr."

In diesem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ihr Schickimicki-Freund war ja der Waffen-Typ!

Niall öffnet einen Vorhang, der vor einem etwas improvisierten Wanddurchbruch hängt und den Blick auf ein Wohnzimmer frei gibt. Ein sehr geschmackvoll möbliertes Wohnzimmer, das pikobello aufgeräumt ist und liebevoll dekoriert.

„Cat? Kommst du? Ich möchte dir sehr gerne Lilly vorstellen."

„Hey, Lilly! Wie nett dich kennenzulernen!" Sie geht vor meiner Schwester in die Hocke. „Ein sehr hübsches Kleid hast du da an." Bei der Bemerkung wird mir warm ums Herz. Die Geschwister sind unglaublich nett zu Lilly.

Cat hebt den Blick und sieht über Lillys Schulter zu mir. „Hey Corey!", sagt sie mit funkelnden Augen und ein Grinsen umspielt ihre Lippen. „Lange nicht gesehen".

„Ja, schätze mal vier Stunden oder so?" Sie lacht und unwillkürlich starre ich auf ihre Lippen. Ich hab mich mit dem blöden Spruch am Samstag wirklich selber auf dumme Gedanken gebracht und insgeheim verfluche ich mich dafür.

Niall ist im ersten Moment irritiert. „Ihr kennt Euch?"

„Ja", sagt sie. „Wir haben uns schon etliche Male auf Partys getroffen und auf dem Campus begegnen wir uns auch immer mal wieder."

„Ich besorg mal einen Stuhl für deinen Bruder und du setzt dich schon zu Niall, dann kann es gleich losgehen", sagt Cat dann zu Lilly und verschwindet.

Ich setzte mich so, dass ich sehen kann, was die beiden Lilly zeigen. Als erstes lernt sie, dass es auf der Tastatur jeden Ton mehrfach in unterschiedlichen Höhen gibt. Und dass Cat das gleiche, was meine Schwester in der Mitte der Tastatur spielt, auch woanders spielen kann, die beiden also neben einander sitzen können, und an derselben Tastatur die gleichen Finger benutzen, nur eben ein bisschen weiter links oder rechts.

Da Lilly noch keine Noten lesen kann, soll sie einfach nachmachen, was Cat ihr vormacht. Am Ende der halben Stunde Unterricht kann Lilly alle Tasten finden, die ein c sind und kann beide Daumen der rechten Hand und linken Hand auf den Grundton legen.

Lilly ist sehr stolz auf sich und Cat nimmt sie mit, um ihr einen Kakao zu machen.

„Und?", frage ich Niall unsicher, was ich von der Sache halten soll.

„Ich denke, sie hatte Spaß. Das ist die Hauptsache. Und solange sie Spaß hat, kann sie gerne wöchentlich kommen. Zweiwöchentlich. Wie es bei Euch ins Konzept passt. Mir ist wichtig, dass wir dabei immer auf das Zwischenmenschliche achten. Wenn du den Eindruck hast, sie mag nicht herkommen, es ist ihr zu viel, zu anstrengend, sie kommt mit mir oder Cathy nicht klar, dann sollten wir es lassen. Förderung muss Spaß machen, muss in einem Rahmen stattfinden, in dem man sich sicher fühlt. Wo man gefordert, aber nicht überfordert ist."

Er weiß, wovon er spricht. Das hört man. „Danke", sage ich, weil mir nichts anderes einfällt.

Lilly kommt glücklich mit Kaba verschmiert zurück. Ihr Kleid ist vorne ein bisschen nass.

„Ich habe gekleckst. Aber Cathy weiß, wie man das wegmacht. Sie kleckst auch manchmal."

Glaub ich jetzt nicht, aber wenn Cat es sagt... diese zwinkert mir zu und kniet sich dann wieder vor Lilly hin. „Wenn du magst, dann sehen wir uns nächste Woche wieder, ja?" Sie schüttelt Lilly zum Abschied die Hand.

Nach dem Unterricht fahre ich mit Lilly nach Hause. Sie jammert ein bisschen, dass sie die Enten im Park füttern will, aber ich habe keine Lust wieder einen Einlauf von Mum zu bekommen, weil ich mich nicht an die Regeln halte.

Zu Hause mache ich Lilly als erstes eine Kleinigkeit zu essen, anschließend kuscheln wir uns auf die Couch und ich lese ihr Alice im Wunderland vor. Die Geschichte steht mir schon zu den Ohren raus, aber Lilly liebt das weiße Kaninchen und mag es, wenn ich ihr vorlese.

Kurz nachdem wir angefangen haben, kommt Greg nach Hause, bellt ein kurzes „Hallo!" und verschwindet im Arbeitszimmer. Was auch immer er da macht, es bringt nicht so viel ein, dass Mum mal etwas kürzertreten könnte, ist auf alle Fälle zu wichtig, als dass er nicht vorher mal kurz die Waschmaschine starten oder den Geschirrspüler einräumen kann. Wobei letzteres unnötig ist. Wir spülen seit Wochen mit der Hand, weil der Hausherr es nicht schafft, einen Handwerker kommen zu lassen, der die Pumpe repariert. Das ist echt frustrierend.

„Hör mal Schätzchen, ich müsste mich um ein paar Dinge kümmern, bevor Mummy heimkommt. Kannst du ein bisschen in deinem Zimmer spielen?", frage ich sie nach der Geschichte.

Sie sieht mich traurig an, nickt dann aber. Das Buch unter dem Arm geht sie nach drüben.

Ich sortiere die Wäsche und mache dann Abendessen. Gefrierschrank auf und... Pizza? Lasagne? Oder was mit Gemüse? Fisch. Dazu Gemüsereis. Guter Kompromiss. Im Kühlschrank ist noch ein bisschen was vom Kopfsalat. Kein Festessen, aber es wird reichen. Dann decke ich den Tisch für drei; klopfe bei Lillys Vater an. „Greg, ich bin dann weg!", sage ich durch die geschlossene Tür.

Noch schnell Lilly gute Nacht sagen und dann zügig zur Bandprobe. Bin schon wieder viel zu spät dran!

Craig, den alle C nennen, Rufus, Sunny und Mike sitzen schon im Keller und warten auf mich.

„Sorry, dass ich zu spät bin." Mist, wieder beinahe fünfzehn Minuten. Wahrscheinlich bin ich ein bisschen wie das kleine Kaninchen von Alice? Immer unter Druck, immer zu spät.

Greg könnte ja einfach mal den Tisch decken? Oder vielleicht kochen. Mann, habe ich von dem Typen die Nase voll. Eigentlich sollte ich einfach ausziehen. Meine Mutter ist erwachsen, sie muss sehen, wie sie mit dem Penner und Lilly klarkommt. Das ist eigentlich nicht meine Baustelle, aber ich fühle mich trotzdem verantwortlich. Vor allem will ich, dass Greg nicht so oft Gelegenheit hat, Lilly mies zu behandeln.

„Passt schon", sagt C und setzt sich ans Schlagzeug und die anderen machen sich ebenfalls an ihre Instrumente.

„Wir machen am besten einfach die Lieder der CD noch mal durch, die wir auch auf der Tour spielen und dann sollten wir uns überlegen, was die Zugaben sein sollen", schlägt Rufus, unser Keyboarder vor. Klingt immer vernünftig was er sagt.

Die Probe läuft gut, alle sind heute voll konzentriert. Keiner verpatzt mehr als zwei Einsätze, das ist rekordverdächtig.

Nach gut zwei Stunden beenden wir unseren Durchlauf mit ein paar Bierchen, beim Rauchen halte ich mich aber zurück, denn egal wie ich es drehe und wende, hat Cat recht: die Raucherei geht auf die Stimmbänder und Luft braucht man zum Singen auch.

„Kevin hat mir heute die Mail mit den Fotos von unserem Tourbus geschickt. Sieht richtig cool aus. Ganz schwarz. Der Schriftzug ist identisch mit dem auf der CD und die Krähe kommt total gut am Heck." Sunny lässt sein Handy rumgehen und wir klicken uns durch die Fotos.

Von außen sieht das Teil echt super aus, noch mehr beeindrucken mich die Innenansichten, die Kevin gesendet hat.

Jeder hat ein Bett für sich, es gibt eine Sitzecke mit Fernseher, eine Miniküche mit Barschrank, sogar eine Dusche und dazu das unvermeidliche Chemieklo.

Mit uns fährt ein Technik- und ein Security-Team in einem separaten Bus mit. Erstere sind dafür da, dass wenn wir die Bühne betreten, echt alles läuft. Die Security-Leute sollen uns abschirmen, damit wir immer unseren Schönheitsschlaf bekommen.

„Was ist mit deiner neuen Gitarre, Sunny?", erkundigt sich Craig.

„Sollte im Laufe der Woche kommen, zusammen mit dem Bass für Mike. Dann können wir die zum Proben schon nutzen, und ein paar Songs zum Testen spielen. Auf den Konzerten will ich keine Überraschungen."

Die Diskussion über neue und alte Instrumente bringt mich plötzlich auf eine Idee und so frage ich Rufus, ob er noch ein altes Keyboard irgendwo rumstehen hat.

„Willst jetzt als Alleinunterhalter auftreten?", feixt er.

„Witzig, Rufus. Deine Scherze waren schon mal besser. Es ist gar nicht für mich, sondern für Lilly." Dann erzähle ich von der heutigen Unterrichtsstunde und Rufus verspricht, mal bei seinen Eltern nachzuschauen, was sich dort auf dem Speicher findet.

Das wäre echt cool. Dann könnte ich das Teil einfach in Lillys Zimmer stellen und wenn sie Lust hat, kann sie ein bisschen darauf rumdrücken.

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