CAT - Kapitel 7
„Cat, du kannst nicht immer nur lernen und zu Hause rumhocken. Das ist nicht normal für ein Mädchen deines Alters. Ich wäre froh, wenn ich mal am Abend weggehen könnte. Betonung auf ‚gehen'!", schimpft Niall aufgebracht.
Plötzlich habe ich ein schlechtes Gewissen. Er hat nämlich recht. Ich suhle mich seit über vier Wochen in Selbstmitleid und rechtfertige meine Stubenhockerei damit, dass ich wegen meiner Ausschweifungen und Ablenkungen mit Sam extra hart arbeiten muss. Was Unsinn ist und Niall weiß das ganz genau.
„Ich war doch letzte Woche auf dem Konzert und ich wüsste auch gar nicht, was ich heute groß machen soll", versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen, irgendwie funktioniert das aber nicht. Mein Bruder sieht mich lediglich streng an.
„Ruf Emmi an. Frag Max, telefonier mit James oder kontaktier Elena. Aber bitte, lungere heute nicht weiter auf der Couch herum. Wahrscheinlich hast du schon Hornhaut am Hintern von der Rumsitzerei."
Er versucht das Thema ins Witzige zu ziehen, aber ich verstehe ihn trotzdem ganz gut.
Wir hocken unentwegt aufeinander wie ein altersschwaches Ehepaar, er will komponieren, seinen Unterricht mit seinen zwei ersten Klavierschülern planen. Ich gehe ihm schlicht auf die Nerven. Wessen Wohnung ist das hier nochmal, aus der er mich vertreibt? Aber ich sollte fair bleiben: er kann schließlich nicht einfach gehen, was mich plötzlich auf eine schräge Idee bringt.
„Wie wäre es, wenn wir zusammen weggehen?", schlage ich vor. „Ich meine, wenn ich Hornhaut am Hintern habe, dann schimmelst du bereits."
Ich kenne Niall eigentlich nicht sprachlos. Nur aus der Zeit auf der Intensiv, aber da lag er zugegebenermaßen im Koma, also zählt das nicht.
„Komm schon", lege ich nach. „Du kannst dich auch nicht ewig verkriechen!"
„Du vergräbst dich zu Hause, weil du ein bisschen Liebeskummer hast. Aber ich bin gelähmt, Cat, schon vergessen? Wer will denn mit einer Spaßbremse wie mir den Abend verbringen? Mit jemandem, der einen daran erinnert, was im Leben alles schiefgehen kann. Mal abgesehen davon: Ich hocke doch dort auch nur rum!"
Bisschen Liebeskummer? Sam hat behauptet, ich würde ihn nicht nur betrügen oder hintergehen, sondern mich auch noch über ihn lustig machen beim Sex mit einem anderen. Er hat meinen Charakter und meine Motive nicht angezweifelt, sondern völlig durch den Dreck gezogen.
„Dann machen wir eben was, wo es nicht auffällt, wenn du rumsitzt."
„Ja, lass uns doch mal wieder ins Kino gehen", sagt Niall und verzieht höhnisch sein Gesicht.
„Oh nein, mein Lieber. Kein Kino. Party! Oder wir bleiben beide daheim."
Ich weiß, dass er früher öfter feiern war. Ich bin zwar jünger als er, was aber nicht bedeutet, dass ich nicht gehört hätte, wie er nachts angetrunken versucht hat, den Schlüssel ins Schloss unserer Haustür zu fummeln. Öfter als einmal bin ich barfuß die Treppe runtergeschlichen, um ihn reinzulassen, bevor Mum oder Dad aufwachen. Der Geruch nach Alkohol und Zigaretten hing in seiner Kleidung, manchmal auch der schwache Hauch eines weiblichen Parfums.
Also starre ich ihn nach meinem Vorschlag bockig an und er starrt bockiger zurück. Doch ich gebe nicht nach. Keine Sekunde schaue ich weg, blinzle nicht einmal. Auch er zuckt mit keiner Wimper, starrt mich nieder. Doch schließlich gibt er auf.
„Was, wo ich nicht weit laufen muss, okay? Wenigstens ohne Rollstuhl."
Ich lächle triumphierend. Das kriegen wir locker hin, aber nur, wenn uns jemand abholt. Und das wird wohl Elena sein. Ihr Jeep ist perfekt, um Niall nicht nur hinein, sondern auch wieder rauszubekommen.
Insgesamt ist es schwieriger, den Ausflug unter Dach und Fach zu kriegen, als ich dachte. Emmi und Elena haben schon wieder Karten für „The servile Crows", die heute im „Serenity" spielen. Das ist ein total abgefuckter Laden und nicht das richtige für Niall.
Tony, John und Ian treffen sich mit Sam- also auch Fehlanzeige, zumindest für mich. Max und James sind bei James Eltern zum Abendessen, können sich aber zumindest vorstellen, gegen zehn zum Anleger zu fahren und James bietet an, uns abzuholen.
Als James endlich kommt, ist Niall völlig aus dem Häuschen. Seine anfängliche Ablehnung ist in pure Vorfreude umgeschlagen. Ich hätte ihn schon viel länger an den Ohren nach draußen ziehen sollen. Ich war nur zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um mir Gedanken zu machen, dass er vielleicht auch mal unter Leute muss. Außer mir und meiner Hand voll Freunde kennt er ja niemanden. Woher auch, wenn er immer daheim ist?
Er hat ein neues Shirt an, dass seine Augen sehr schön zur Geltung bringt und ich habe ihm, auf seine Bitte hin, eine von den frisch gewaschenen Jeans gebügelt.
Er ist ordentlich rasiert und frisiert, alles in allem eine tadellose Erscheinung, für unseren Ausflug zum Anleger schon fast Overdressed.
Seine Lähmung ist, das habe ich ihm jetzt bestimmt zehn Mal innerhalb einer halben Stunde erklärt, wenn er sitzt, total unauffällig. Und sie ist viel weniger schlimm, als er sie selbst empfindet.
Seit er bei mir zu Hause gezwungen ist, viele Dingen, wenn auch mit Zeitaufwand, selbst zu bewältigen, ist er auch nicht mehr so ungelenk und ich wette, wenn er sich zu weiterer Physiotherapie durchringen könnte, würde sich sein Körper noch weiter regenerieren. Dass er nach der anstrengenden Vorgeschichte aber irgendwann keine Ergotherapie und keine Physio mehr will, das verstehe ich. Vernünftig wäre es aber trotzdem.
Max wartet unten im Auto, während James nach oben kommt, um uns abzuholen. Er begrüßt Niall ohne zu zögern mit einer Umarmung - das ist mir irgendwie wichtig- und dann werde ich geknuddelt.
„Hast mir schon gefehlt", sagt er. „Wochenenden ohne dich sind nicht das gleiche." Ich grinse verlegen, weil ich mich noch gut erinnern kann, wie er mich früher angegiftet hat. Dass er jetzt sowas Nettes sagt, ist noch ungewohnt.
„So dann mal auf in den Party-Bus", scherzt James, während er Niall in den Wagen hilft. Seine unkomplizierte Art ist erfrischend und ich freue mich inzwischen wirklich auf den Abend. Ich kann nur hoffen, dass das keiner der Abende ist, wo die Polizei auftaucht und die Party auflöst.
Das ist zwar schon lange nicht mehr passiert, unsere Eltern würden es aber nicht begrüßen. Ich habe auf einmal fast ein mulmiges Gefühl. Dad erwürgt mich, wenn wir verhaftet werden!
Außerdem ist es schon dunkel. Dunkelheit und ich mögen uns gerade nicht so richtig...
James, der den Wagen fährt, informiert uns unterwegs, dass Emmi und Elena später nachkommen. Niall grinst erfreut, als er das hört. Warum eigentlich? Doch nicht wegen Emmi? Oder wegen Elena? Ich kann ihn mir mit keiner von beiden vorstellen. Eigentlich kann ich das mit gar keinem Mädchen. Aber er ist gelähmt, nicht tot. Wahrscheinlich hat er auch ganz menschliche, männliche Bedürfnisse.
Was mich zu der Überlegung bringt, dass wir ein Zimmer für Niall andenken sollten. Mein Bett steht oben auf der Empore, was ein Mindestmaß an bisher unnötiger Privatsphäre bietet. Niall lebt aber im offenen Wohn- und Arbeitsbereich auf dem Präsentierteller.
James fährt so nahe an das Gelände heran, wie es nur irgendwie möglich ist. Die Bässe schallen vom Fluss herauf und ich erkenne Skillets „Monster". Niall sieht aus, als hätte er ein Monster gesehen und würde am liebsten davonlaufen. Aber ich drücke beruhigend seine Hand, woraufhin er mich dankbar anlächelt.
„Für mich ist das wirklich eine riesige Sache, Cat", flüstert er. „Ich bin froh, dass ich dich dabeihabe."
Gerührt umarme ich ihn, meinen Bruder, bin so dankbar, dass ich ihn noch habe und bete, dass der Abend für ihn gut wird.
Max steigt aus, um einen Erkundungsrundgang zu starten und appt uns kurz darauf, dass er einen guten Platz gefunden hat. Niall und ich folgen ihm zu der angegebenen Stelle und James parkt das Auto irgendwo.
Erleichtert, den Weg ohne Zwischenfälle bewältigt zu haben, lässt sich Niall auf einer der Bänke nieder. Hinter sich hat er die Hauswand des Kartenschalters, sodass er sich bequem anlehnen kann. Wir haben einen Tisch für die Getränke und sogar einen Aschenbecher! Wie krass ist das denn?
Vermutlich hat Max eine Menge Geld auf diesem Tisch abgelegt, damit der ganz plötzlich frei wird. Das müssen wir später mal klären, denn so geht das eigentlich nicht!
Max tigert los und versorgt uns mit Getränken, auch für James bringt er was mit- heute alkoholfrei.
Wenig später treffen dann auch Emmi und Elena ein und unter viel hallo werden die Neuankömmlinge begrüßt. Dann schwärmen sie uns vom Konzert vor. Und von dem neuen Song, den die Band heute präsentiert hat. Und bejubeln den Frontmann, der so wahnsinnig gut singt und dabei auch noch so gut aussieht.
Niall sitzt sehr still da und nippt noch an seinem ersten Bier. Während Elena und Emmi bereits beim Zweiten sind, obwohl sie später kamen. „Was ist los?" Ich lehne mich zu ihm, damit die anderen uns nicht hören.
„Gibt es eine Toilette irgendwo? Du weißt doch, dass Gebüsch nicht geht", erklärt Niall nervös.
„Alles easy", sagt Elena an meiner Stelle. Sie muss Ohren wie ein Luchs haben, damit sie ihn bei dem Lärm versteht. „Es gibt ein Klohäuschen für die Touries. Ist auch ziemlich sauber, weil es was kostet und eh jeder in den Fluss pinkelt."
„Könntest du dann mit mir?", bittet Niall mich.
„Lass mal, Cat, ich geh schon mit. Wollte eh grade in die Richtung." Armer Niall, er sieht aus, als würde er jeden Augenblick im Erdboden versinken.
„Also was ist jetzt? Kommst du? Ich kann nicht ewig warten, dann geht das in die Hose. Bier treibt, weißt du?" Elena nimmt wirklich kein Blatt vor den Mund. Mein Bruder wurstelt sich zwischen Bank und Tisch hervor und nachdem Niall sich bei Elena untergehakt hat, ziehen die zwei los.
„Nett", sagt Emmi. „Sieht ihr gar nicht ähnlich. Sonst ist sie immer so vogelwild. Um die Zeit müsste sie eigentlich bereits betrunken auf dem Tisch..." Mitten im Satz bricht Emmi ab. „Ich werd verrückt! Guck mal, die Jungs von ‚Servile Crows'!"
„Die sind öfter hier", sage ich und Emmi seht mich neugierig an.
„Ach echt? Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich auch öfter hier." Tja, das kommt davon, wenn man sich immer in irgendwelche Clubs mogelt. Da verpasst man die besten Sachen. Oder sieht Dinge, die man hinterher nie mehr vergisst.
Sie sendet einen schmachtenden Blick in Coreys Richtung. Das ist jetzt wirklich lächerlich, oder? Es ist ja nicht so, als hätte er sie noch nie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde und völlig desinteressiert tun würde.
Sie sagt immer ‚nein' und jetzt starrt sie ihn an, als würde sie ihn am liebsten an Ort und Stelle vernaschen. Wenn sie sich mal entscheiden könnte, was sie will, wäre damit allen geholfen.
Corey sieht heute wirklich sexy mit einer Portion extra-scharf aus in seinen zerfledderten Jeans, seinem dunklen Shirt und der Lederjacke. Einige Ausläufer seiner Tätowierungen ziehen sich den Hals hinauf und seine Piercings passen zu dem Image des harten Typen, das er sich zugelegt hat. Aber ich weiß, dass in ihm mehr steckt, als der harte Punk, den er immer nach außen kehrt.
Wenn ich mir vorher nicht sicher war, seit er vergangenen Montag mit seiner Schwester zum Klavierunterricht kam, bin ich es absolut.
Emmi zuzusehen, wie sie Corey hinterherstarrt, als er sich zu den Jungs aufmacht, die heute die Bar schmeißen, ist beinahe lustig. Noch lustiger wäre es, wenn...
...ich ihn winkend auf uns aufmerksam mache.
Emmis Gesicht in dem Moment als ich Corey zu uns winke, ist wirklich Gold wert, sie versinkt beinahe im Boden, als ich seinen Namen rufe und wild gestikuliere. Meine Freundin hätte ihn wohl lieber aus der Entfernung angehimmelt. Oder heimlich angestarrt, wie in den Mittagspausen, wenn er sich zu uns an den Brunnen setzt.
Er winkt zurück und kurz darauf kommt er, ein Desperados in der Hand, an unseren Tisch. „Hey, schöne Frau!", sagt er und lässt sich neben mir auf eine Bank fallen. Emmi sagt kein Wort, sondern starrt mich nur böse an. Ihr Blick sagt: „Wie konntest du nur?"
„Hallo, stumme Emmi", scherzt er dann. Sie wird knallrot. So kenn ich sie gar nicht!
„Wie geht's deinem Bruder?", erkundigt Corey.
„Kannst ihn selber fragen." Ich deute in die Richtung, aus der Niall gerade kommt.
„Och, was ist denn da für eine hässliche Krähe an unserem Tisch gelandet?", erkundigt sich Elena sofort. Corey steht auf und drückt Elena einen Kuss auf die Backe.
„Du hast mir auch gefehlt, Schätzchen", sagt er lässig grinsend und lässt sich dann neben Emmi nieder, die inzwischen wieder eine beinahe normale Hautfarbe hat.
„Kennt ihr Euch alle schon? Oder müssen wir ein Vorstellungsspiel machen? Ich wüsste sonst eines", sagt Elena
„Und das hat sicher mit einer Flasche Hochprozentigem zu tun", zieht Corey sie auf.
„Also, wir kennen den komischen Vogel, glaube ich noch nicht, oder?" sagt James und erntet damit einen Lacher von Elena.
„Ich habe mit ihm schon mal ein Hühnchen gerupft", meint Max und diesmal stimmen Niall und ich in Elenas Lachen ein.
Corey verdreht genervt die Augen. „Jeder der heute billige Vögel-Witze macht zahlt eine Runde."
Die Erste geht nach diesem Flachwitz eindeutig auf ihn.
Und es folgen noch einige weitere. Sogar Niall zahlt einmal, weil er sagt, wir sollten endlich mal den Schnabel halten.
Der Abend endet feuchtfröhlich und ziemlich spät damit, dass Niall und ich uns ein Taxi nehmen, weil auch James irgendwann ein oder zwei Runden zahlen musste, und mein Bruder und ich nicht wollten, dass er Geld ablegt und dann nur zusieht.
Da wir alle sturzbetrunken sind und Emmi Hand in Hand mit Corey die Party verlässt, würde ich sagen, der Abend war ein voller Erfolg. Und ich werde bitter für diesen Abend bezahlen, mit bösem Kopfweh.
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