CAT - Kapitel 16
Ich wühle mich durch die Leute hindurch, die überall in Grüppchen rumstehen oder zu der Musik aus den mobilen Boxen tanzen.
Crow lehnt unten am Fähranleger an einem der Betonpfosten. Die Ärmel seines weißen Shirts bilden einen scharfen Kontrast zu seinen tätowierten Unterarmen. Seinen Kopf hat er in den Nacken gelegt, starrt hinauf zu den Sternen, die am wolkenlosen Himmel aufziehen.
Ich setze mich neben ihn, so nah, dass ich seine Körperwärme durch mein Shirt spüre. Am Tag war es recht warm, aber jetzt kühlt es rasch ab.
„Wie geht es ihr?", erkundige ich mich.
„Sie wird weiter künstlich beatmet. Sie ist schon seit gestern Abend ohne Bewusstsein."
Eine einzelne Träne löst sich und rinnt seine Wange hinunter. Ich weiß noch genau, wie ich gelitten habe, als Niall auf der Intensiv lag. Dem Tode näher denn dem Leben. Wie bleich er war. Das Piepsen. Die Kabel, die Schläuche, die Nasenbrille zur Beatmung, der Katheter. Es gab keinen Ort, wo ich ihn berühren konnte, ohne Angst zu haben, mich in etwas zu verheddern.
Das bange Warten, das Hoffen, dass er aufwacht.
Niall war schon erwachsen, wie schrecklich muss das sein, wenn ein kleines Mädchen reglos daliegt. Wenn man weiß, dass der Tod jeden Moment anklopfen kann.
Wenn einem der Tod vor nicht allzu langer Zeit bereits einen Menschen genommen hat.
Ich würde Crow gerne Hoffnung schenken. Doch es ist grausam, Hoffnungen zu wecken, die sich möglicherweise nicht erfüllen werden.
Also schweige ich und sitze einfach neben ihm. Hoffe, dass er weiß, dass er mit dem, was da kommt nicht allein ist.
Während seine Tränen inzwischen unaufhaltsam rinnen, lege ich meine Hand über seine, in der stillen Bemühung, ihm damit ein wenig Halt in dem Vakuum aus Schmerz zu geben, wo Worte nichts mehr ausrichten können.
Irgendwann, ich weiß nicht wieviel Zeit vergangen ist, sind seine Tränen verbraucht.
„Du wolltest mir sagen, was ich für dich tun kann?" Einen kleinen Moment sieht er mich irritiert an. Dann sagt er: „Ich habe ein Lied für sie geschrieben. Gestern Nacht. Meinst du, also, denkst du dein Bruder könnte sich mal ansehen, wie man die Begleitung setzen könnte? Also die Melodie meine ich passt, aber..." Er hält mir einen Zettel entgegen. Ich klappe ihn auf, lese die Zeilen.
Jetzt kommen mir die Tränen.
„Das ist wunderschön, Crow."
„Aber ich weiß nicht, wieviel Zeit mir noch bleibt, es fertigzustellen. Ich will, dass sie es wenigstens einmal hört, bevor sie..."
...stirbt.
Er muss den Satz nicht mal zu Ende sprechen.
„Komm", ich ziehe ihn hoch, „dann fragen wir mal unseren Meisterpianisten, ob er da was machen kann."
„Cat, weißt du wie spät es ist?"
„Egal, ich habe noch ein paar Nächte gut bei ihm. Ich habe vier Monate lang jedes Wochenende bei ihm verbracht und mein komplettes Spring Break, während er komatös geschlafen hat wie Dornröschen."
„Du hast einen ziemlich bösen Humor!", sagt Crow und legt mir einen Arm um die Schultern. Das habe ich irgendwann schon mal gehört...
Wir laufen den Weg nach Hause, was uns noch mal gute zwanzig Minuten kostet und bevor ich aufsperre, klingle ich an der Tür und zähle in Gedanken bis dreißig.
„Was zur Hölle machst du?" Die Augenbrauen fragend gerunzelt blickt Crow auf den Klingeknopf.
„Niall und Elena Gelegenheit geben sich anzuziehen. Das ist ziemlich nett, oder?" Crow lächelt mich verschmitzt an. „Ja. Du bist einfach durch und durch nett."
Doch Niall sitzt allein auf der Couch, er wollte sich mit Elena aussprechen, aber so miesepetrig wie er dreinschaut, lief das Gespräch nicht so toll.
„Hey, Crow, wie geht es Lilly?"
„Im Moment stabil auf schlechtem Niveau", fasse ich kurz zusammen und würge damit jede weitere Frage ab. Dann halte ich ihm den Text mit der Melodie hin und bitte ihn sich das anzuschauen. Crow steht nervös neben mir, während Niall vor sich hin summt.
„Könntest du eine Begleitung dazu setzen, damit ich es mit Rufus einspielen kann? Es sollte möglichst bald fertig werden, falls Lilly nicht so lange..." seine Stimme bricht wieder und ich muss tief durchatmen.
„Klar. Cat bring mir mal Stift und Papier. Das spart uns schon mal eine Stunde, wenn ich nicht selber zum Schreibtisch laufen muss."
Böser Humor liegt bei uns in der Familie.
„Kann ich dir was anbieten? Magst du was essen oder trinken?", erkundige ich mich bei Crow.
„Ich würde vielleicht eine rauchen gehen, wenn Niall mich nicht braucht."
„Gute Idee. Am besten geht ihr beide rauf und raucht eine. Dann kann ich hier arbeiten. Das spart uns dann noch mal eine Stunde, wenn mich keiner vollquatscht."
Niall schaut prüfend auf die Uhr über der Küchentür.
„Wie gut spielt dieser Rufus eigentlich?"
„Niall, setz es einfach so, wie es deiner Meinung nach gut ist. Im Zweifelsfall spiele ich es", bitte ich meinen Bruder und schleppe Crow mit zur Treppe. Ich schnappe mir im Vorbeigehen noch zwei Bier und ziehe dann die Feuerschutztür auf, damit wir aufs Dach klettern können.
Schweigend warten wir, dass Niall uns die Rückmeldung gibt, dass er fertig ist. Crow raucht in der Zeit eine Zigarette nach der anderen. Seine Hände zittern und ich mache mir wirklich Sorgen.
„Kommst du einigermaßen klar mit der Situation?", frage ich vorsichtig.
Dass er den Kopf schüttelt, wundert mich kein bisschen. Das hier ist eine Situation, in die niemand kommen sollte, die man niemandem wünscht.
„Muss ich mir Sorgen machen? Dass du irgendwelchen Blödsinn machst?"
Überrascht sieht er mich an. „Ich mache jedes Wochenende Blödsinn, Cat. Ich trinke, ich kiffe, ich vögele ständig mit anderen Mädchen rum." Er drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus und dreht sich sofort eine neue.
„Lilly war die Einzige, zu der ich irgendwie noch eine echte Bindung hatte, nach dem das mit Meg passiert ist. Nach der Beerdigung habe ich mich tagelang total zugedröhnt, ich habe nichts und niemanden an mich ranlassen wollen. Aber Lilly hat es in den kurzen Momenten, wo ich nüchtern war, immer wieder geschafft mich aus der Lethargie zu reißen. Sie fing damals gerade erst an zu laufen. Ständig hat sie mir irgendwelches Zeug gebracht. Ein Stofftier, ihre Puppe, ist auf meinen Schoß geklettert, hat sich an mich gekuschelt."
Er nimmt einen Zug seiner Zigarette.
„Ihr war es egal, ob ich gekifft hab, total betrunken war oder beides. Wenn ich morgens nicht aus dem Bett kam und Schule geschwänzt habe, dann hat sie sich manchmal zu mir gekuschelt, hat ihren Mittagsschlaf bei mir gemacht. Irgendwann in einer meiner Rauschlücken habe ich dann mal mitgekriegt, wie beschissen Greg Lilly behandelt, wenn Mum nicht da ist und er dachte, ich bin zu breit, um was zu checken. Ab da habe ich mich ihretwegen mehr zusammengenommen, bin mit ihr in den Park, wenn er wieder ätzend war. Sie hat mich irgendwie zurück ins Leben geholt."
Die Glut leuchtet in der Dunkelheit auf, als er wieder an seiner Zigarette zieht und ich warte, dass er weiterspricht. Weil er nichts sagt, frage ich:
„Warum dann der Blödsinn an den Wochenenden?"
„Weil ich so vergessen kann, wie einsam ich bin ohne Meg. Ich vermisse sie. Jeden Tag. Während der Woche kann ich mich mit Lilly und meiner Musik ablenken." Er drückt die nächste Zigarette im Aschenbecher aus, der sich langsam füllt.
Wenn Lilly was passiert, dann wäre vermutlich wieder jeden Tag Wochenende. Das ist die Botschaft dessen, was er mir gerade erzählt. Und dass ich Grund habe, wir alle, die wir mit ihm befreundet sind Grund haben, uns Sorgen zu machen. Dass unter all den Tätowierungen, hinter dem ganzen Metall ein gefühlvoller Mensch steckt, das weiß ich seit ich ihn zum ersten Mal mit Lilly gesehen habe. Dass er es an den Wochenenden gerne krachen lässt, dachte ich, sei seinem Punkrocker-Image geschuldet.
„Kann das mit Meg unter uns bleiben? Ich meine, dass ich...", er räuspert sich, „dass ich sie noch immer vermisse." Natürlich nicke ich. Sowas erzählt man doch keinem weiter!
Danach sitzen wir schweigend nebeneinander und warten.
Es ist bereits kurz vor drei, als Niall raufbrüllt, ich sollte mich mal daran versuchen.
Um viertel nach vier sind er und Crow zufrieden, und ich verspreche Crow zu üben wie eine Verrückte und am Abend zum Aufzeichnen ins Tonstudio zu kommen. Dann kann er es Lilly im Krankenhaus vom Handy vorspielen.
„Kommt ihr noch auf ein Bier mit aufs Dach?", erkundigt sich Niall.
Ich warte auf Crows Antwort und als dieser nickt, schließe ich mich ihnen an, nehme das Bier für Niall mit hoch.
Niall setzt sich wie immer auf die kleine Bank, die Sam für ihn auf seinen Teil des Daches gestellt hat. Auf meinen Teil kommt man nur über die Feuerleiter und das schafft Niall nur an extrem guten Tagen.
Crow und ich setzen uns zu Nialls Füßen und mit Erstaunen sehe ich, wie Niall ein Tütchen mit Gras aus seiner Gesäßtasche angelt.
„Drehst du uns einen? Cat kanns nicht und mit einer Hand ist es irre umständlich."
Wie bitte? Ich hör wohl schlecht! Wieso klingt das jetzt, als ob er öfter was rauchen würde, wenn ich ihm den Dübel basteln könnte?
Crow zieht als erstes und dann lehnt er sich vor und reicht sein Werk an Niall. Ach, und jetzt werde ich hier ausgegrenzt, oder was? Geht's noch?
Niall reicht den Joint auch wieder an Crow zurück.
„Ist der nur für Jungs, oder dürfte ich dann auch mal?"
Diesmal werde ich tatsächlich auch bedacht und hole die verpassten Züge nach.
„Cat", sagt Crow warnend und zieht seine gepiercte Braue hoch. Giftig schaue ich ihn an. „Ich weiß, was ich tue."
„Ist schon gut", sagt er nur. „Hast es ja nicht weit bis in dein Bett"
Genau. Sag ich ja. Aber ein paar Minuten später bereue ich meine große Klappe, das Zeug haut ganz schön rein.
„Guter Stoff", lobt auch Crow. Und Niall grinst „Hab auch eine gute Quelle."
Klar, Elena halt.
„Pennst du bei uns?", fragt Niall und Crow sagt, er würde, schon, wenn er dürfte, denn daheim sei er ja sonst ganz allein. Das wäre irgendwie komisch.
„Komm, dann gönnen wir uns noch einen, oder?" Er reicht nochmal sein kleines Päckchen zu Crow, der sich nicht zweimal bitten lässt.
„Das wird mir jetzt zu krass mit Euch! Ich geh schlafen."
Ich gebe erst Crow der neben mir sitzt einen Kuss auf die Wange und dann meinem Bruder.
Erst auf halbem Weg über die Treppe fällt mir auf, was ich da grade gemacht habe. Habe ich gerade wirklich Crow geküsst?
Wobei geküsst ja übertrieben ist...
Da die Jungs noch oben hocken, beschließe ich, schnell duschen zu gehen.
Als ich aus dem Bad komme und gerade Richtung Treppe schleichen will, steht plötzlich Crow wie aus dem Nichts vor mir.
Sein Gesicht schwebt nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, er streckt seine Hände aus und langsam streicht Crow mit seinen Händen über meine bloßen Unterarme. Eine angenehme Gänsehaut breitet sich wie ein Lauffeuer über meinen ganzen Körper aus, als er noch einen Schritt näher kommt.
„Wenn du nicht willst, dass ich dich küsse, dann solltest du jetzt gehen", warnt er mich, während er mit seinen Fingern wieder nach unten streicht, über die empfindliche Innenseite meiner Handgelenke, und dann seine Finger mit meinen verschränkt.
Ich sollte gehen, oder? Meine Knie werden weich, als er sich langsam weiter nähert. Und dann berühren seine Lippen meine, streifen sie beinahe nur. Unendlich sanft, zart, als hätte er Angst, dass ich jeden Augenblick davonrenne. Die Berührung ist so ganz anders als die rohe Leidenschaft, mit der Sam mich immer überrascht hat, mit der er mich immer geradezu überwältigt hat. Trotzdem brenne ich sofort lichterloh.
Als Crow sich nach dieser Andeutung eines Kusses bereits zurückzieht, bin ich beinahe enttäuscht, ziehe ihn an unseren verschlungenen Händen näher zu mir, zeige ihm, dass ich das hier genauso will. Heute, nach diesem schrecklichen Tag, genauso ein bisschen mehr Nähe brauche wie er. Er lässt sich nicht zwei Mal bitten. Doch er bleibt zurückhaltend, unglaublich vorsichtig, knabbert an meiner Unterlippe, streift sie dann mit seiner Zunge. In mir baut sich eine Spannung auf, eine Ungeduld, eine Sehnsucht, wie ich sie noch nie gespürt habe.
Als sein Kuss fordernder wird, seine Zunge einen Tanz mit meiner beginnt, seufze ich vor Erleichterung, vor ungestillter Lust. Sein Piercing ist ungewohnt auf eine geradezu erotische Art und ich würde am liebsten gar nicht mehr aufhören ihn zu küssen, will mehr.
Ich will seine Hände auf meiner erhitzten Haut spüren, will seinen Körper erforschen. Doch Crow hält meine Hände so fest umklammert, dass es beinahe wehtut, aber eben nur beinahe, und ich mich nicht befreien kann. Aufreizend langsam küsst er mich weiter, bringt mich damit um meinen Verstand.
„Ach, hier seid ihr", sagt Niall erstaunt und wir fahren ertappt auseinander. „Stör ich grade bei irgendwas?", fragt er dann zuckersüß.
„Nö", sagt Crow völlig entspannt. „Wir können das auch jeder Zeit später fortsetzen." Mein Herz setzt vor lauter Vorfreude einen Schlag lang aus.
„Was gibt es denn?", erkundigt Crow sich, hält meine Linke immer noch fest in der seiner Rechten.
„Ich wollte Cat nur bitten, mir Wasser ans Bett zu stellen"
Im selben Moment in dem ich „Ja" sage, sagt Crow: „Ich kann dir was bringen."
Niall blickt irritiert zwischen uns hin und her. „Macht das unter Euch aus. Ich geh jetzt schlafen."
Crow streicht mir sanft über meine Wange, nachdem Niall gegangen ist. „Ist vielleicht besser, wenn du auch schlafen gehst, bevor ich Blödsinn mache."
Er streicht sich durch seine dunklen, beinahe schwarzen Haare, die wie immer so zerwühlt aussehen, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. „Wird sonst vielleicht komisch zwischen uns. Du bist nicht der Typ für dieses Bonus-Freunde-Ding."
Bonus-Freunde? Wie geschmacklos! Dafür würde ich mich wirklich nicht hergeben. Aber für einen weiteren Kuss wäre ich schon zu haben. Seine Hand ruht noch immer an meiner Wange und er ist mir schon wieder so nahe, dass ich seine Wärme durch mein Shirt spüre. Am liebsten würde ich ihn einfach an mich ziehen und meine Lippen auf seine pressen.
„Du solltest besser gehen, wenn du nicht willst, dass ich dich küsse", sage ich mutig. Aber mein ängstliches Herz klopft dabei zum Zerspringen. Die Hand die eben noch an meiner Wange lag, rutscht langsam in meinen Nacken und er zieht mich sanft, aber bestimmt zu sich. Sein Daumen streicht über meinen Haaransatz und ich bekomme schon wieder eine Gänsehaut, mein ganzer Körper kribbelt vor lauter angenehmen Empfindungen.
„Ich habe nie gesagt, dass ich das nicht will." Dann finden sich unsere Lippen im Zwielicht zu einem weiteren Zusammentreffen von solcher Intensität, dass ich am ganzen Körper bebe, als wir uns von einander lösen. Ich sollte gehen. Denn das, was ich will, das kann nicht zwischen uns sein. Wir sind Freunde. Freunde sollten so etwas nicht tun, oder?
Ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, lasse ich Crow in der Dunkelheit zurück und haste mit glühenden Wangen die Treppe hinauf zu meinem Bett.
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