CAT - Kapitel 10

Als es klingelt, öffne ich mit mulmigem Gefühl meine Wohnungstür, nicht sicher, was für ein Schlachtfeld mich erwartet.

Crow lächelt mich völlig unversehrt und entspannt an. Also hat er Sam vermutlich umgebracht, bevor dieser sich wehren konnte.

„Ist er wirklich gegangen?", frage ich ungläubig und Crow nickt. „Geht sich einen ansaufen."

Das sieht Sam ähnlich. Er meint ja, man könnte jedes Problem in Alkohol ertränken. Dummerweise können Probleme schwimmen...

„Sag mal gibt es hier irgendwo..."

„Ja, in der Küche. Wenn sich kein anderer darüber hergemacht hat gibt's auch noch ein paar Desperados."

„Du bist eine Hexe. Gib es zu! Du kannst Gedanken lesen."

Nein, aber ich weiß, was er jedes Wochenende trinkt und ich weiß noch genau, wie seine Küsse schmecken. Nach Desperados, Zigaretten und nach heißem Sex. Auch wenn ich von letzterem keine Ahnung habe, hat mein Körper mir dieses Geheimnis zugeflüstert.

Der Gedanke ist aber grade so unpassend, dass ich diese Erinnerung sofort in eine kleine Schachtel irgendwo in meinem Gehirn packe, sie fest verschließe und dann den Schlüssel wegwerfe.

„Emmi meinte, du kämst vielleicht später auch, da habe ich Tony gesagt, er soll ein paar mitbringen", sage ich ausweichend.

„Du bist mir wirklich unheimlich!", grinst er.

„Danke", sage ich darauf ein bisschen verlegen.

„Dafür, dass ich dich unheimlich nenne?" Erstaunt zieht er die Augenbrauen hoch, seine Augen blitzen amüsiert.

„Nein, wegen Sam. Er hätte die Party ruiniert mit seinem Gestänker."

Doch Crow zuckt nur lässig die Schultern.

„Passt schon."

Dann zieht er ab in Richtung Küche und kehrt mit seinem Bier zurück.

Als Elena gegen zehn kommt-drei Stunden zu spät!- können wir endlich das Geschenk übergeben. Wir gehen alle nach oben und Emmi zündet die fünfundzwanzig Kerzen an, die wir in die Erde im Hochbeet gesteckt haben.

Die Pflanzen stehen auf dem kleinen Gartentisch und das Werkzeug haben Emmi und ich in buntes Geburtstagspapier gewickelt. Voller Enthusiasmus schmettern wir „Happy Birthday to you", dann darf Niall die Augen öffnen.

Ich habe so Herzrasen vor Aufregung, dass mir schon ganz schlecht ist. Was wenn er es doof findet? Aber er strahlt. Über das ganze Gesicht. Dann humpelt er zum Beet, um die Kerzen auszupusten.

„Wenn du alle in einem Zug ausbläst, darfst du dir was wünschen", sagt Elena zu ihm und lächelt zweideutig. Flirtet sie etwa mit ihm?

„Von wem denn?", fragt er zurück.

Sie zieht eine Schnute, tut als würde sie überlegen. Dann sagt sie: „Zum Beispiel von mir! Also streng dich ein bisschen an!" Oha, ihr Tonfall klingt nach einem sinnlichen Versprechen. Sie flirtet nicht mit ihn, sie macht ihn eindeutig an. Seinem Gesicht nach zu urteilen ist er mindestens so überrascht wie ich.

Ich glaube nicht, dass mir das gefällt, sie ist so... flatterhaft und nimmt das Leben so leicht. Und Niall ist verletzlich und ich habe Angst, dass er unter die Räder kommt.

Crow sieht mich an, er kennt Elena glaube ich sehr gut, und dem Ausdruck in seinem Gesicht nach, macht er sich gerade dieselben Gedanken. Ich kann nur hoffen, dass Niall nicht alle Kerzen auspustet. Doch das Glück ist ihm heute zugeneigt und er schafft es locker.

„Und?", fragt sie. „Was darf es denn sein?"

Einen Moment steht Niall einfach nur da. Ratlos?

Und dann erhellt ein Grinsen sein Gesicht, dass ich schon seit vielen Monaten nicht mehr bei ihm gesehen habe, das Grinsen, dass er für die Mädels im Diner reserviert hatte, als wir noch zu Hause gewohnt haben.

„Wenn ich mir alles wünschen darf, was ich will, Elena, dann will ich einen Kuss von dir!"

Die anderen johlen vor Vergnügen, doch ich bin skeptisch. Wird sie?

Natürlich wird sie! Sie tritt nahe an ihn heran.

„Niall, das ist beinahe enttäuschend. Ganz ehrlich nur einen Kuss?", fragt sie und legt ihre dunklen Hände auf seinen Brustkorb.

Niall lacht. „Lass uns mit einem Kuss anfangen, Elena. Wenn der was taugt, dann sehen wir weiter."

Crow neben mir schmunzelt und irgendwas sagt mir, dass er genau weiß, dass der Kuss taugt. Elena lässt ihre Hände nach unten wandern, schlingt ihre Arme um Nialls Mitte und er legt seine gesunde Hand um sie und dann küsst sie ihn kurz auf den Mund.

Er schüttelt bedauernd den Kopf „Das enttäuscht mich sehr. Ich denke nächstes Jahr wünsche ich mir lieber einen Kuss von einem anderen Mädchen."

Wir lachen alle, doch Elena legt ihre Hände an seine Wangen. „Das, Schätzchen", schnurrt sie, „war nur zum Warmwerden!"

Unter weiterem Gejohle küsst sie ihn so heftig, dass ich wegsehen muss, weil es mir unangenehm ist, meinen Bruder und sie zu beobachten. Mein Blick begegnet Coreys und mir wird plötzlich heiß. Ich starre genau in seine sturmblauen Augen und sein Blick wandert zu meinen Lippen. Ich beiße mir verlegen auf die Unterlippe und für einen Moment flackert etwas in seinen Augen auf. Lust vielleicht? Ich bin mir nicht ganz sicher, denn er schaut sofort weg, während mein Herz flattert wie ein Kolibri auf Speed.

Irgendwann löst Elena sich nach einem Langstreckenkuss von meinem Bruder und sagt so zärtlich, dass ich es beinahe nicht fassen kann: „Happy Birthday, Baby!" und wieder bricht Jubel aus. Da ist wohl irgendwas an mir vorbeigegangen.

Dann packt Niall den Rest seiner Geschenke aus, die er zum gärtnern braucht und bedankt sich bei allen, die sich an dem Geschenk beteiligt haben. Ich bekomme eine innige Umarmung von ihm und Erleichterung überfällt mich. Nicht auszudenken, wenn er meine Idee blöd gefunden hätte!

Die Gruppe auf dem Dach zerfällt nach und nach in kleinere Grüppchen und ich bleibe mit Crow irgendwann alleine auf dem Dach zurück, als James und Tony nach unten gehen, um sich was zu trinken zu holen.

Crow legt sich ins weiche Gras und starrt hinauf zu den Sternen.

„Dieses Dach ist der Hammer, da ist mehr Rasen drauf, als andere in ihrem Garten haben", sinniert er mit Blick nach oben.

„Zum Glück gibt es diese kleinen Mäh-Roboter", bemerke ich, „Rasenmähen macht da nicht so irre Spaß, kann ich dir sagen!"

„Es gibt Schlimmeres, glaub mir", sagt er und setzt sich plötzlich auf.

„Auf alle Fälle!", stimme ich zu. „Zum Beispiel seinem Bruder eine gefährliche Krankheit anzuhängen."

„Oder sich auf die Geburt der Schwester zu freuen, und dann festzustellen, dass sie anders ist", schlägt er vor.

„Oder festzustellen, dass der Bruder nie wieder so wird wie früher", sage ich.

„Oder zu bemerken, dass andere den Menschen als hässlich bezeichnen, den du vorbehaltlos liebst", flüstert er.

„Oder dass sie den Menschen, der dir am Herzen liegt, schneiden, weil er plötzlich so anders ist."

„Oder dass du deinen Stiefvater aus der Wohnung schmeißt, weil er deine Mutter geschlagen hat." Unverhohlene Wut schwingt in seine Stimme.

„Oder dass man auf jemanden schießt, weil er versucht, einen zu vergewaltigen." Diesmal flüstere ich.

„Oder dass deine Freundin sich umbringt, weil du sie verlassen hast, obwohl sie mit deinem Kind schwanger ist."

In der anschließenden Stille könnte man die sprichwörtliche Nadel fallen hören. Das was wir vorher aufgezählt haben, ist so banal zu seinem letzten Satz.

„Das ist ja schrecklich!", sage ich, doch die Worte werden dem nicht einmal annähernd gerecht.

Er nickt im Dämmerlicht, sagt nichts. Wie lange ist das her? Wie konnte das passieren? Wie kommt er klar damit? Fragen über Fragen, doch ich traue mich keine davon zu stellen, warte, ob er von sich aus weiterspricht.

Doch er starrt nur geradeaus über das Gelände Richtung Colorado, der zu unseren Füßen fließt.

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Außer dass es mir sehr leid für dich tut. Aber vermutlich hast du das schon hundert Mal in Variationen gehört."

Wieder nickt er nur und sein stiller Schmerz geht mir so nahe, dass ich mit den Tränen kämpfe.

„Inzwischen höre ich es nicht mehr so oft. Ist schon fast vier Jahre her. Also für andere kein großes Thema mehr."

Für Andere nicht, für ihn sehr wohl, das höre ich an seiner belegten Stimme. Beinahe vier Jahre. Damals muss er im letzten High School Jahr gewesen sein. Ich möchte ihn gerne in den Arm nehmen, ihn trösten. Dem Impuls zu folgen traue ich mich nicht, weil ich nicht weiß, ob ihm das nicht zu viel ist.

Zögerlich lege ich meine Rechte auf seine linke Hand die auf seinem Oberschenkel ruht und er verschränkt seine Finger mit meinen. Er wendet seinen Blick vom Fluss ab, zu mir. Seine Augen blicken so traurig, dass ich erneut mit den Tränen kämpfe.

„Erzählst du mir, was passiert ist?"

Lange sagt er nichts, blickt auf unsere ineinander verschränkten Hände, kämpft mit sich. Dann sagt er leise: „Nicht heute."


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