CAT - Kapitel 1

Vier Wochen später

„Niall, wir brauchen unbedingt ein Auto!", erschöpft lasse ich meine Einkaufstauschen neben der Küchentheke fallen und streiche mir ein paar meiner blonden Haare aus dem Gesicht, die dort festpappen. Mein Bruder kommt sofort angehumpelt, um mir zu helfen. Er nickt zustimmend, als er die Berge von Einkäufen für eine Woche vor der Anrichte stehen sieht.

„Wahrscheinlich hast du recht, Cat. Es ist eine Zumutung für dich, das alles zu tragen. Ich bin völlig nutzlos dabei."
Mit seiner gesunden Hand trommelt er auf der Arbeitsplatte herum.

„Ja, du Gesundheitsfreak machst es noch hundert Mal schlimmer", necke ich ihn. „Deinetwegen musste ich heute wieder kiloweise Grünzeug schleppen, statt einfach Pizza zu bestellen. Das war früher viel einfacher!"

Ich freue mich, als Niall über meine Ironie lacht. Vor einigen Wochen wäre es undenkbar gewesen, solche Witze zu machen. Aber seit er mit seinen Klavierstunden, wenn auch nur in beinahe verschwindend geringem Maße, zu unserem Haushaltseinkommen beiträgt, ist er viel entspannter und fröhlicher. Guter Stimmung lässt sich mit ihm viel mehr anfangen. Vor allem kann ich mit meinem relaxten Bruder wieder gemeinsam Klavier spielen wie früher. Das hatte ich mehr vermisst als mir bis zu dem Tag bewusst war, an dem plötzlich der Flügel im ersten Stock stand.

„Was kochst du heute?", frage ich und räume das unempfindliche Gemüse in die Holzschütten, die neben der Arbeitsplatte stehen. Niall schmunzelt geheimnisvoll. „Lass dich überraschen, Kleine. Und nun heb mir die Kühltasche bitte auf die Arbeitsplatte, dann räume ich sie aus."

Es wird bei ihm ewig dauern, bis er alles im Kühlschrank hat, aber ich lasse ihn trotzdem machen. Wie er immer sagt: Es ist ja nicht, als hätte er viel zu tun. Er hat Zeit. So viel Zeit, wie er eben braucht.

„Eistee?", fragt mein Bruder und hält mir einen Krug entgegen, den er eben aus dem Kühlschrank gezaubert hat. Ich wackle euphorisch mit dem Kopf. Nichts geht an einem warmen Frühlingstag über seinen selbstgemachten Pfirsicheistee. Halbseitenlähmung hin oder her, Niall ist der beste Bruder, den man sich wünschen kann.

„Sam kommt später mit einem Handwerker, der die Tür einbaut", fährt mein Bruder übergangslos fort und räumt derweil unsere Milchprodukte in das richtige Fach. Ich liebe seinen Ordnungssinn, obwohl er seinen Freundinnen damit früher gehörig auf die Nerven ging. „Wenn du Sam weiter aus dem Weg gehen willst, such' dir am besten eine Beschäftigung auswärts."

„Wäre ja auch zu toll, wenn wir nicht bis ans Ende aller Tage ein Loch in der Wand haben, vor dem ein Vorhang hängt", murmle ich als Antwort, den Kopf halb im Schrank. Unsere größten Gläser, die wir selten brauchen, stehen natürlich ganz hinten. „Wenn ich mir nicht mehr jeden Tag beim Lernen das Geklimper deiner Kinder oder gar deins anhören muss, ist das auch nicht zu verachten."

Betroffen sieht Niall mich an. Das Grün der Möhren, die er sich wie ein Baby in die Armbeuge gelegt hat, hängt schlaff herab wie seine Mundwinkel.

„Äh ja, das tut mir leid. Aber die Kinder können erst nach der Schule. Ich werde aber versuchen die Stunden zu verschieben, wenn es dich sehr stört. Weil also, das wird wahrscheinlich auf lange Sicht noch ein bisschen mehr Geklimper werden, wenn alles gut läuft."

Ich seufze. Das hat er nun völlig in den falschen Hals bekommen.

„Wir haben doch den Unterrichtsplan schon etliche Male durchgekaut. Das geht schon in Ordnung, Niall. Ich kann in der Bücherei lernen. Auf der Terrasse, mir einen Stuhl ans andere Ende des Fabrikgeländes stellen, wenn es sein muss. Vielleicht höre ich Euch aber auch einfach zu und freue mich, dass mein Bruder zur Abwechslung nicht Blödsinn redet, sondern was Vernünftiges tut. Trotzdem wäre eine Tür super, die man gelegentlich schließen kann."

Niall nickt, als hätte er endlich verstanden, worauf ich raus will: mal fünf Minuten nur für mich haben, wenn er am Flügel sitzt. Ist nicht zu viel verlangt, denke ich.

„So und jetzt muss ich mir ganz dringend was Unaufschiebares überlegen, was ich erledigen muss. Ruf mich an, wenn Sam wieder weg ist, ja? Ich kann schlecht den ganzen Abend auf der Straße rumlungern."

„Wohin gehst du?", erkundigt sich Niall schon fast argwöhnisch. Ob er mir unterstellt, dass ich mich mit einem Typen treffe?

„Wird nicht verraten, aber bald, sehr bald hat jemand Geburtstag und die Schwester von jemandem benötigt noch ein Geschenk."

Ich weiß auch schon genau, was es sein soll. Nur brauche ich noch eine gute Idee, wie ich meine Anschaffung transportiere. Was ich für Niall kaufen möchte, ist schrecklich sperrig und obendrein schwer; ich bin klein und unmotorisiert. Und es sprengt völlig das Budget, das ich zur Verfügung habe. Ich glaube beinahe, ich muss mir etwas anderes ausdenken, aber ich bin hundertprozentig sicher, dass Niall einen Heidenspaß damit hätte und der März ist perfekt für dieses Geschenk. Und ich müsste nicht mehr ständig Grünzeug schleppen! Ich stecke in einem Zwiespalt zwischen dem, was ich unbedingt will und was möglich ist, ohne jemanden um ein Auto zu bitten. Jemanden... wie Sam. Hoffentlich ist Elena mit ihren Erkundigungen schon weitergekommen. Die Zeit drängt langsam.

Ein Stück weit die Straße runter, außerhalb Nialls Hörweite und Sams Sichtweite, hole ich mein Handy aus der Hosentasche und suche nach Elenas Nummer. „Du, arbeitest du heute?", überfalle ich sie sofort, als sie sich meldet.

„Ja", murrt sie genervt. „Nicht nur heute, sondern bereits den dritten Tag in Folge. Das ist voll ätzend!"

„Das ist nicht ätzend, sondern super. Zumindest für mich. Ich bin nämlich auf der Flucht. Sam ist heute bei Niall", jammere ich, als würde das alles erklären. Das tut es auch irgendwie. Wer läuft schon gerne dem Exfreund über den Weg?

„Dann komme ich schnell bei dir vorbei", kündige ich Elena an.

Zu Fuß brauche ich bestimmt eine halbe Stunde bis zu dem kleinen Gartencenter in dem Elena seit einer Weile arbeitet. Eigentlich habe ich dank Sam gar keine Eile und ich kann ein bisschen Bewegung gut brauchen. Für einen Spaziergang ist die Strecke jedoch nicht wirklich ansprechend. Es gibt nichts zu sehen außer alten Fabrikgebäuden, einigen dazwischen gestreuten Wohnhäusern und einem Neubau mit einer Tankstelle und einem Supermarkt daneben. Dann ungepflegte Wiesen und verfallene Zäune, bis schließlich die Gewächshäuser des Gartencenters in Sicht kommen. Ab und an braust ein Auto vorbei, oder ein LKW. Das war es schon an Attraktionen.

Mein Gehirn findet das Angebot an Ablenkung eher mager und eintönig. Ob ich will oder nicht, immer wieder schleicht sich Sam in meinen Kopf. Wie jedes Mal, wenn ich zu viel Zeit zum Grübeln habe, durchschlagen seine Worte den Panzer aus Gleichgültigkeit, den ich ihm gegenüber zur Schau stelle, dabei bin ich alles andere als das.

Ich bin traurig, zornig, verletzt, enttäuscht, verärgert und das alles zur gleichen Zeit. Mal will ich ihn schütteln, dann schlagen. Oder ihn erwürgen, nachdem ich ihn über Tage gequält habe. Waterboarding ist da noch das Harmloseste, was mir dazu einfällt. Und dann fühle ich mich plötzlich elend und will nur heulen. Und das allerletzte, was ich will, ist mit ihm reden. Obwohl er mir ständig auflauert, habe ich das bisher mit großem Erfolg vermieden.

Über den Wunden, die er mit seinen ungerechten Anschuldigungen gerissen hat, liegt nur dünner Schorf. Ich will nicht, dass jemand einen Finger in diese Wunden legt. Schon gar nicht er!

Ich will nicht hören, warum Sam mich verurteilt hat, ohne mir die Chance zu geben, mich zu verteidigen. Denn das ist Fakt: ich habe ihm einen großen Vertrauensvorschuss gegeben, habe zu ihm gehalten, auch als die Sache nicht gut für ihn aussah und er in U-Haft saß. Doch er hat mir ebenso wenig getraut, wie sich selber.

Ich habe eine Menge Freunde, die ich mag, mit denen ich gerne Zeit verbringe, die meine Interessen teilen und für mich da sind. Aber an manchen Tagen ist Freundschaft nicht genug. Mir fehlt nicht nur die körperliche Nähe, sondern die Kommunikation, die zwischen mir und Sam auf einer anderen, ursprünglicheren Ebene stattgefunden hat. Aber ich weiß, dass ich mich ihm nie wieder nahe fühlen kann, ihm nicht mehr vorbehaltlos begegnen kann. Was wir hatten, ist für immer zerstört, der Zauber erloschen, erstickt von Sams Misstrauen.

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