Neue Nachbarn
Auf einmal war es ganz still in der Küche der Pritchetts. Nicht einmal die Zeiger der Uhr schienen sich für einen Moment weiterzudrehen. Nichts tackte, nichts raschelte, knisterte oder fiel zu Boden. Es war absolut still in der Küche. So leise war es nicht mehr gewesen, seit Teddy Pritchetts Großmutter, der früher das Haus gehört hatte, erfahren hatte, dass Marylin Monroe gestorben war.
Phoebe fand als Erste die Sprache wieder und fragte, als habe sie ihren Großvater nicht verstanden: ,,Sie wurden ermordet? Eine ganze Familie wurde im Puppenhaus ermordet?"
Ihre Großeltern nickten und Phoebe spürte, wie ihr mulmig zu Mute wurde. Im Puppenhaus waren Menschen ermordet worden? Wie konnten ihre Großeltern überhaupt noch neben diesem Haus wohnen, wenn sie doch wussten, was damals geschehen war?
,,Können Sie uns bitte davon erzählen?", bat Marty, der ganz aufgeregt schien. Wahrscheinlich würde er diese Story bei der nächsten Party brühwarm seinen dämlichen Freunden auftischen.
Teddy überlegte kurz und warf seiner Frau einen nachdenklichen Blick zu, den sie schließlich mit einem Nicken erwiderte. Phoebe, Donna und Marty sahen gespannt dabei zu, wie Teddy einen großen Schluck von seinem Tee trank und einen Keks aß. Dann begann er mit ruhiger Stimme zu erzählen und Phoebe fühlte sich so, als wäre sie wieder die kleine Siebenjährige, die auf dem Knie ihres Opas saß und Märchen erzählt bekam.
Doch nun war sie siebzehn und die Geschichte, die nun folgte, war auf gar keinen Fall ein Märchen.
Sommer 1975
Der Vietnamkrieg war vorbei und verloren. Es war Wehrpflicht und so wurde ich wie viele andere eingezogen. Nach zwei Jahren kehrte ich also in meine Heimatstadt Clearwater Springs zurück. Mein Vater war schon gestorben, als ich zehn war und meine Mutter hatte sich ein Jahr vorher erhängt, weil sie glaubte, dass ich nie wiederkommen würde.
Meine ältere Schwester, Tiffany, hatte, während ich in Vietnam war, geheiratet und war mit ihrem Mann nach Florida gezogen. Unser kleines Haus in der Baker Street hatte sie verkauft, um unsere Schulden zu bezahlen.
Da war ich nun also, ein Zwanzigjähriger mit nichts als einem eher mittelmäßigem Highschoolabschluss und einem Kriegstraumata, welches ich aber damals abtat.
Ich hatte keine Familie, keinen Job und kein Haus. Mein bester Freund, Michael Smith, war in Vietnam gefallen und ich fühlte mich so einsam, als ich wieder durch die Straßen lief, durch die wir drei Jahre zuvor noch zu zweit gelaufen waren. Ich nahm mir ein Zimmer in einem Motel am Stadtrand und suchte nach einem Job.
Mittlerweile hatte ich den Plan auf ein College zu gehen, aber das musste ich ja erst einmal finanzieren können. Ich borgte mir also von einem Motelgast eine Schreibmaschine und tippte einige Zettel, auf denen stand, dass ich Arbeit suchte, ganz egal welche.
Darunter schrieb ich noch meinen Namen und die Telefonnummer des Motels. Dann hängte ich die Zettel überall in der Stadt auf und hoffte auf Erfolg.
Eine Woche später hatte ich die Hoffnung fast aufgegeben. Doch dann klopfte an einem späten Abend im Hochsommer die Motelbesitzerin an meine Tür. Und mit Klopfen meine ich, dass sie mit ihren fetten Fäusten gegen meine Tür hämmerte. Ich lag high auf meinem versifften Bett in dem winzigen Zimmer.
Das Marihuana-Rauchen hatte ich in Vietnam entdeckt. Wir hatten es alle hin und wieder getan, aber ich kam irgendwie nicht mehr davon los. Irgendwann hatte ich dann verstanden, dass sie etwas von mir wollte und habe die Tür geöffnet.
,,Da will dich jemand am Telefon sprechen", grunzte sie. ,,Beeil dich, du Nichtsnutz. Die alte Schachtel hat mir schon die Ohren abgequatscht."
Ich war verwirrt, weil ich nicht wusste, was sie meinte. Aber dann fielen mir meine Flyer wieder ein und ich schleppte mich in die Lobby. Dort griff ich nach dem schmierigen Telefonhörer und meldete mich bekifft und müde mit meinem Namen. ,,Theo ... dore Prit ... chett am App ... arrat."
,,Teddy?", fragte eine Stimme, von der ich geglaubt hatte, sie nie wiederzuhören.
Es war die Stimme meiner Großmutter, Elizabeth VanderWaal. Kurz bevor ich nach Vietnam gegangen war, hatte sie uns allen mitgeteilt, dass sie wohl sterben würde. Ich hatte mich in meinem Zimmer eingeschlossen und Rotz und Wasser geheult, weil ich genau wusste, dass ich bei ihrer Beerdigung nicht dabei sein würde. Seitdem hatte ich nichts von ihr gehört, bis zu diesem Abend.
,,Teddy?", fragte sie noch einmal und ich hörte, wie sich ihre Stimme brach. ,,Bist du das wirklich? Bist du zurückgekehrt?"
Ich bekam nur noch ein leises ,,Ja" heraus, bevor ich anfing zu weinen. Meine Großmutter brach auch in Tränen aus.
Am nächsten Morgen stand ich vor dem Haus meiner Großmutter. Ich hatte meine besten Klamotten (ein Hemd mit kurzen Ärmeln und eine nicht allzu verwaschene Jeans) gewaschen und gebügelt, meine Sneaker geputzt.
Der Rucksack auf meinem Rücken beherbergte nur eine Schachtel Zigaretten, eine alte Lederbrieftasche mit gerade einmal zehn Dollar darin, etwas Gras in einem kleinen Beutel, Drehzeug, eine Zahnbürste und eine Packung Pralinen, die mich sieben Dollar gekostet hatten.
Es war ein hübsches Haus aus Holz und weiß gestrichen. Das Haus war nicht sehr klein, aber auch nicht besonders groß. Außerdem stand es in der Church Avenue und hier waren die Häuser ziemlich teuer. Die Church Avenue war die schönste Straße in ganz Clearwater Springs.
Es war eine Allee, die links und rechts mit alten Bäumen gesäumt war, und direkt zu der katholischen Kirche führte. Die Bäume spendeten im Sommer wohltuenden Schatten. Die Straße war sauber geteert und eignete sich sicher bestens zum Rollschuhlaufen. In der ganzen Church Avenue lebten reiche Weiße, die Sonntags in die Kirche gingen und danach zu ihrem Country Club fuhren, um Golf zu spielen. Ihre Häuser waren groß, alt und hell gestrichen. Die Gärten waren ebenfalls ziemlich groß und sehr gepflegt. Nicht wenige hatten einen Pool.
Ich wusste nicht viel über meine Großmutter. Sie war über achtzig, seit der Geburt blind und die Mutter meiner Mutter. Ihr Mann war im zweiten Weltkrieg gefallen. Er war Pilot gewesen und stammte aus einer reichen Familie in Boston. Meine Mutter war im Haus seiner Familie geboren wurden, aber 1944, da war meine Mutter vierzehn, ist sie mit ihrer Mutter nach Clearwater Springs umgezogen. Sie zogen in dieses Haus, welches damals neu gebaut worden war und meine Mutter bekam immer die schönsten Kleider und gute Bildung.
Meine Großmutter war eine sehr liebe und großzügige Frau. Sie hatte mir und Tiffany immer die besten Geschenke gemacht und mich stets unterstützt. Ich war ihr sehr dankbar, dass sie mich gestern angerufen hatte. Wir hatten uns lange unterhalten und schließlich hatte sie mir angeboten, bei ihr zu wohnen. Dafür müsste ich ihr nur etwas zur Hand gehen.
Noch einmal strich ich mir nervös über mein braunes Haar, welches ich an der Seite gescheitelt hatte. Ich hoffte, dass ich ordentlich aussah, obwohl meine Großmutter es nicht sehen konnte. Dann öffnete ich das Gartentor und ging langsam den gepflasterten Weg durch den hübschen Vorgarten entlang.
Auf der Veranda standen einige Blumenkübel, ein paar kleine Palmen und ein Schaukelstuhl. Ich drückte auf die Messingklingel, daneben hing ein Klingelschild mit der Aufschrift Elizabeth Lorraine Mary VanderWall.
Ich fand es mal wieder sehr eindrucksvoll, dass sie drei Vornamen hatte. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ich stand einer etwa vierzigjährigen Frau entgegen. Sie war gertenschlank und sehr groß. Die Frau trug eine Perlenkette, Goldschmuck an Armen, Ohren und Fingern, eine weiße Seidenbluse und einen knielangen, schwarzen Rock.
Ihr Haar war sehr ordentlich in einem geflochtenen Zopf eingefasst. Das Gesicht war mit den großen Augen und den zusammengekniffenen Lippen streng und mahnend. Ich fühlte mich an eine meiner Grundschullehrerinnen erinnert.
,,Wir kaufen nichts. Verschwinde!", sagte sie mit schriller Stimme und sah mich mit gerümpfter Nase an. Ich wusste, dass ich etwas müffelte.
Leider hatte das Motel keine Dusche und ich wollte mich nicht wieder am See waschen, wo mir dreizehnjährige Mädchen kichernd zugesehen hatten. Aber ich würde meine Großmutter fragen, ob ich ihre Badewanne benutzen könnte.
,,Ich will nichts verkaufen", entgegnete ich und setzte mein charmantestes Lächeln auf. ,,Ich bin hier, um meine Großmutter zu besuchen."
Die Frau sah mich prüfend an. ,,Wie ist dein Name?", fragte sie skeptisch.
Ich sagte freundlich: ,,Mein Name ist Theodore Pritchett, Ma'am. Ich bin Mrs VanderWaals Enkel und gerade erst aus Südostasien zurückgekehrt, daher würde ich sie gerne besuchen."
,,Du warst im Krieg?", fragte sie skeptisch. ,,Du bist doch höchstens achtzehn, Junge."
,,Ich bin zwanzig, Ma'am. Dürfte ich wohl auch Ihren Namen und was Sie bei meiner Großmutter tun?", erwiderte ich und spürte, wie das Lächeln in meinem Gesicht starr wurde und meine Munwinkel anfingen zu schmerzen.
Sie betrachtete mich von oben bis unten, nur um festzustellen, dass ich wohl die Wahrheit sage. ,,Nun gut", meinte sie nach einer Weile. ,,Ich heiße Kate Kretschmer und ich bin vom Frauenclub der Saint Mary Church hier im Ort. Deine Großmutter, Theodore, ist seit 31 Jahren in unserer Kirchengemeinde. Natürlich möchten wir und auch ich speziell ihr etwas zurückgeben. Deswegen komme ich ein Mal in der Woche hierher, kaufe für sie ein, helfe ihr ein wenig im Haushalt, esse mit ihr Kuchen, trinke Tee und plaudere ein wenig. Die arme Lizzy ist ja so furchtbar einsam. Sie freut sich immer, wenn ich vorbei komme. Das will man doch, nicht wahr? Liebevolle und besorgte Mitbürger, die sich im Alter um einen kümmern, wenn die eigene Familie das ... nun, sagen wir mal ... versäumt hat."
Sie funkelte mich an und ich wusste, was sie mir damit sagen wollte. Schäm dich! Wie kannst du es wagen, deine Großmutter nicht zu unterstützen?! Ich bin immer für meine Mitmenschen da, wie es ein jeder guter Christ und eine jede gute Christin tun sollte. Liebe deinen Nächsten und pass auf, dass du nicht in die Hölle kommst, du unverschämter Bengel.
,,Ich danke Ihnen sehr für Ihr großes Engagement, Mrs Kretschmer. Aber es wird sicher nicht mehr von Nöten sein. Ich werde nämlich bei meiner Großmutter einziehen und für sie da sein."
Mit diesen Worten schob ich mich an dieser aufgeblasenen Pute vorbei und betrat den Hausflur, der mit einem Flickenteppich ausgelegt war. An den Wänden hingen überall Plakate von bekannten Schauspielern und Schauspielerinnen. Humpfrey Bogart, Cary Grant, Charlie Chaplin, James Dean, Audrey Hepburn, Marylin Monroe, Sharon Tate, Marlene Dietrich und viele andere starrten mich von überall an. Meine Großmutter hatte das Haus mit diesen Postern tapeziert. Sie hingen überall, sogar im Badezimmer.
Mit dreizehn hatte ich mir dort zum ersten Mal einen runtergeholt, während Marylin Monroe mich beobachtete.
Obwohl meine Großmutter seit ihrer Geburt blind war, liebte sie Filme. Sie liebte das Kino und war schon öfters in Hollywood gewesen.
Ich ließ mich nicht von den Plakaten beirren und lief einfach ins Wohnzimmer. Der Raum war groß und gemütlich. Mittendrin stand ein großes Sofa mit gemütlichen Kissen. Es gab einen nagelneuen Röhrenfernseher, der auf einem kleinen Schränkchen stand. An den Wänden hingen natürlich Filmplakate und die eingerahmten Autogramme manch eines Schauspielers oder einer Schauspielerin. Es gab ein Regal voller Schallplatten und Bücher. Meine Großmutter ließ sich gerne vorlesen. Überall standen Grünpflanzen, die Mrs Kretschmer gerade förmlich ertränkt hatte.
Der Schallplattenspieler spielte SOS von ABBA. Die Sommersonne schien durch ein frischgeputzes Fenster und tauchte den Raum in warmes Licht. Es roch nach sehr starkem Parfüm, Rührei und Bacon, Kaffee und Zigarettenrauch.
,,Hallo?", fragte meine Großmutter. Sie saß mit dem Rücken zu mir auf einem Stuhl.
,,Wer ist da? Du bist es nicht, Kate. Schließlich trägst du Absätze. Ich höre flache Schuhe, aber kräftige Schritte. Sind Sie das, Jerry? Wie schön, dass Sie kommen. Gibt es wieder Post für mich? Haben Sie etwa neue Schuhe, mein Lieber?"
,,Nein, Granny", erwiderte ich leise, aber sie hörte es natürlich. Schließlich hatte sie ausgezeichnete Ohren. ,,Ich bin es, Teddy."
,,Oh, Teddy", sagte sie fröhlich und gluckste. ,,Ich freue mich ja so, dass du mal wieder hier bist. Komm, setz dich doch. Ich esse gerade mit Mrs Kretschmer Frühstück. Sie ist vom Frauenclub der Kirche, hat sie dir das erzählt?"
,,Ja, das hat sie", entgegnete ich mit einem leichten Lächeln und lief zu dem Tisch.
Er stand am Wohnzimmerfenster, von dem man einen perfekten Blick auf den sehr gepflegten Garten meiner Großmutter hatte. Auf dem Tisch lag ein altes Tischtuch mit Spitze am Rand. Darauf stand das gute Porzellan meiner Großmutter, welches von ihren Schwiegereltern stammte und beinahe hundert Jahre alt war. Es gab frische Brötchen, Croissants, Butter, Marmelade, Käse, Wurst, Tee, Kaffee, Bacon und Rührei.
Ich setze mich neben meine Großmutter und betrachtete sie.
Sie war älter geworden. Ihr kurzes Haar war nun schneeweiß. Sie wirkte kleiner, als vor zwei Jahren, und gebrechlicher. Meine Großmutter trug ein blau-weiß kariertes Kittelkleid, eine Perlenkette und wie immer eine Sonnenbrille.
Sie tastete nach meiner Hand, erfühlte meine Arme, meine Brust und mein Gesicht. ,,Du bist kantiger und kräftiger geworden, mein Junge", sagte sie lächelnd.
,,Ich bin erwachsen geworden, Granny", erwiderte ich leise. ,,Der Krieg hat mich erwachsen gemacht."
,,Teddy, ich habe dich vermisst", sagte meine Großmutter leise. Ich legte ihr lächelnd meine Hand auf ihre Hand, die knochig und voller Altersflecken war. Die grünlichen Adern traten stark hervor. ,,Ich dich auch, Grandma."
Von diesem Augenblick an waren meine Großmutter und ich wieder ein Herz und eine Seele. Wir kochten zusammen, schauten gemeinsam Filme, gingen Sonntags in die Kirche und zu Treffen des Frauenclubs und des Seniorenclubs. Meine Großmutter hatte einige Freundinnen, die wie sie Geld hatten und verwitwet waren. Sie mochten mich schnell und wir gingen oft zusammen in die kleine Mall.
Dort spendierte meine Oma ihren Freundinnen großzügig Parfüm und Schmuck, während sie mir neue Klamotten und Bücher kaufte. Sie kaufte mir sogar ein gebrauchtes Auto, einen gelben VW Käfer und eröffnete ein Sparkonto für meinen Wunsch, auf's College zu gehen. Ich bekam ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Das Auto war sicher nicht billig gewesen und nun wollte sie auch noch ganz alleine für meine Bildung aufkommen. Das war nicht fair, sie war schließlich eine alte Frau und so viel Geld hatte sie auch nicht. Also begann ich mich wieder nach einem Job umzusehen und hoffte auf mehr Erfolg als beim letzten Mal.
Eine Woche nachdem ich bei meiner Oma eingezogen war, gingen wir an einem sonnigen Mittwochmorgen zu Richard Durhams Drugstore.
Richard, der von allen nur Richie genannt wurde, war ein Mann Anfang sechzig. Er war Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg, hatte nie geheiratet und keine Kinder. Richie war lustig und hatte für all seine Kunden ein offenes Ohr. Er plauderte immer viel und wirkte immer fröhlich, aber ich glaubte, dass er ein sehr einsamer Mann war. In seinem kleinen Drugstore gab es wirklich alles, was das Herz der Bürger und Bürgerinnen von Clearwater Springs begehrte. Es war auch der einzige Drugstore.
Ich stemmte die Tür zu dem Laden auf. Meine Großmutter hielt sich an meinem Arm fest. Das war aber eigentlich nicht nötig, denn sie kannte Richies Laden wie ihre Westentasche. Richie hatte sich mit meinem Großvater angefreundet, als sie beide im Krieg gekämpft hatten.
Er hatte meiner Großmutter die Nachricht seines Todes überbracht und so hatten die beiden zusammen getrauert und waren schließlich auch zu sehr guten Freunden geworden.
Meine Großmutter war nur wegen ihm vor dreißig Jahren hierher gezogen.
In dem Moment, als wir über die Türschwelle traten, klingelte eine kleine Klingel und verkündete unser Kommen. Richie kam aus dem Nebenraum gestürmt. Er war dünn, hatte graues, mittlerweile spärliches Haar und trug eine große Brille mit einem dünnen, silbernen Gestell, die wie immer etwas schief auf der knochigen Nase saß. Richies Klamotten waren einfach, aber ordentlich und stets gebügelt. Er trug ein kariertes, kurzärmliges Hemd, Hosenträger und eine braune Cordhose.
,,Guten Morgen", rief er laut und gut gelaunt durch den ganzen Laden.
Der Drug Store war nicht besonders groß. Er war eigentlich ziemlich klein. Im Laden roch es muffig und es war düster. Er wurde bloß von grellen Neonleuchten erleuchtet, die etwas flackerten. Überall standen wackelige Regale, die mit allem möglichen zugestopft waren. Lebensmittel, Hygieneartikel, Zeitschriften, Bücher, Schallplatten, Haushaltsgegenständen, Werkzeugkästen, Fahrradzubehör, Reinigungsmittel, Spielzeuge, Süßigkeiten, Technik, Bademode für die Touristen, Sonnenbrillen und viele weitere Dinge.
Die Gänge waren so schmal, dass sich der ein oder andere etwas beleibtere Gast seitwärts durch sie schlängeln musste. Der Boden war aus Linoleum, welches die Farbe von Kotze hatte und unter meinen Turnschuhen quietschte.
Meine Großmutter lachte über Richie und meinte: ,,Du hörst dich aber gut gelaunt an, Richie. Guten Morgen!"
,,Du kennst mich doch, Lizzy. Das bin ich immer", entgegnete Richie lächelnd und rückte nervös seine Brille zurecht. Seine Wangen und Ohren waren rot. Ich wusste ganz genau, dass er auf meine Großmutter stand und alle anderen, Grandmas Freundinnen von den Clubs, wussten es auch.
Vielleicht wusste sie es ebenfalls, aber wenn, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Sie nickte nämlich nur und schlurfte dann zum Schallplattenregal, als würden sich unter ihrer Sonnenbrille sehende Augen verstecken.
Richie räusperte sich leise. Ich sah, wie geknickt er war. Genauso hatte ich mich gefühlt, als mir Samantha Rutherford, meine Highschoolliebe, eine Absage erteilt hatte, nachdem ich sie gefragt hatte, ob sie mich zum Abschlussball begleiten wollte. Ich hatte an diesem Abend heulend in der Küche gegessen und mich zusammen mit meiner Mutter zum ersten Mal betrunken, für die das schon ein alltägliches Ritual geworden war.
Danach hatte ich die Highschool verlassen und Samantha nie wieder gesehen. Vielleicht studierte sie oder hatte schon geheiratet. Jedenfalls war ich über sie hinweggekommen, aber wenn es wirklich stimmte und Richie in meine Großmutter verliebt war, dann musste er diese Absagen seit über dreißig Jahren aushalten. Ich beobachtete den Mann dabei, wie er nervös etwas hinter in seinem Tresen umräumte. Dort verkaufte er Zigaretten, Alkohol und Medikamente.
Ein kleines Lächeln erschien auf meinen Lippen, als ich mich noch einmal richtig umsah. In diesem Drugstore hatte ich mit zwölf zum ersten Mal etwas geklaut (eine Packung Kaugummis und ein Armband für meine Schwester), mit fünfzehn zum ersten Mal mein selbstverdientes Geld ausgegeben ( für den Playboy und eine Beatles-Schallplatte) und mit sechzehn mein erstes Bier gekauft, besser gesagt mitgehen lassen.
Unzählige Male war ich hier mit Mike gewesen. Mit Mike, der jetzt tot war. Mit Mike, der beim Kampf für die Freiheit gestorben war. Doch diesen Kampf hatten wir verloren. Mike und all die anderen waren für nichts gestorben.
Das Lächeln verschwand und ich musste mich zusammenreißen. Ich wollte nicht weinen, nicht hier. Zwar war ich nach Clearwater Springs zurückgekehrt aber dieser Ort war nicht mehr derselbe. Ich war nicht mehr derselbe. Ich war kein Kind mehr. Ich war nun ein Erwachsener. Ein Erwachsener, der in einem Krieg gekämpft hatte und Menschen getötet hatte. Es fühlte sich so falsch an, wieder hier zu sein.
,,Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern können, Mister Durham", begann ich zögerlich. Richie sah auf, leckte sich kurz über die dünnen Lippen, schob seine Brille zurecht und lächelte dann wieder.
,,Doch, natürlich kann ich mich an dich erinnern, Junge. Du bist Theodore Pritchett. Früher warst du oft hier mit deinem kleinen, rothaarigen Freund. Wie hieß er noch gleich?"
,,Sein Name war Michael Smith, Sir. Er ist tot", antwortete ich leise und versenkte meine zitternden Hände in den Taschen der neuen Lederjacke. Sie war braun und meine Großmutter hatte sie mir gekauft. Ich hatte mir vorgenommen, sie nun immer zu tragen.
Richie seufzte leise und für einen kurzen Moment war er der Mann, der er sein musste, wenn er ganz allein abends in seiner kleinen Wohnung saß. Einsam und voller Traurigkeit.
,,Das tut mir leid, Theodore. Er war ein guter Junge und du bist es auch. Es ist ein Jammer, weißt du? Ich bin Pazifist, seitdem ich im Krieg war. Da sieht man Dinge, die man nie wieder vergessen kann. Aber wem sage ich das? Du weißt es nur zu gut. Mein bester Freund fiel auch für sein Land."
Er sagte nicht so was wie ,,Zum Glück bist du ja jetzt wieder hier. Jetzt ist es vorbei."
Dafür war ich ihm sehr dankbar, denn er wusste genau, dass es nicht aufhörte, wenn man wieder zuhause war. Die Schrecken des Krieges holten mich jede Nacht wieder ein. Ich hatte Alpträume und die Schatten unter meinen Augen wurden von Tag zu Tag dunkler.
Wir unterhielten uns noch lange, auch nachdem meine Großmutter ihren Einkauf erledigt hatte. Sie lud uns zum Kaffee ein und Richie nahm dieses Angebot dankend und errötend an. Am Ende des Tages hatte ich plötzlich einen Job in Richard Durhams Drug Store.
Im Hochsommer 1975 begann also wieder ein Leben für mich. Die Arbeit im Drug Store brachte mir Spaß. Ich stand hinter der Theke und kannte schon nach wenigen Wochen alle Kunden und Kundinnen. Mit einigen von ihnen plauderte ich manchmal eine halbe Stunde, bevor sie wieder gingen. Richie wurde so etwas wie ein bester Freund und ein Onkel für mich.
Er brachte mich während der Arbeit oft zum Lachen, aber wenn das Schild an der Tür von Open auf Closed gedreht war, saßen wir stillschweigend im Nebenzimmer, rauchten Zigaretten, tranken Scotch und sprachen mit leisen Stimmen über den Krieg.
Wenn ich nicht arbeitete, half ich meiner Großmutter oder ging auf irgendwelche Partys. Ich trank viel zu viel, rauchte weiter Marihuana und hatte einige Onenightstands. Es war ein Teufelskreis, aber das half mir, die schrecklichen Dinge in meinem Kopf zu vergessen. Sie holten mich immer ein, wenn ich schlief.
Also versuchte ich wenig zu schlafen. Meistens war ich die ganze Nacht völlig betrunken und high unterwegs. Am frühen Morgen kroch ich dann zu meiner Großmutter, schlief wenige Stunden und ging dann zur Arbeit. Vielleicht war es armselig, aber das sah ich damals nicht.
An einem schwülen Samstagmorgen Ende Juli, vielleicht war es auch Samstagnachmittag, lag ich verkatert in meinem Bett. Plötzlich klopfte es an meiner Tür und ich quälte mich aus dem Bett. Es war meine Großmutter.
,,Teddy", sagte sie. ,,Ich glaube, im Nachbarhaus ziehen neue Leute ein."
Ich runzelte die Stirn, fuhr mir müde über mein Gesicht und fragte zweifelnd: ,,Sicher? Das Haus steht doch schon seit so vielen Jahren leer."
,,Doch, Teddy. Ich bin mir ganz sicher. Ich höre doch die Geräusche. Kannst du bitte einmal nachschauen?", entgegnete meine Großmutter.
,,Na, gut", erwiderte ich gedehnt, lief in Unterhose zu meinem Fenster und zog die Gardinen zurück. Das helle Licht blendete mich und ich kniff kurz meine Augen zusammen. Mein Schädel brummte immer noch.
Von meinem Zimmer aus hatte ich einen perfekten Blick in den verwilderten Garten des alten Nachbarhauses. Tatsächlich stand die Haustür offen und kräftige Männer trugen große, braune Kartons in das Haus. Auf der Straße stand ein LKW, zu dem die Möbelpacker immer wieder zurückkehrten und neue Kartons holten. Aber die neuen Nachbarn waren nirgends zu sehen.
,,Du hast recht, Nana", murmelte ich. ,,Wir haben wohl neue Nachbarn."
Danach waren meine Pläne für diesen Samstag - weiter im Bett rumliegen - ins Wasser gefallen. Meine Großmutter schickte mich zu Richie, um schnell Eier, Milch, Backpulver, Kirschen und weitere Zutaten zu besorgen. Danach standen wir bis zum Abend in der Küche und buken Kirschkuchen.
Er roch wunderbar und als er endlich fertig war, wollte ich nichts anderes als ihn zu essen, aber sie hatte etwas dagegen. Schließlich sollte der Kuchen ein Willkommensgeschenk für die Nachbarn sein. Während meine Großmutter sich also im Fernsehen zum ungefähr fünfhundertsten Mal Frühstück bei Tiffany anschaute, verließ ich das Haus mit einem riesigen Kirschkuchen, den ich nicht essen durfte.
Der LKW der Möbelpacker war schon verschwunden, als ich das quitschende Gartentor öffnete und den Weg zum Haus entlanglief. Das Nachbarhaus war eine riesige, alte Villa nach viktorianischer Bauart. Es hatte drei Stockwerke und bestimmt zwanzig Zimmer.
Der Weg meiner Großmutter war ordentlich gepflastert, hier wuchsen Pflanzen zwischen den Rillen und die Steine waren uneben und an manchen Stellen auch locker. Der Vorgarten war zugewachsen und glich dem Dschungel in Vietnam. Langsam näherte ich mich der Haustür. Grillen zirpten und der Himmel verfärbte sich langsam rosa und orange. Eine plötzliche Brise ließ mich kurz frieren. Mir kam es hier kälter vor, als auf dem Grundstück meiner Großmutter. Aber das war natürlich nur Einbildung. Oder?
Ich klingelte und bemerkte das Schild, welches ich bereits an der Tür hing. Abernathy stand dort. Geduldig wartete ich und klingelte schließlich ein drittes Mal. Ich runzelte die Stirn und beschloss schließlich, es morgen noch einmal zu versuchen. Wahrscheinlich war gerade keiner Zuhause. Ich drehte mich also wieder um und lief langsam auf das Gartentor zu. Plötzlich wurde die Haustür hinter meinem Rücken aufgerissen und ich zuckte vor Schreck zusammen. Ich wirbelte herum und betrachtete überrascht den Mann, der dort in der Tür stand.
Er war groß und schlank. Seine Kleidung war ordentlich, er trug ein weißes Hemd, einen Pullunder und eine dunkle Nadelstreifenhose. Er hatte kurzgeschnittenes, schwarzes Haar, welches er zurückgekämmt hatte und trug eine strenge Nickelbrille. Seine Augen waren dunkelbraun, beinahe schwarz und musterten mich stechend.
,,Was willst du auf meinem Grundstück?", fragte er mit leiser Stimme und betrachtete meine Schlaghose aus Jeansstoff, das bunte Hemd, meine Lederjacke und die schmutzigen Sneaker angeekelt.
,,Und warum klingelst du so penetrant ? Es ist 21:37 Uhr. Man könnte meinen, manche Menschen möchten um diese Uhrzeit ungestört sein."
Kurz überlegte ich mir, ob dieser Mann mit Kate Kretschmer verwandt sein könnte. Er war mindestens genauso schrecklich wie diese furchtbare Frau, die ich nun dreimal in der Woche ertragen musste.
,,Entschuldigen Sie, Sir", begann ich und kratzte mich am Hinterkopf. ,,Ich wollte Sie wirklich nicht stören. Es ist nur so ... meine Großmutter und ich, wir haben diesen Kuchen für Sie gebacken. Als Willkommensgeschenk, verstehen Sie? Willkommen in der Nachbarschaft, Mister Abernathy!"
Mister Abernathy betrachtete kurz den Kuchen und dann wieder mich. Er trat einen Schritt näher an mich heran. ,,Merk dir eines, Junge. Wir sind keine freundlichen Menschen und möchten nichts mit anderen Menschen zu tun haben."
Dann knallte er die Tür zu und ließ mich ratlos mit dem Kuchen zurück.
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