Der Zauberhügel. Oder: dreißig Sekunden
Ich fahre in einem Flytog nach Oslo, und ich könnte jetzt schlafen oder Stricken oder Schokoriegel essen und würde dafür bezahlt werden: Dienstreise eben. Ich liebe Zugfahren. Es fühlt sich komisch an, für etwas das man mag, bezahlt zu werden. Und noch komischer, dass andere Menschen das schon lange nicht mehr so sehen können. Dass Leute froh sind, dafür bezahlt zu werden, oder dieselben Wege fliegen und dabei noch die Augen rollen und anstatt auf die Schönheit unter ihnen und den Zauber der Wolken zu sehen, auf ihre Bildschirme starren und arbeiten und arbeiten und arbeiten. Der Dienstreisende steht dann eben ganz im Dienst des Dienstes.
Ich könnte jetzt ein schlechtes Gewissen haben, dass ich gerade nicht mit der nächsten Interviewpartnerin ein vorbereitendes Telefonat führe oder Texte korrigiere. Doch das möchte ich nicht. Allen meinen Kolleg*innen würde ich auch zu einer ruhigen Reise raten. Warum also nicht mir.
Für mich steht die Reise für einen Zwischenraum, in dem ich mal eben aufatmen und mich neu in der Welt befindlich fühlen darf. Thomas Mann schrieb am Anfang des Zauberbergs über den reisenden Menschen: „Der Raum, der sich drehend und fliehend zwischen ihn und seine Pflanzstätte wälzt, bewährt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit vorbehalten glaubt; von Stunde zu Stunde stellt er innere Veränderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ähnlich sind, aber sie in gewisser Weise übertreffen. Gleich ihr erzeugt er Vergessen[...]."
Wann war ich eigentlich das letzte Mal zuhause?
Oh scheiße.
Wenn es kritisch wird, habe ich mir angewöhnt, angestrengt auf etwas zu blicken, das ich schön finde, aber nicht zu schön. Wenn ein Mensch den ich liebte mir von seinen Sorgen erzählte und es mir die Tränen in die Augen trieb, studierte ich statt seines liebevollen Gesichtes angestrengt das breite Blatt der Zimmerpflanze neben ihm, während ich in dieser Starre bewegt zuhörte. Es half oft.
Und wie ich nun aus dem Fenster meines Schnellzuges blicke, komme ich auf einmal auf die Idee ein Album zu hören, welches ich schon seit Jahren nicht mehr gehört habe. In letzter Zeit dreh ich zum Arbeiten immer aufputschende Musik auf, passend zu meinem Alltag. Und jetzt höre ich plötzlich „This is the beginning" von BOY, und erinnere mich, wie ich dieses Lied am Tag meines Einzuges in meine erste WG am Abend auf meiner Stereoanlage gehört habe. Wie ich „Hang up some posters, an make this a home" mitgemurmelt habe, und eine ganz tiefe Freude mich erfüllt hat. „Walk down the stairs and open the door, look at the tings you've never seen before. This is the beginning, of anything you want.". Ich erinnerte mich, wie ich schon in der Oberstufe und zur Zeit meines Abschlusses die ganze Zeit dieses Lied gehört habe, und es kaum erwarten konnte. Und dann ist dieser Moment irgendwann wahr geworden, und ich saß in meinem eigenen WG Zimmer auf meinem flauschigen Teppich und legte diese CD ein und saß im Lampenlicht. Ich hatte es so lange kaum erwarten können und dann war es auf einmal einfach da gewesen. Darum habe ich es auch bis heute nicht vergessen.
Warum ich dieses Lied nicht nach einem weiteren Umzug mit meiner Wg und meinem Zusammenzug mit meinem Freund oder dem Einrichten meines ersten eigenen Büros gehört habe, weiß ich nicht. Und warum ich mich an die Abende all dieser Tage nicht mehr erinnern kann, auch nicht.
Manchmal frage mich, ob alle Menschen dieses Gefühl kennen, dass aus dem nichts die Nostalgie auf eine ganz einnehmende und alles verzaubernde Weise über einen hereinbricht. Oder ob alle Menschen das Gefühl kennen, mit Eindrücken - sei es ein Lied, ein Werbeplakat, die Fassade eines Hauses, die Art wie Wäsche auf einer Leine hängt, ein Fahrrad an einer Straßenlaterne lehnt oder eine Person ihren Schal um den Hals wickelt - ob andere Menschen auch mit solchen kleinen Eindrücken ein ganz ganz starkes Lebensgefühl, eine Interpretation des Lebens verbinden, so wie es mein Blick auf die Welt immer wieder tut.
Ich weiß noch, wie ich als Kind einmal an meine Mutter angelehnt auf der Couch lag und noch über das rote Kleid und einer Schauspielerin nachdachte, die rote Rosen in der Hand hielt und mit geschlossenen Lippen lächelte. Und dann kamen die Nachrichten. Ich blickte wie gebannt auf die Tagesschau und zog die fusselige etwas harte dicke Filzdecke, die nach dem Kleiderschrank meiner Oma roch, etwas näher an mich heran, warf einen Seitenblick auf meine Mama, die blaues Fernsehbildschirmflimmern im Gesicht hatte und meinen Blick nicht bemerkte, und fragte mich dann,
ob nur ich das fühle.
Die Nachrichten. Ein Mann trug sie in ernster Stimme vor und man sah viele schlimme Bilder. Und auch wenn es zwischendurch weniger schlimm war, blieb dieses Gefühl. Es war nicht einmal echte Trauer oder Angst oder Wut. Immer nur so etwas kurz davor, ganz groß doch ganz weit weg. Ernst und bedrückend, verwirrend, verdrängbar. Ich überlegte mir, wie ich dieses Gefühl nennen könnte, und mir viel nichts ein. Ich glaube, ich habe aber irgendwie an "Grau" gedacht. Und ich habe mich gefragt: ob meine Mama das auch fühlt. Ob meine Oma und mein Opa das fühlen, ob andere Menschen in anderen Wohnzimmern das fühlen. Oder nur ich. Ich war mir sogar fast sicher, dass nur ich es fühlte. Ich war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Und dachte allen Ernstes, das ich allein damit wäre. Allein mit dieser potenziellen Trauer, die über so vielem schweben kann.
Eigentlich sollte man zuerst das Teilen vom Weltschmerz entdecken, bevor man ihn selbst entdeckt. Aber hey, so hatte ich wenigstens erst die schlechte Nachricht, und dann die Gute.
Gibt nämlich auch gute Nachrichten.
Vielleicht lese ich deshalb bis heute keine Tagesaktualitäten aus der Desktop Inbox, sondern nur ausführliche Online-Artikel zu bestimmten Themen, die sich einer Sache wirklich eindringlich widmen, anstatt mit Warnungen um sich zu werfen. Jetzt gerade lese ich eh nichts, sondern betrachte immer noch die vorbeiziehende Landschaft. Ich kenne brandenburgische Kiefernwälder und mitteldeutsche Industriegebiete an den Gleisen, ich kenne verfallene Leipziger Bahnhöfe und die überall schrulligen Schrebergärtchen. Mit den Landstrichen Norwegens blickte ich nun auf etwas, das ich halb kannte und halb fernwehaft erträumt glaubte, eine Landschaft die halb neu, halb visionär-vertraut war. Und trotzdem kam dabei diese schöne Verbundenheit auf, die, die immer auch ein klein wenig wehtat. Halb Sehnsucht, halb Akzeptanz, am Ende einfach Betrachtung - immer eine Sekunde davor die Neugier und eine danach die Wertschätzung. Ein bisschen wie die hereinbrechende Nostalgie, nur ohne richtige Vergangenheit dazu.
Mittlerweile lief in meinen Kopfhörern „Waitress" von Boy, und ich fragte mich, wann ich zuletzt ein Album komplett gehört hatte. Ohne Spotify Mix, ohne Überspringen vom Liedern und mit ganzer Zufriedenheit von Anfang bis Ende. „She's counting the days, until real life arrives.". Ich denke an bunte Teppiche vor Duschen in hellen Badezimmern in gemütlichen WGs, ich denke an MDR Kultur am Morgen und Cornflakes auf dem Balkon vor der Schule. Ich denke, dass alles irgendwie schonmal da war. Und dann verliert und vergisst man es mit der Zeit, doch eines Tages erinnert man sich, so hat man das Leben auf einmal wieder neu in der Hand.
Ganz wenige Minuten noch, dann muss ich am Bahnhof und muss aussteigen. Ich beginne viel zu spät, mein Zeug zusammen zu packen, die Kopfhörer als letztes, erst das Lied endet. Schon während ich sie wegstecke, breitet sich auf einmal ein ganz schmerzliches Gefühl in mir aus, so, als würde man sich stark Sorgen um jemanden machen. Doch es ist einfach nur das schlechte Gewissen, gerade nicht gearbeitet zu haben. Stress und Schuldgefühle. Fast ein bisschen zu stark ist es, und gleichsam irritiert es mich. Die Musik war vielleicht gerade das letzte, was mich davon abgelenkt hatte. Alle Leute steigen aus dem Zug aus und ich schiebe mich als Nachzüglerin durch die Gänge. Im Augenwinkel erhasche ich einen jungen Mann, der hastig seinen Laptop schließt.
Mit dem Geräusch des Zuklappens fährt ein Schreck durch mich, doch ich laufe weiter zur Tür. Die bedrückenden Gefühle sind plötzlich weg und ich fühle scheinbar grundlos: sehr wach, bereit, verändert. Ich trete aus der Tür, bleibe am Gleis stehen, werde angerempelt, habe keine Aufmerksamkeit übrig, um mich zu entschuldigen.
Da steigt der Mann mit dem Laptop auf dem Arm aus dem Zug, er ist der Letzte. Es strömen derweile schon andere Menschen herein, der Aussteigende muss sich hindurchkämpfen doch tut dies mit der Güte eines Menschen, dem das Ziel auf eine selbstlose Art so wichtig ist, dass er entgegenkommende Hindernisse friedlich akzeptiert, und dabei versucht einfach selbst besser damit umzugehen, anstatt die Schwierigkeiten seines Weges zu beklagen oder zu bekämpfen. Genauso, nur etwas unbeholfener, kämpfe ich mich ihm entgegen.
"Moritz!", rufe ich.
Er hebt den Blick, ruckartig und fokussiert. Ich erkenne ihn so sehr in seinem jetzigen Ich wieder. Nochmals rufe ich seinen Namen und hebe die Hand. Als sein Blick auf mich trifft, zieht er die Augenbrauen zusammen, leichte Verwirrung zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Nun bin ich bei ihm angelangt, und obwohl ich das eigentlich nicht will, stolpere ihm kurz so entgegen, dass ich mich an seinen Schultern festhalten muss. Schnell lasse ich los. Die Menschen um uns herum verflüchtigen sich, und ich kann einen Schritt von ihm zurücktreten.
"Ich bins, Johanna."
Die zusammengezogenen Augenbrauen heben sich sofort. "Johanna!", sagt er, und irgendwie lässt es mein Herz springen, dass mein Name damit erste ist, was er sagt. "Wie geht es dir?", frage ich ausbrechend, meine Stimme ist am Ende noch gehoben, so als hätte ich direkt noch weitere Fragen stellen wollen. "Gut, gut.", meint er, und es klingt etwas höflich-unsicher, doch deutlich und positiv betont, doch irgendwie auch verwirrt, vermutlich darüber, dass man im selben Moment erkennt wie man sich selbst und sein Gegenüber mit stark verkürzten und alltagskonformen Wendungen... - belügt. "Und dir?", fragt er. "Ja, auch.", sage ich, und klinge dabei genauso.
Seine Pupillen zucken leicht hin und her, als er mich ansieht, so als würde er in mein linkes und wieder rechtes und wieder linkes Auge blicken. Doch das kann ich ja auch nur sehen, da ich ihn wahrscheinlich gerade genauso deutlich betrachte. Seine Sommersprossen von damals hatten waren etwas verblasst und seine Haare waren heller als früher, fuchsrot zu strohblond, ich frage mich, wann und wie schnell das wohl passiert war. Er sah aus wie ein ausgeblichenes Foto. Und sein Blick sagt es zwar schon, doch ich muss es aussprechen: "Wir haben uns so lange nicht gesehen!". Er nickt. "Ja..-ja!", setzt er mit einem noch etwas deutlicheren Nicken hinzu.
Plötzlich sieht er um sich. "Mein Anschlusszug.", sagt er eindringlich und sieht mich wach und ernst an. Ich fühle sofort einen Anflug von einem Gefühl, ihn am liebsten am Arm festhalten zu wollen. Und dann das Wissen, das das so nicht geht. "Ich muss - ich muss wirklich..!", er schüttelt den Kopf und ist im Inbegriff, sich wegzudrehen. Sein Blick rast zu mir, und wieder fort, hin und her. "Lass uns Nummern austauschen!"; rufe ich schnell. "Es geht nicht!", sagt er mit der Neutralität einer sehr gestressten und sehr freundlichen Person. "Aber...!", will ich erwidern, nur weiß ich nicht, was.
"Was sind denn getrennte Jahrzehnte gegen einen Anschlusszug?"
Kurz schießt mir der Gedanke an meiner eigene Bahnverbindung in den Kopf, und damit sieht es wahrscheinlich nicht besser aus. Doch die Vorstellung ihm nachzurennen fühlt sich auf einmal zu schmerzhaft an. Der Schmerz kam so direkt, weil ich ihn schon so gut kannte.
"Was machen wir denn jetzt?", werfe ich ihm vor.
"Ich weiß es nicht, es tut mir leid Han.".
Und das tut weh. Und plötzlich sieht es aus, als würde er mit sich ringen. Ich hab schon aufgegeben.
In diesem Moment umarmt er mich, kurz und fest. Und dann rennt er los, so schnell, wie Erwachsene mit einem Laptop unter dem Arm es gerade noch tun können. Er macht große Schritte, an einer Ecke bremst er hastig -
Er ist sehr schnell an dieser kleinen Ecke auf diesem riesigen Bahnhof aus meinem Sichtfeld verschwunden.
Das alles hatte gerade vielleicht dreißig Sekunden gedauert.
Ich versuche an meinen Anschlusszug und meinen Flieger zu denken. Doch es geht nicht. Ich versuche nicht daran zu denken, dass wir gerade vielleicht stundenlang nur wenige Plätze voneinander entfernt saßen und es durch den Blick auf Handys und Laptopbildschirme und Fensterträumereinen und geschlossene schlafende Augen nicht erkannt haben. 2,5 Stunden lang, vielleicht nichtmal 2,5 Meter voneinander entfernt. Ich versuche nicht daran zu denken. Doch es geht nicht.
Wo ist mein Gleis, wie spät ist es, hab ich alles dabei? Will ich mich fragen. Was fühlst du? Will ich mich nicht fragen.
Eigentlich will ich einfach loslaufen. Doch ich bleibe stehen und schließe die Augen, senke den Kopf, schlinge die Arme um meinen Körper und krümme mich zusammen. Ich weine ganz leise und bleibe ganz ruhig stehen, auch wenn es mich schüttelt.
Dann musste es weiter gehen, auf einmal tat gar nichts mehr weh.
Später im Flieger sah ich nach Draußen und es war mir egal.
Als ich Abends in einem Hotel in Helsinki mit atemberaubendem Ausblick ins Bett falle, denke ich auf einmal an meine Katze, die schon lange gestorben ist. Und plötzlich vermisse ich sie.
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