Der Wortlose und die Workaholic

Sie sahen sich die Woche über nicht. Sie sah ihn nicht, weil sie Kommunikations- und Medienwissenschaften studierte und auch schon in einem Startup für mehr Nachhaltigkeit in der Lebensmittelbranche im PR Bereich arbeitete und zum Boxen ging und in politisch-kritische Gruppen und auf Demos und Aktionen. Das mit den Demos und dem Boxen hatte natürlich überhaupt nichts mit einander zu tun.

Sie trank nicht und rauchte nicht, und sie ging auch nicht feiern. Auch wenn sie tanzen konnte wie die Sonne scheinen konnte. Zu jeder Musik, auch wenn niemand mitmachte, und mit ganzem Herzen und ganzer Kraft, bis der Schweiß tropfte. Oh, eine Weile war sie jedes Wochenende draußen gewesen, doch das war, bevor sie angefangen hatte zu arbeiten. Sie trank nicht und rauchte nicht, aber Grüner Tee, Kaffe und Mate taten ihr übriges. Manchmal zitterten ihre Hände, wenn diese kurz über der Tastatur schwebten, weil ihr zugedröhnter Kopf von einer Sekunde auf die andere nicht mehr weiterwusste und einfach eine Pause erzwang. Bis ihre Fingerspitzen weiter rannten, über die Buchstaben.

Und sie hatte einen wilden Pony und einen Undercut, fast schon ein Mullet, und 2 Ringe in der Nase und Acryl-Creolen mit Leopardenmuster und sie trug immer irgendeine Form von Rollkragen, und wirkte dann doch wieder sehr seriös, und Pronomen waren ihr egal. Aber ich nenne sie sie, weil sie bei ihm irgendwie immer sie ist. Viele dachten immer sie wäre lesbisch, bis sie ihn eines Tages anschleppte. Wirklich, anschleppte. Zog. Schliff. An der Hand.

Sie sahen sich die Woche über nicht. Er sah sie nicht, weil er zuhause war und Depressionen hatte. Weil er seine Musik machte und seine Industriezigaretten aufrauchte und ab und zu durch den Second Hand Laden oder hunger-gezwungernermaßen durch einen Lebensmitteldiscounter stromerte, wenn mal ein guter Tag war.

Er trank ein bisschen und rauchte ein bisschen viel und war mit seinen Leuten draußen. Und er hatte die wohl chilligste Art zu reden. Dope ést dope. Und er war ehrlich. Und wenn er singen wollte, sang er einfach. Und wenn jemand traurig war merkte er das. Und wenn jemand zu ihm sagte: hey, ich finde das cool, dass du Ringe an den Fingern und einen Schal um den Hals trägst, ich würde auch gerne Ringe und einen Schal tragen, überwinde mich aber nicht, sowas mal zu kaufen. Ja, dann schenkte er der Person seine Ringe und seinen Schal und sagte ihr, dass sie ihr sicher gut stehen würden und dass es schon passt so, dass er eh noch genug fancy Stuff zuhause hat. Und dann machte er sich am nächsten Tag auf den Weg in den Second Hand Laden, weil er nur die zwei Ringe und nur den einen Schal besessen hatte. Er redete auch mit Obdachlosen. Und mit Kindern. Bis die Eltern sie misstrauisch weiterzogen. Die Wohnungslosen, die blieben aber. 

Und sie hat eine ganze Weile versucht, ihm das Rauchen auszureden. Für ihn einen tollen Job zu finden. Ihn raus an die frische Luft zu bewegen (ohne Bier im Park) und ihn zum Sport machen zu bringen. Bis sie gemerkt hat, dass er okay ist, wie er ist. Er las ihr zum Einschlafen vor oder sang etwas, oder kraulte ihr den Kopf. Er ging einkaufen und kochte unbeholfen, er nahm ihre Wäsche erst aus dem Wäschekorb und dann aus der Waschmaschine und dann vom Wäscheständer, und: er schwieg mit ihr.

Denn nach jeder Woche kam ein Wochenende, und dann kam er sie besuchen. Das war das Aktivste, was er jede Woche machte. Es kostete ihn teilweise echt Überwindung. Das Geld für die Farhrkarte auszugeben, mit so vielen fremden Menschen im Zug zu sitzen, abzuwarten, Ungewissheit, Verspätungen und Umsteigen. Nicht wissen, ob sie nicht vielleicht doch jemand anderen kennengelernt hatte, die Woche über. Sie hatte ihn von Anfang an gewarnt, dass sie gerne emotional über die Stränge schlug. Und dann hatte sie ihm im selben Zuge sofort ihre radikale Ehrlichkeit zugesichert, und er konnte ihr glauben. Vielleicht nicht immer vertrauen und nicht immer  sich Sichersein, aber wenn er eins konnte, dann ihr wirklich zu glauben, wenn sie etwas sagte.

Und sie wartete ehrlich sehnlich auf jedes Wochenende, auch wenn sie ihn mittlerweile aus Zeitnot nicht mehr vom Bahnhof abholte. Aber sie kam immer zur Tür, manchmal sogar ins Treppenhaus. Wenn er da war, war das immer ein bisschen Frieden. Das Wochenende war ihre einzige Entspannung. Die Zeit, in der sie ihren ganzen Aktivismus mal ablegte. Wo das Fordernste was sie tat darin bestand, ihn aufs Bett zu schubsen.

Letztens ist sie vor Erschöpfung auf seinem Schoß eingeschlafen, noch bevor sie überhaupt Abendbrot gemacht haben oder sich von ihrer Woche erzählt haben. Sie hatte ihre Arme um seinen Rücken geschlungen und seinen fast leeren Bauch gluckern gehört. Und irgendwann ist sie davon eingeschlafen. Und ist davon wieder aufgewacht, dass er zu hastig geatmet hat, um Schluchzer zu unterdrücken. Sie hat sich gleich aufgerichtet und dann die wenigen aber ewigen Minuten abgewartet, die er sich noch hinter seinen Handflächen versteckt hat. Und dann hat sie gefragt: "Hey, was ist los?" Und er hat die Schultern gezuckt und den Kopf geschüttelt.

"Du weißt, dass ich dich lieb habe, so wie du bist?" hat sie gefragt. "Ja, mittlerweile glaube ich dir das auch." hat er dann gesagt, und: "Aber hast du dich auch selber lieb, so wie du bist?". Da stutze sie kurz. Und dann sagte sie: "Ja, ich hab mich schon lieb, auch wenn ich manchmal zu viel machen will und dann ein Arsch zu mir und anderen bin, in meinem Willen  die Welt zu retten, aber lieb hab ich mich." Sie hatte damit alles gesagt. Er nicht.

"Aber ich hab dich so nicht lieb. Und mich auch nicht. Das ist alles so scheiße unfair. Aber wir ändern das ja nie!" Und mit diesen Worten verabschiedete er sich nochmal 3 Minuten hinter seine Hände mit dem abgeblätterten Nagellack auf dem kleinen Finger. Und sie starrte vor sich hin, sie war ein bisschen unemotional geworden im Alltagstrubel und Arbeitsstress. Und hatte immer einen zu hohen Spiegel an gestressten und glücklichen Hormonen.

"Aber ich hab uns so lieb." meinte sie und zuckte die Schultern. Seine hörten in diesem Moment auf zu beben und er ließ sie sinken. Dann sah er sie so wunderschön ernüchert an, wie kein Besoffener grinsen kann: 

"Sowas nennt man Abhängigkeit. Toxische Beziehungen. Denkst du echt, das ist gut so?"

"Ich weiß es doch auch nicht!", sagte sie. "Ich weiß nur, dass ich jetzt keine polyamurösen Beziehungen mehr will, seit ich dich habe ist der Gedanke immer mehr gegangen, und in meiner Riesen-Wg, will ich auch nicht mehr wohnen. Das war ne ganze Weile richtig toll, ja, ok- aber wollen wir vielleicht einfach mal zusammenziehen und sehen, ob wir diese Ungerechtigkeit dann immernoch aushalten, oder ob sie sich ändert, oder was auch immer?"

Er nickte. Und dann redeten sie über ihre Woche und machten Abendbrot. Und am nächsten Morgen guckten sie sich Wohnungen an und lachten darüber, wie komisch ein Badezimmer geschnitten war, so dass das Klo den Weg zur Badewanne halb blockierte. Nächste Woche die ersten Besichtigungen. Na mal schauen.

(...Es wird nicht funktionieren. So ist das Leben leider. Es kann immer nur bruchstückchenweise so wunderschön-tiefentraurig sein. Es ist nur kurz Kunst. Danach wird es wieder eine Wissenschaft. Und dann ziemlich kompliziert und vor allem: entromantisiert.)

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