Den hab ich Nachts gefunden √
Meine Mitbewohnerin fragte mich am nächsten Morgen überrascht, wen ich denn da aufgegabelt hatte. Ich zuckte nur die Schultern und meinte: "Den hab ich Nachts gefunden.", denn besser konnte ich es nicht beschreiben. Und es war auch nicht mehr und nicht weniger gewesen.
Es war wirklich genauso passiert: wir sind uns Nachts unter einer Straßenlaterne begegnet. Ich, weil ich Licht brauchte um mir einen Zettel durchzulesen, den mir ein Typ im Club im Dunkeln zugesteckt hatte, und er, weil er Licht brauchte um im Rucksack energisch nach seinem Schlüssel zu kramen, welchen er nicht fand. Ich hab ihn dann gefragt was er da denn macht und er schilderte mir kurz und knapp sein Problem: "Schlüssel verspittelt!" dann zog er die Reißverschlüsse wieder zu und meinte: "Och scheiße."
Im Anschluss daran unterhielten wir uns über Dinge verlieren, Dinge finden, Dinge suchen, und es war die ganze Zeit eigentlich ein sehr witziges und oberflächliches Gespräch, aber so wie das bei manchen atzigen Dialogen ist: irgendwie steckt manchmal total viel Deepes Zeug dahinter. Aber vielleicht ist das auch nur meine Sicht. Ich hab in der Schule immer gerne Gedichtanalyse gemacht im Deutschkurs. Vielleicht liegt es ja daran.
Irgendwann meinte ich, dass Dinge loslassen ja auch nur gezieltes Verlieren ist. Dabei schmiss ich den Zettel von dem Typen aus dem Club in den Müll. Ich hatte irgendwie gerade keine Lust mehr auf all das, wusste aber auch nicht, wie ich da gerade raus kommen sollte. Vielleicht war ziemlich zeitig aus dem Club raus zu gehen ja schon einmal ein guter Schritt gewesen.
Er war ganz niedlich und so ein bisschen schön und ziemlich selbstironisch-freundlich, dass ich beschloss, ihn einfach bei uns pennen zu lassen, bis er morgen eine bessere Lösung für das Schlüsselproblem findet.
Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, war das vielleicht auch kein Schritt weg von meinem aktuellen Männer Problem. Doch das beachtete ich in dieser Sekunde nicht, ich war ja nur nett.
Ich ließ ihn also in unsere Wg und sagte ihm er soll seine Schuhe ausziehen, ziemlich hässliche Sneaker waren das, und dann gab ich ihm ein paar opamäßige Pantoffeln.
"Das sind ja lustige Schuhe.", sagte er und machte einen schlappigen Schritt damit.
Ich guckte ihn verwundert an und nickte kurz.
"Okay willst du deine Jacke ausziehen?", fragte ich.
"Ja, später vielleicht. Und du?"
"Äh.. ja."
Warum um alles in der Welt stellte er diese Gegenfrage? Ich glaube ich hatte die falsche Entscheidung damit getroffen, ihn in die Wohnung zu lassen. Draußen im Dunkeln war es mir nicht aufgefallen, doch jetzt im Licht fand ich ihn etwas awkward und komisch.
Oh mann.. was sollte das nun werden?
"Komm mit.", sagte ich und ging wieder in die Küche.
Er schlurfte hinter mir her und guckte sich dabei im Flur um als wäre dieser etwas unglaublich Interessantes.
In der Küche stand er genauso nutzlos und unorientert rum, was mich irgendwie zum Schmunzeln brachte.
"Na, gefällt dir die Küche?", fragte ich ihn einfach.
Er nickte bedächtig.
"Cool.", sagte ich und nickte auch.
Ich glaube, der Typ war ablosut komisch drauf und entweder hilfloser und harmloser als eine Babyschildkröte die auf dem Rücken liegt, oder aber ein absoluter Psychopat. Eine Schnappschildkröte.
Vielleicht lagen diese beiden Dinge ja auch gar nicht so weit auseinander.
Vielleicht war er ja ein hilfloser Psychopat.
Oder ein niedlicher.
Oder eine Baby Schnappschildkröte, die auf dem Rücken liegt.
Im Endeffekt war es mir egal, denn wenn er mich umbrachte dann starb ich wenigstens mit seinem schönen Anblick, und ausserdem konnte ich mir dann meine Zwischenprüfung sparen.
Meine Ausbildung war zurzeit nicht so toll. Und mir im Leben nicht so Viel so wichtig. Aber wahrscheinlich glaubte ich das gerade nur, weil ich zurzeit um nichts kämpfen musste. Man weiß erst was man hatte, wenn es weg ist - und so.
Ich richtete meinen Blick wieder auf ihn. Er schaute sich die Stühle an, strich nachdenklich über die Sitzfläche und
setzte sich auf den Boden.
"Ehm.. alles klar?"
Er guckte hoch wie ein Küken aus dem Nest: "Ja, wieso?"
"Naja du sitzt auf dem Boden."
"Achjaa!", er schlug sich gegen die Stirn und kniff die Augen zusammen.
Dann rappelte er sich auf, verlor dabei den linken Pantoffel den er hastig wieder anzog und setzte sich im Gegensatz dazu dann betont chillig auf einen Küchenstuhl.
Ich beobachtete ihn schweigend und hatte wirklich keine Ahnung was ich dazu sagen oder davon halten sollte.
Er saß ein paar Sekunden starr da, den Blick als würde er auf etwas warten, bis er schliesslich aus seiner Trance zu erwachen schien und feststellte:
"Nee."
Und dann setzte er sich wieder auf den Boden.
Mein Blick war bestimmt fassungslos, aber er reagierte nicht darauf.
Ich wusste jetzt nicht was ich machen sollte.
Also machte ich die Dinge so, als würde ich nicht wissen wie man sie besser macht.
So wie er.
Ich war froh dass ich so open minded war. Vielleicht hatte er ja Drogen genommen. Oder war gerade auf einem anderweitigen Selbstfindungstrip.
War in Dresden Neustadt ja nicht ungewöhnlich, interessante Leute anzutreffen.
Ich setzte mich also zu ihm runter auf den Boden.
"Der Boden eignet sich besser zum Sitzen?", fragte ich
"Ja.", sagte er.
"Warum?"
"Es ist eine größere, tiefere Fläche."
Ich nickte.
"Aber auf dem Tisch könnte man bestimmt auch gut sitzen.", meinte er dann.
"Du würdest dich ernsthaft auf den Tisch setzen?"
"Warum nicht?"
"Weil das ein Tisch ist?"
"Das macht keinen Sinn."
"Warum?"
"Nur weil ihr den Tisch dafür gemacht und Tisch genannt habt heisst das ja nicht man kann nur ein was mit ihm machen."
'Hm.. ich könnte ihn auch umschmeissen und als Barrikade verwenden falls du deine Psychoseite zeigst.', dachte ich mir.
"Komm wir gehen ins Wohnzimmer", sagte ich stattdessen nur.
Denn da lagen nicht so viele Messer.
Und an Wohnzimmer lag der Balkon, neben dem eine Straßenlaterne stand, an der man fluchtartig nach unten rutschen konnte. Wenn man müsste.
Fragt nicht, warum ich das im Kopf habe oder woher ich das weiß.
"Okay.", zuckte er nur die Schultern und stand auf um mir zu folgen.
"Wo kommst du eigentlich her?", fragte ich ihn als wir an die Couch angelehnt auf dem weichen Teppich saßen.
"Ich hab grad keine Lust darüber zu reden, ich erzähls dir morgen, ok?", meinte er nur.
"Okay, aber versprich es mir."
"Gut."
Irgendwie wusste ich dann nicht mehr weiter, denn alle anderen Fragen die ich ihm über sich selbst stellte, beantwortete er genauso oder würgte sie anderweitig ab, die awkwarde Stille dazwischen war unerträglich und ich hatte irgendwann auch keine Energie mehr dafür. Mir viel auf: er redete über alles gerne und beantwortete ehrlich jede Frage: solange diese nicht auf seine Person abzielte. Denn dann machte er immer dicht.
Langsam hielt ich ihn trotzdem für keinen Psychopathen mehr, sondern einfach für schüchtern oder selbstlos - oder vielleicht war er ja auch ein Straftäter der sich verstecken musste - aber immerhin kein psychopathischer Straftäter.
"Wollen wir noch nen Tee trinken und willst du dann auf der Couch schlafen?", fragte ich. Er nickte und wirkte auf einmal etwas müde und wie jemand, der Geborgenheit braucht. Ich fragte ihn nach der Teesorte und er fragte nicht: "Welche habt ihr denn da?" oder: "Welche kannst du denn empfehlen?" sondern er sagte: "Gib mir die, die sonst nicht alle wird, weil sie niemand trinkt.". "Aber ich will dir doch nichts ekliges anbieten!", sagte ich. Seine blassbraunen Augen leuchteten ein bisschen als er dann meinte: "Kann ja sein, dass ich ihn doch mag. Und außerdem: Tee ist Tee. Ist kein Ding.". Ich nickte aber. Ich gab ihm meinen Lieblingstee.
Während der Wasserkocher rauschte unterhielten wir uns nicht, und irgendwie mochte ich es.
Auch während der Tee zog sagte er nicht viel und ich dachte: vielleicht ist er eine Metapher, ein Symbol, eine Aussage, aber ich weiß nicht, für was. Er tunkte halb gelangweilt, halb hingebungsvoll immer wieder den Beutel in das heiße Wasser. "Guck mal die Schlieren!", sagte er und zeigte darauf. Es sollte überrascht klingen, doch er war zu müde dafür. Ich hatte ihn ertappt, doch ließ es mir nicht anmerken. "Ja schön oder? Der macht die immer in der Farbe. Ich freu mich da jeden Morgen neu drüber.", sagte ich. Da sah er direkt mich an. Er hatte mich ertappt. Und machte mir das mit einem Blick sofort klar.
Wir hatten uns also beide ertappt: Er log ein bisschen, denn spielte seine Faszination nur. Und ich hatte gelogen, denn ich hatte ihm einen Tee gegeben, den ich täglich trank.
Da fiel es mir plötzlich ein, und mir fiel nicht nur ein, was ich fragen wollte, sondern auch wie
"Findest du, die Menschen sollten die Welt ab und zu so angucken, als hätten sie sie noch nie gesehen?"
"Absolut.", sagte er und versteckte sein Schmunzeln hinter der Teetasse. "Und ich finde auch: man sollte zu allen Menschen so freundlich sein, als würden man sie kennen und trotzdem lieben."
Ich starrte an die Decke, um mir meine Rührung nicht anmerken zu lassen. "Und ich dachte vorhin noch, du bist entweder komplett breit, oder komplett durchgeknallt!"
Er musste kurz lachen "Ich weiß, sorry.", sagte er dann etwas ernster.
"Ich hol dir mal ne Decke.", sagte ich plötzlich und stand schnell auf.
Dann drückte ich sie ihm in die Hand und fragte ihn, ob er noch irgend etwas braucht. Ich hätte ihn gerne noch einmal angesehen, doch irgendwie bekam ich es nicht hin. Manchmal sehe ich Menschen beim Reden sehr wenig an, ist mir in letzter Zeit aufgefallen. Doch es gibt ja noch den nächsten morgen, dachte ich, und sagte ihm nur kurz Gute Nacht und winkte noch einmal, und ging in mein Zimmer.
Aber den nächsten Morgen gab es nicht.
"Den hab ich Nachts gefunden.". "Achso", sagte meine Mitbewohnerin. Sie hätte in jedem anderen Fall die Augenbrauen gehoben und nen Spruch gebracht. Doch diesmal nicht. Und es wunderte mich nicht einmal. "Ich soll dir noch sagen dass es ihm leidtut dass er weg ist. Dass er gerne weiter gequatscht hätte, aber dass er das Gefühl hatte, das Gespräch hatte schon seinen Peak gehabt. Und dass du ihm geholfen hast, die Welt ein bisschen neu zu sehen. Und seine neue Sicht ist, dass er jetzt nicht mehr das Gefühl hat, immer so tun zu müssen als würde er alles neu sehen. Boah keine Ahnung was da gedanklich abging bei euch!" sie grinste mich an und ich musste auch ein bisschen lächeln. "Also meine Liebe, ich weiß ja echt nicht über was ihr gequatscht habt an dem Abend, aber es hört sich echt nach megamäßigem langem Deeptalk an!". Ich lachte kurz und meine: "Ach, so lange war es gar nicht.". "Soso, ein kurzer Laber-One night stand?". Und auch da nickte ich lachend.
Als sie dann weg war lachte ich nicht mehr und wurde ein bisschen traurig. Aber nicht lange. Und seit diesem One Night Stand hatte ich keine One Night Stands mehr.
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