Das Stolpern
Sie saß gerade mit Schnupfen am Fenster und aß die schärfsten Chinanudeln die der Lieferdienst lieferte, als sie ihn, wie jede Woche, die Straße entlangbrettern sah - und auch hörte. Sie war sich ziemlich sicher, er war der schnellste Skater der hier skatete. Er machte einen Ollie über eine Kante im Gehweg und ignorierte alles und jeden hinter sich, und so rauschte er beeindruckend und einzigartig dahin: etwas geduckt aber nicht gekrümmt, sondern bereit auf das was kommt, den Blick fokussiert nach vorne gerichtet, auf das was wirklich zählt, aber dadurch gezwungenermaßen auch etwas ignorant für das was an ihm vorbeizieht.
"Du.", sie zeigte ruckartig mit der esskulturbanausigen Gabel auf ihn und schnipste dabei eine Chinanudel an die Fensterscheibe: "Du lebst zu schnell." Sie beobachtete ihn bis er weg war, was ja aber auch recht schnell ging. Dann pflückte die Nudel wieder vom Fenster und betrachtete fasziniert die curryfarbenen Schlieren, die diese dort hinterlassen hatte. Und dann fuhr sie mit einem Zinken der Gabel fasziniert darin herum wie ein Kind mit einer Schaufel im Sand. "Und Du.", sie nahm die Gabel vom Glas und tippte auf sich selbst, wobei sie einen winzigen orangefarbenen Punkt auf ihren grauen Hoodie setzte "Du lebst zu langsam." Sie starrte durch ihr Curry-Fensterbild in die verschwommene Leere.
Na klar konnte sie ihrer Leidenschaft nachjagen. Oder sich eine suchen. Freunde treffen. Oder sich welche suchen. Sich selbst weiterentwickeln. Oder sich selbst suchen. Dem Leben Sinn geben. Oder einen suchen. Oh Mann, irgendwie musste man alles suchen, aber sie hockte nur hier zuhause und fand... es nichtmal langweilig. Sie steckte sich noch eine Ladung Nudeln in den Mund, Chinanudeln, die schärfsten die der Lieferdienst lieferte. Nasen-Nebenhöhlen-Entzündung hatte sie, und somit keinerlei Geschmackssinn.
Heute hatte sie einer Freundin geschrieben, das kriegte sie immerhin noch hin, und hatte dabei auf die Frage wie es ihr denn geht, geantwortet: "Ich hab mega Schnupfen und kann nichts schmecken was mir üübelst auf den Keks geht! (Den ich nicht schmecke, haha!!)" Und wirklich, dieser Frust über den Verlust dieses Sinnes war momentan ihr einziges Gefühl. Es war mit dem Nicht-schmecken-Können also fast wie bei depressiven Verstimmungen, so nach dem Motto: "Ich könnte jetzt etwas fühlen. Tu ich aber nicht." Und dann fühlt man sich leer weil man sich leer fühlt weil man sich leer fühlt und man fällt und fällt und fällt und...
Der Skater kam zurück. Auf einmal und ohne Grund und ganz plötzlich. Er schien es jetzt extrem eilig zu haben, es sah sogar mehr nach Stress als nach reiner Tempofreude aus. Konzentriert und schwungvoll düste er den leeren Gehweg lang, bereit für den Ollie über diese kleine Kante von vorhin. Er duckte sich vorher schon, machte sich bereit, doch jetzt war er schneller als sonst und so verschätzte er sich. Er schlug gerade noch, als hätte er es halb geahnt, die Arme vor den Kopf, bevor er der Länge lang auf den Gehweg flog, aber volles Brett.
Aber es sah nichtmal schlecht aus, sondern dramatisch. Sogar gut irgendwie. Wie ein gefallener Held der nicht Schuld ist an seinem Niedergang, und selbst am Boden liegend noch aufrichtig ist. Sie hielt im Nudelschlürfen inne. Sah wie er kurz dalag... und sich dann auf die Seite drehte und gekrümmt verharrte. Kurz überlegte sie. Und stellte dann mit einem Ruck die Packung Nudeln auf das Fensterbrett, so energisch, dass diese dabei leicht zerknitterte. Dann zog zum ersten mal seit Tagen ihre Jacke und Schuhe an, schnaufte wütend und aufgeregt, als sie ihre Schnürsenkel ruckartig zuband. Schloss die Wohnungstür auf, trat ins Treppenhaus, hielt inne, blieb kurz vor den alten Holzstufen stehen
Und auf einmal
Spürte sie ein leichtes Prickeln auf der Zunge. Ja sie.. sie schmeckte wieder etwas.
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