Das Poltern
Jetzt beeilt sie sich aber die knarzenden Stufen des Altbaus nach unten, und trotz dem Poltern spürt sie ihr Herz klopfen. Wie lange war das her, das sie das so gespürt hatte? Lag es am Rennen, oder daran dass jemand Hilfe brauchte, oder.. war sie deswegen etwa aufgeregt? Sie überspringt die letzte Stufe, dass es beim Aufkommen durch das ganze Treppenhaus hallt, schwingt die schwere schnörkelige Haustür auf, und steht - noch leicht schwankend - draußen auf der Straße. Plötzlich wird ihr etwas klar: Er müsste doch schon längst aufgestanden sein. So schlimm kann es ihn nicht erwischt haben. Sie überlegt. Ja, garantiert fährt er schon wieder weiter, mit einem Loch mehr in der Jeans, mit blutenden Knien, aber er fährt weiter. Irgendwie macht die das ruhiger und neugieriger zugleich. Sie will ihm doch eigentlich gar nicht begegnen, noch schlimmer: helfen müssen.
Wann hatte sie das letzte mal in Echt mit jemandem geredet, außer mit dem Lieferdienst und der Postbotin und dem Nachbar der nach Trockenhefe gefragt hat? Wann hatte sie das letzte mal mit einer gleichaltrigen Person gesprochen, ohne dass es um Lebensmittel oder Papierkram ging? Und wann hatte sie das letzte mal jemandem geholfen, und war nicht diejenige gewesen, die Hilfe gebraucht hatte? Nichtmal die blöde Hefe hatte sie dem Nachbar geben können, zumindest nicht zum Backen, sondern höchstens in Bier drin. Ein Relikt aus WG-Zeiten, als alles noch gut gewesen war. Sie schüttelt den Kopf, sie muss jetzt nicht an all das denken, sie muss jetzt erstmal über die Straße gehen und schauen ob er noch hinter den Autos liegt. Also macht sie sich mit einer Vielzahl an erwartungsvollen, zögernden, gespannten, ängstlichen, abenteuerlichen, epischen Gefühlen auf den Weg auf die andere Seite.
Und tatsächlich. Er liegt immernoch noch da, auf dem Gehweg. Und... - sie würde sich am liebsten einfach danebenlegen. Aber das ist ein viel zu komischer Gedanke und das könnte sie nicht machen. Aber.. was sollte sie denn jetzt überhaupt tun? "Brauchst du Hilfe?", krächtzt sie. Man versteht nur das letzte Wort so wirklich, aber das reicht ja. Sie bleibt stehen, ungefähr drei Meter von ihm entfernt. Er dreht sich langsam um, schaut sie über die Schulter an und kneift die Augen zusammen, als wäre er gerade geweckt worden. Als würde er sagen: 'Na ich schlaf hier. Was guckst du mich so an?'. Fast sieht er ein bisschen verwundert aus. Schauspielerte er? Was sollte das hier werden? Sie steht ganz still da. So gucken sie sich beide ein paar merkwürdige Sekunden so an, ehe er sich hochrollt und gemütlich in einen Schneidersitz auf den Boden setzt. Und dann blinzelt er breit lächelnd zu ihr nach oben, als wäre sie eine Erscheinung. Ihr Schatten fällt gerade so auf ihn, und um ihn herum ist alles abendsonnenorange. Wahrscheinlich musste sie in diesem Licht wirklich wie etwas Unreales aussehen.
"Nö, ich brauch keine Hilfe, eigentlich ist es ganz schön hier.", sagt er plötzlich und streckt kurz den Rücken durch um nochmal zu zeigen dass es ihm gutgeht. Sie ist verwirrt. Aber seine Stimme ist außergewöhnlich schön, stellt sie fest. Wie die eines Menschen, der sich gefunden hat und sehr bei sich, und sehr zufrieden ist. Ohne Selbstbetrug und Unsicherheit: ganz aufmerksam und entspannt. Er wirkt nicht verrückt, jedoch verhält er sich so, und sie weiß nicht ob sie einen Schritt auf ihn zu oder von ihm weg machen soll. Er.. hatte entweder eine Gehirnerschütterung oder dergleichen, und sie sollte ihm helfen, oder er war echt komisch drauf, und sie sollte ihn in Ruhe lassen.
Sie steht da, dreht sich kurz zum Sonnenuntergang um, um sich der Schönheit zu vergewissern, von der er gerade gesprochen hat - und muss ihm Recht geben. Sie nickt zustimmend, und dann...
setzt sie sich einfach neben ihn.
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