《3》Der Brief

„Du bist mit Abstand die schlimmste Person, die..." Unauffällig schob ich meine Hände unter meine Haare und verdeckte meine Ohren, damit ihr Gezeter nicht ganz so laut war. Es war spätestens sieben Uhr morgens und meine Nacht war viel zu kurz gewesen.

Gerade konnte ich mich an wenig erinnern, aber die Müdigkeit lähmt meine Angst oder Sorge um alles noch.
Ich will gar nicht wissen, woher die zwei Jungs gewusst hatten, wen sie hier anrufen konnten.

Mir war das auch alles egal, ich war froh, dass Julie mich abgeholt und mich durch die ganzen Busse und Straßenbahnen begleitet hatte. Der Monolog, den sie mir seit etwas einer Stunde hielt, war wohl ein notwendiges Übel.

„Ich bereue es wirklich, dass ich mitgekommen bin. Gretha und du, ihr klebt doch eh die ganze Zeit aneinander, Jonah ist nie da..."
Da hatte sie recht.

Ich fragte mich echt, wieso Julie überhaupt mitgekommen war.
Die Sache mit ihr ist...tja, so eine Sache.

Gretha war schon immer meine Freundin gewesen. Klassenkameradin,  Bekannte und irgendwie auch beste Freundin.
Wenn ich darüber nachdachte, dann hatten ich und sie wenig gleiche Interessen.
Sie war schon früh an vielem interessiert und wusste seit Kindestagen an, was sie mit ihrem Leben anstellen wollte.
Neben ihrem Instagram-Tumblr-perfektes-Mädchen-Image war sie vorallem ziemlich intelligent.

Julie allerdings war das komplette Gegenteil.
Wenn man sie zum ersten Mal im Leben traf, musste man sie für einen kleinen Engel halten. Falls Sie gerade nicht sprach, was ziemlich selten vor kam.
Aber auf den ersten, stillen Blick wirkte sie einfach nur wie ein kleines Mädchen, das niemandem böses tun konnte.
Ihre dunkelbraunen Haare kräsuelten sich in wilden Locken um ihr rundes Gesicht, ihre immer roten Wangen waren von Sommersprossen übersäht.
Doch diese friedliche Ausstrahlung ging ganz schnell verloren, wenn man sie Montag morgens schon quietschfröhlich über den gesamten Gang hatte schreien gehört.
Sie teilte ihre Meinung oder einfach nur Launen gerne lautstark mit ihrer gesamten Umgebung und ich bin mir sicher, dass ich nicht die einzige in der Klasse war, die ihr am liebsten mal eine geklatscht hätte.

Wir hatten uns kaum gekannt und in der Schule höchstens ein paar nette Worte gewechselt.
Wir hatten keine gemeinsamen Interessen, BTS hatte sie ziemlich nervig gefunden. Kann ich ihr jetzt nicht mehr verübeln. 

Einmal hatte sie mir im halb betrunkenen Zustand ein Vip-Ticket versprochen, für ein Konzert, dass sie gemeinsam mit mir besuchen würde.

Ihr Argument war, dass sie jetzt als Entschädigung mitkam, wenn sie mir das VIP-Ticket schon nicht geben konnte. Ich hatte kein Problem damit, aber ob ihre Anwesenheit damals wirklich als Entschädigung für ein BTS-Konzert galt...

„...Die ganze Nacht durch halb Korea zu rennen, um deine betrunkene Wenigkeit einzusammeln, dazu bin ich natürlich gut genug..." Ihre hohe Stimme verstärkte meine Kopfschmerzen noch zusätzlich.

„Julie...sei bitte still...", murmelte ich leise, aber laut genug für ihre Ohren.

Sie blieb stehen und riss mich damit aus dem schnellen Gang.

„Hast du gerade...hast du...?", regte sie sich weiter auf.

„Warte...nein! Es tut mir leid. Hör zu, ich hab nur so Kopfweh. Lass uns bitte im Hotel reden..."

„Wir reden nicht!", murrte sie. „Ich mache dir Vorwürfe und du hörst zu!" Jetzt musste selbst sie kurz lächeln.

„Danke."
„Ich hasse dich."
„Ich weiß."

Julie schüttelte ihren Kopf und zog mich dann weiter durch die Straßen Seouls.
Auf wundersame Weise überlebte ich den Weg bis zum Hotel, ohne an den Kopfschmerzen zu sterben.
Das alte Gebäude befand sich etwas abseits der Stadtmitte, es lag eigentlich eher außerhalb Seouls. Der Preis war unverschämt teuer dafür, dass wir in ständiger Angst leben mussten, die Leitungen würden platzen oder ähnliches. Trotzdem noch bezahlbarer, als alle anderen, nicht lebensgefährdenden Hotels.

Julie ließ mich für einen Moment los, um die Glastür zu öffnen und ich taumelte ein paar Schritte zurück. Wir traten durch den Türrahmen. Das Glas erzitterte, als die Tür hinter uns zufiel. Trübes Dämmerlicht empfing uns, der Eisenleuchter in der Mitte des Raumes spendete nur ein schummriges Gelblicht. Die Glühbirnen flackerten hin und wieder und gaben ein ungesundes Knistern von sich.

Julie hackte sich wieder bei mir ein und zog mich an der Rezeption vorbei, die nur aus zusammengeschobenen Schreibtischen befand. Der Teppichboden verschluckte das Klackern unserer Absätze, als wir über den Gang zu unserem Zimmer rannten. Hin und wieder hörte ich Stimmen hinter einer der Türen, Julies Atem war direkt neben meinem Ohr, ansonsten war es ruhig. An den Kupferfarbenen Zimmernummern konnte ich erkennen, dass wir bald da waren.

18, 19, 20. 21, unser Zimmer. Mir stach sofort wieder die eins ins Auge, die etwas schief stand. Es war mir schon am ersten Tag aufgefallen und irgendwie störte mich das extrem.
Plötzlich hörte ich wieder Stimmen. Definitiv außerhalb meines Kopfes. Mein Herz begann heftig zu klopfen. „Julie...", flüsterte ich mit zitternder Stimme. „Hörst du das auch?"

Sie nickte nur und schob den Schlüssel in das Schloss. Als sie ihn umdrehen wollte, griff ich nach ihrem Arm und hielt sie zurück.
„D-Da ist wer drinnen!"

Sie drehte ihren Kopf zu mir. Auf ihrer Stirn hatten sich zwei Stressfalten gebildet.
„Warum so paranoid?", fragte sie. Ehe ich sie in weiteres Mal daran hindern konnte, hatte sie die Tür schon aufgeschlossen und war in das Zimmer gerannt. Ich kniff die Augen zusammen.

Wenige Sekunden später verstummten die Stimmen und ich wagte zu blinzeln.

„Mann, Lynn!", hörte ich Julie lachen. „Das war der verdammte Fernseher." Langsam ging ich rein und starrte auf den dunkelgrauen Bildschirm, neben einem orangenen Vorhang an der Wand hing. Ja. Ja, das klang einleuchtend.

Julie weckte mich aus meiner Starre. Sie packte mich an meinen Schultern, schob mich auf eines der Betten und setzte sich vor mich.

„Magst du was trinken?"Ich nickte und lächelte sie dankbar an.

„Gut. Trink nachher. Wer waren diese Menschen?", fragte sie kühl und das Lächeln gefror auf meinen Lippen.„Wieso bist du nur so aufgeregt?", fragte ich sie leise.
„Wieso bist du nur so aufgeregt?", äffte sie mir nach und fauchte:
„Weil wir dich ungefähr drei Stunden lang gesucht haben, bevor mich ein fremder Asiate von deinem Handy aus angerufen hat...Hallo, ich glaube, du müsstest deine Freundin abholen, sie schafft es nicht alleine heim...Hmm, wir sind außerhalb von Seoul, in so einer netten alten Lagerhalle...", äffte sie einen von ihnen nach.
„Ich bin unterwegs vor Angst gestorben, weil ich dachte...naja, vielleicht hätte es ja was hergemacht für meine nächste Horror-Fanfiction...". Ihre Stimme hatte einen fiesen Unterton angenommen. „Nur, dass ich ungern ein Teil davon wäre. Weißt du, was Korea werden sollte? Meine Selbstfindungsreise. Eine Pilgerfahrt zu meiner selbst, mein Jakobsweg über..."

„Ich habs verstanden.", unterbrach ich sie schnell. Die Pilgerfahrt hatte ihr wohl nicht gut getan.
Wir hätten sie nicht mitnehmen dürfen.

„Wir hätten dich nicht mitnehmen dürfen.", fuhr sie fort und ich beschloss, sie einfach bis zum Ende ausreden zu lassen. Irgendwann würde sie sich beruhigen. „Ich hätte mit Gretha sicher eine tolle Zeit hier gehabt. Und Jonah...der fand es gar nicht cool, dass ich dich morgens um sechs von irgendwelchen Jungs abgeholt habe..."
Ich zuckte zusammen und richtete mich auf.

„Du hast es ihm gesagt?", fragte ich etwas zu erschrocken. Julie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Hätte ich das nicht tun sollen?"
„Was hat er gesagt?"
„Was hätte er schon sagen sollen? Er ist enttäuscht...macht sich Vorwürfe, dass er nicht mit dir rausgegangen ist."
Das würde ein sehr unangenehmes Gespräch werden.

„Was wirst du ihm sagen?", fragte sie mich.
„Das mir schwindelig war, ich rausgegangen bin. Da mir schwindelig war, bin ich hingefallen und hab mich angehauen. Ich war vielleicht ein bisschen betrunken und diese zwei...Menschen waren so lieb und haben mich mitgenommen, damit ich nicht alleine da bleibe."

„Und was sagst du mir?"
„Was?", fragte ich verwirrt.
„Was ist die Wahrheit?"
„Na...das ist die Wahrheit...", sagte ich todernst.
„Nein." War ich so schlecht im Lügen?
„Doch.", bekräftigte ich meine Worte noch einmal.
„Nein. Wer waren sie?"

Du kennst sie kaum. Sie sind vor zwei Jahren gestorben, aber auf wundersame Art und Weise haben sie mich gestern angesprochen. Eigentlich versuchen sie das schon seit zwei Wochen, aber ich bin immer weggerannt. Ich hatte Angst und dachte, ich verliere den Verstand. Ein bisschen denke ich das immer noch und das ist wahrscheinlich gut so. Denn sie sind gestorben, ganz sicher. Oder auch nicht, ich weiß es nicht, aber eines ist ganz sicher.

Es war Jungkook.
Aber Jungkook ist tot.
Aber auch lebendig, ich habe ihn ja gestern gesehen. Wow. Und jetzt habe ich dir noch gar nicht erzählt, was alles in der Früh passiert ist.

„Eigentlich...eigentlich kenne ich sie nicht...", antwortete ich. Das stimmte zumindest halb. „Ja, schon klar, aber wie hießen sie? Woher kommen sie? Was machen sie?"
Ich bin mir sicher, ihr hätte ich auch die richtigen Namen sagen können und sie hätte trotzdem nicht gewusst, um wen es geht.
„I-Ich hab ihre Namen vergessen..."Wundersamer weise beließ sie es dabei und stand auf. Sie schien einzusehen, dass sie aus mir nichts mehr heraus bekam.
„Ruh dich aus.", sagte sie deshalb und ging zu der Tür, um mich endlich alleine zu lassen.

„Ach ja, eins noch..." Sie drehte sich im Türrahmen um. „Ich habe Jonah nichts gesagt. Er hat mich um Vier angerufen, er denkt du wärst da schon längst im Hotel gewesen. Also verrat mich ja nicht!"

Vielleicht war dieses Mädchen nicht komplett unbrauchbar.

„Aber du solltest mit ihm reden. Denn was immer das ist, was du mir nicht sagen kannst...mach es nicht alleine. Wird scheiße, glaub mir."Damit drehte sie sich um und ließ mich endgültig alleine.

Erleichtert atmete ich aus. Jetzt konnte ich mich mit den wichtigen Sachen beschäftigen.

Meine Hand wanderte zu meiner Hosentasche, aus der ich einen zusammengeknüllten Papierklumpen zog.

Verärgert stellte ich fest, dass meine Finger leicht zitterten, als ich das Blatt auseinanderfaltete.

„Ließ es, sobald du wieder im Hotel bist. Vergiss es nicht, zeig es niemandem.", sagte Jungkook und schob mir ein Stück Papier in die Hand.

„Ich verstehe nicht..."
„Du wirst verstehen. Versuch einfach, mir zu vertrauen. Ich hab so viel mehr zu verlieren, als du."

Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er biss in seine Unterlippe und sah mich für einen Moment seltsam an.

„Wie kannst du mir nur vertrauen?", fragte ich ihn. „Du solltest nicht leben, du bist gestorben. Zwei Jahre lang warst du tot, als wie kannst du einfach irgendwem vertrauen, der..."

„Rede mit niemandem, ja? Wirklich, niemand.", unterbrach mich Jungkook einfach.

„Lies den Brief...", fügte er noch etwas leiser hinzu.

Ich nickte. „Danke."
„Wofür?"

Ich zeigte auf die Halle hinter ihm und zuckte mit den Schultern. Ich war erleichtert, dass ich mich an das meiste nicht mehr erinnern konnte, denn an alles, woran ich mich erinnern konnte, wollte ich mich nicht erinnern. Ich schob meine Hände in meine Jackentaschen.

Ein leises Knistern lag in meinen Ohren, als meine Finger das Papier streiften.

„Findest du sie?", fragte mich Jungkook.

„Ich kann dich gerne noch ein Stück begleiten, wenn..."

Aber ich schüttelte meinen Kopf und wandte mich zum gehen.

„Warte!", rief er mir hinterher. Ich drehte mich noch einmal um und sah ihn fragend an.

„Bist du wirklich Viertel-Französin?"

Ich musste bei dem Gedanken an ihn lächeln. Ich spürte, wie sich meine Wangen erhitzten und bestimmt wieder rot wurden. Es war so unglaublich verrückt.
Noch nie in meinem Leben war ich so aufgeregt gewesen, dabei war ich gerade nur dabei, ein Stück Papier auseinander zu falten.

Was wohl drinnen stand? Welche Worte er schnell aufgeschrieben hatte, in dem Gedanken daran, ich könnte alles, was er mir schon gesagt hatte, verraten?

In der Hoffnung, all diese Antworten zu finden, faltete ich das Blatt auf und blickte auf die schwarze Schrift.

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Beach?

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