Kapitel 27 - Vermisst
Wir trafen uns alle hinter der Bühne, da es nur noch zwei Auftritte waren, ehe unser Team an der Reihe war.
Nervös knetete ich meine Hände und konnte meinen Blick gar nicht mehr von den Stufen nehmen, die zu der Bühne hinauf führten. Ob meine Eltern wussten, wann wir dran waren? Ich hatte ihnen ein Foto von dem Programm geschickt, aber ob sie die Auftritte bis jetzt mitgezählt hatten?
"Wo ist Hannes?", hörte ich eine Stimme hinter mir. Die Jungs waren zu uns gestoßen, doch offensichtlich war unser Klavierspieler nicht unter ihnen.
"Wir dachten, er ist bei euch", zuckte Jonas mit den Schultern. Auf Emmas Gesicht breitete sich Panik aus, "Nein, nein, wo ist er?"
Schnell stieß ich zu unserer Truppe und erkundigte mich ebenfalls danach, wann sie Hannes zuletzt gesehen hatten.
"Er wollte nochmal aufs Klo und ist früher aus der Umkleide", erklärte einer der Tänzer ruhig, doch weder Emma noch mich konnte man jetzt noch beruhigen. Unser Auftritt stand kurz bevor und unser Klavierspieler fehlte. Ob etwas mit seiner Schwester war?
Sofort zückte ich mein Handy und schrieb dem Jungen eine Nachricht, doch natürlich wurde sie lediglich mit einem Haken versehen.
"Okay, ihr bleibt alle hier, wir können nicht noch jemanden verlieren. Lucy und ich suchen ihn", stellte Emma klar und zerrte mich dann an meinem Arm zurück zu den Umkleiden. Ohne wirklich zu realisieren, was wir taten, durchsuchten wir die beiden Räume. Natürlich waren sie leer, nur unsere Taschen lagen auf den Bänken und dem Boden verteilt.
Wie in Trance, trat ich hinter Emma zurück in den weißen Flur. Sie raufte sich die Haare. Ob das beim Nachdenken half?
"Na, sucht ihr etwas?"
Mein Blick schnellte in die Höhe und fokussierte den Jungen, der gerade an uns vorbei lief. Sams Blick hatte etwas Finsteres. Emma hatte das Gesagte schneller verarbeitet, als ich. Mit einem bedrohlichen Grummeln trat sie auf den Schwarzhaarigen zu, "Wo ist er?"
Er wich einige Schritte zurück und hob abwehrend die Hände, vermutlich hätte Emma ihn sonst am Arm gepackt oder sein Gesicht zerkratzt.
"Tut mir leid, was meinst du? Ich muss auf die Bühne", Sam zuckte mit den Schultern und wandte sich dann von uns ab.
"Na warte!", Emma wollte gerade hinterher stürmen, doch ich hielt sie zurück. So gerne ich Sam meine Meinung sagen wollte, wir mussten Hannes finden. Ein Blick reichte, dass meine Freundin sich besann und meinem Gedanken nickend zustimmte.
Als ich den Applaus vernahm, kehrte die Panik in meinen Körper zurück. Der Auftritt war zu Ende und nun stand Sams Gruppe auf der Bühne. Wir hatten nur noch diesen einen Auftritt Zeit, den Klavierspieler zu finden.
"Du schaust auf den Toiletten, ich frage andere, ob sie was gesehen haben", ich bewunderte Emma, wie sie in dieser Situation die Nerven behielt, während ich kurz davor war, eine Panikattacke zu erleiden. Sofort sprintete meine Freundin los und ich tat es ihr gleich. In jede Toilette stürmte ich, rief den Namen des Jungen, kümmerte mich nicht darum, dass einige Jungs mich verwirrt ansahen, weil ich in die Toiletten für die Männer ging.
Als ich nach der vierten Toilette wieder im Gang stand, raufte ich mir die Haare. Meine Gedanken überschlugen sich und der Hass und die Enttäuschung gegenüber Sam übermannten mich. Wie konnten die Gefühle ihn so vereinnahmen? Wie konnte ich mit ihm befreundet sein? Wieso hatte ich ihn umarmt?
Tränen rannen meine Wangen hinab und fanden ihren Weg auf den Boden. Auch in der letzten Toilette versuchte ich mein Glück. Obwohl ich durch die verschwommenen Sicht sowieso nicht viel sehen konnte, wusste ich, dass er nicht hier war.
Langsam sank ich an der kahlen Wand im Flur auf den Boden. Ich hatte keine Ideen mehr und mir fehlte die Kraft. Leise Geigentöne fanden ihren Weg an mein Ohr. Sam beherrschte die Geige einwandfrei und erfüllte den Saal mit einer zauberhaften Melodie. So konnte man sich wohl auch in der Musik täuschen.
Plötzlich vernahm ich eine verzweifelte Stimme, die um Hilfe rief.
Sofort sprang ich auf, rief nach ihm, versuchte den Ursprung zu finden. Vor einer unscheinbaren grauen Tür kam ich zum Stehen.
"Hannes?"
"Lucy?", seine Stimme klang panisch, ängstlich. Sofort legte ich meine flache Hand auf die Tür, als könnte ich ihn so beruhigen.
Schnell probierte ich, die Klinge herunter zu drücken.
"Er hat abgeschlossen."
Erneut kämpften sich die Tränen an die Oberfläche. Wie sollte ich die Tür aufbekommen? Mein Gehirn arbeitete nicht mehr, wie ich es wollte.
"Versuch' einen Hausmeister zu finden", schlug Hannes vor. Schnell sah ich mich um, und rannte in eine Richtung, die mir sinnvoll erschien.
Als ich jedoch wider Erwarten in dem großen Bereich, unmittelbar vor den Zuschauertribünen stand, stellte sich meine Wahl als falsch heraus. Der Raum war komplett leer gefegt, da sich nach dem Beginn der Vorstellung, niemand mehr hier aufhielt.
Als ich eine Tür hörte, wirbelte ich herum.
"Lucy?"
Liam stand an einer der riesigen Holztüren, die zu den Rängen der Zuschauer führten und bedachte mich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck.
"Was ist los?", anders als ich es von ihm gewohnt war, schien mein Auftreten ihn tatsächlich zu verunsichern. Und ich dachte, dieser Junge konnte mich nicht ausstehen.
"Hannes, er... er ist..."
Die Worte verließen meinen Mund nur mit Mühe, sie spiegelten meine Gedankenwelt perfekt wider.
"Wo ist er?", Liam kam schnell auf mich zu und wäre ich nicht so aufgewühlt, hätte ich vor Angst vermutlich einige Schritte zurück gemacht. Seine doch recht muskulöse Statur hatte eine bedrohliche Wirkung auf mich. Stattdessen lief ich mit ihm den Gang zurück, den ich erst eben entlang gerannt war.
"Hannes?", rief Liam, als wir vor der Tür standen, hinter der der Klavierspieler eingesperrt worden war.
"Liam? Was machst du hier?"
"Dir hier raushelfen."
Mit einem großen Schwung ließ sich der Schlagzeuger gegen die Tür fallen. Mein Herz pochte wie wild und jedes Mal, wenn seine Schulter auf die Tür traf, zuckte ich leicht zusammen. Als Liam mitsamt der Tür in den Raum krachte, schrie ich kurz auf. Im nächsten Moment erblickte ich die kastanienbraunen Augen Hannes' und fiel ihm sofort um den Hals.
Seine Arme umschlangen mich und drückten mich enger an ihn.
"Nachher müsst ihr mir erklären, was passiert ist", meinte Liam, während er sich wieder aufrichtete, "aber jetzt müsst ihr auf die Bühne."
Er schenkte uns ein ehrliches Lächeln, was mich unfassbar ermutigte. Ich hatte mich tatsächlich in ihm getäuscht, genauso wie ich mich in Sam getäuscht hatte.
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