Kapitel 19 - Trost

Hannes saß an einem der Holztische, die wahllos in den Gängen verteilt waren und bedachte mich mit einem Blick, der mir einen Schauer durch den Körper jagte, sodass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. Seine Augen sahen unnatürlich geschwollen aus und wurden von dunklen Ringen umrahmt.
"Wir gehen schon mal", riss mich Emmas Stimme von Hannes' Anblick. Unfähig zu antworten, nickte ich nur. Sam zog mich in eine Umarmung und murmelte eine Verabschiedung. Über Sams Schulter konnte ich erkennen, wie Hannes seinen Blick abwandte. Mühsam schluckte ich.
Nachdem der Schwarzhaarige mit den anderen um die nächste Ecke verschwunden war, schritt ich unsicher auf den Braunhaarigen zu, dessen Augen weiterhin auf dem Boden lagen. Ob er hier auf mich gewartet hatte?
"Hannes?", hallte meine schwache Stimme durch den leeren Flur und ließ den Jungen aufschauen. Als seine Augen auf meine trafen, schien mein Herz für einen Moment auszusetzen. Nun konnte ich ihn aus der Nähe betrachten, doch sein Anblick war schlimm. Seine braunen Haare standen zu allen Seiten ab, seine glasigen Augen waren gerötet und die Ringe unter seinen Augen sahen aus der Nähe betrachtet, deutlich schlimmer aus. Er wandte seinen Blick wieder ab.
"Tut mir leid", seine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen, "dass ich nicht zum Üben gekommen bin."
Schnell ließ ich mich neben ihn auf der Bank an der Wand nieder, ohne meine Aufmerksamkeit von ihm zu nehmen.
"Schon gut." Mehr bekam ich nicht heraus, sein Anblick brachte mich dermaßen aus der Fassung, ich konnte nur Mitleid für ihn empfinden. Seine braunen Augen suchten meine und als sie sie gefunden hatten, schenkte ich ihm ein schmales Lächeln. Es interessierte mich brennend, was passiert war, weshalb er verschwunden war, aber ich merkte, dass er nicht darüber sprechen konnte. Es wäre taktlos von mir, ihn in seiner momentanen Verfassung auszufragen. Deshalb legte ich eine Hand auf seine Schulter, um ihm zu zeigen, dass ich für ihn da war, auch wenn die gesamte Situation mich maximal überforderte. Jeder Groll den ich gegen ihn gehegt hatte, war vergessen. Als seine Augen wieder auf meine trafen, erkannte ich pure Dankbarkeit in ihnen. Bevor ich es begreifen konnte, lagen Hannes' Arme um mir. Vorsichtig platzierte ich meine Hände auf seinem Rücken, um die Umarmung zu erwidern. Mein Herz pochte aufgeregt in meiner Brust. Als ich bemerkte, dass Hannes mit den Tränen kämpfte, murmelte ich die Frage, die ich eigentlich zurückstellen wollte, "Was ist passiert?"
"Meine Mutter...", seine Stimme brach ab und er löste sich aus meinen Armen, um sich über die Augen zu fahren, "sie hatte Krebs."
Mir graute ein schrecklicher Gedanke, den ich mich leicht kopfschüttelnd weigerte, anzunehmen.
"Ihre Lage hat sich in der letzten Woche so sehr verschlechtert", er pausierte wieder kurz, um durchzuatmen, "dass wir sie immer wieder besucht haben."
Ich wagte es kaum zu atmen, um Hannes in seiner Erzählung nicht zu unterbrechen, um nichts falsches zu sagen.
"Der Arzt sagte schon, dass es schlecht aussieht", seine Hand, die auf seinem Bein lag, ballte sich zu einer Faust, "aber ich wollte es nicht wahr haben."
Ohne darüber nachzudenken, legte ich meine Hand auf seine Faust, die sich daraufhin merklich entspannte. Sein Blick ruhte kurz auf unseren Händen, ehe er weiter erzählte, "Am Donnerstag hat mich meine Schwester angerufen und erzählt, was passiert ist."
Seine Schwester. Svenja. Ein schreckliches Gefühl machte sich in meiner Magengegend bemerkbar. Er war mit seiner Schwester bei seiner kranken Mutter gewesen und ich plagte mich mit Eifersucht herum.
"Deshalb bin ich so plötzlich verschwunden... ich musste zu ihr."
Verständnisvoll nickte ich und suchte nach den richtigen Worten, doch Hannes nahm mir dieses Problem ab, indem er weiter sprach.
"Weißt du, mein Vater war nie wirklich für uns da gewesen, er war nur auf seine Arbeit und den Erfolg aus", ein Seufzen entglitt ihm, "nichtmal als meine Mutter erkrankte, kümmerte es ihn."
Fassungslos schüttelte ich wieder den Kopf und begann unterbewusst mit dem Daumen über seine Hand zu streichen.
"Deshalb kamen Svenja und ich auch auf Internate", erklärte er und räumte damit auch den letzten Zweifel in meinem Kopf bei Seite, "aber als meine Mutter wieder einen Rückschlag erlitt, war niemand für sie da."
Traurig schüttelte ich den Kopf, ich konnte mir nicht ansatzweise vorstellen, wie Hannes' Gefühle aussahen, was es mir so schwer machte, zu antworten.
"Sie ist gestorben", seine glasigen Augen huschten über den Fliesenboden der Schule und schienen eine Lösung für sein Problem zu suchen. Eine Lösung, die es nicht gab. Ohne es zu merken, waren mir ebenfalls Tränen in die Augen gestiegen. Schnell versuchte ich sie zu verbergen, immerhin wollte ich stark bleiben. Er benötigte den Trost. Er war die letzte Woche immer wieder bei seiner kranken Mutter gewesen und am Donnerstag, nach unserem Filmabend, hatte er die Nachricht erhalten, dass seine Mutter gestorben war. Statt eifersüchtig zu sein, hätte ich ihm schreiben, für ihn da sein sollen. Stattdessen war er die ganze Woche alleine gewesen und hatte den Schmerz verarbeitet. Etwas Druck übte ich auf seine Hand aus, die immernoch auf seinem Bein ruhte. Ich wollte ihn erneut in die Arme schließen, ihm nahe sein und ihm seine Trauer nehmen. Doch ich wollte nichts Falsches tun, weshalb ich letztlich gar nichts tat und lediglich mit meinem Daumen weiter über seinen Handrücken strich.
"Ich habe hier auf dich gewartet, als niemand auf eurem Zimmer war." Damit bestätigte er meine Vermutung und ließ mein Herz wieder schneller schlagen.
"Wieso?", mehr brachte ich nicht über die Lippen.
"Ich wollte mit dir darüber reden."
Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, während ich ein "Danke" murmelte.
Plötzlich hob er seinen Kopf und sah mir in die Augen.
"Kannst du mir etwas vorspielen?"
Überfordert blinzelte ich ihm entgegen, doch nickte schnell. Keinen Wunsch würde ich ihm abschlagen. Ich wollte ihm helfen, ihm seine Schmerzen erträglicher machen.

Kurz darauf stand er auf und zog mich ebenfalls auf die Beine, da ich meine Hand noch immer nicht von seiner genommen hatte. Auch während wir die Treppen hinaufstiegen hielten wir uns weiter an den Händen. Ich wusste nicht, ob er diesen Halt im Moment brauchte und ließ seine Hand aus diesem Grund auch nicht los. Langsam schritten wir die leeren Gänge entlang, ohne ein Wort zu wechseln. Seine Haut war warm und doch spürte ich die Müdigkeit, die ihm in den Knochen lag. Immer wieder sah ich zu ihm, besorgt, bereit ihm eine Umarmung zu geben. Doch er sah geradeaus, in Gedanken. Weshalb ich meine Hand aus seiner lösen musste, als wir vor meinem Zimmer angekommen waren.

In dem Zimmer erwartete uns glücklicherweise niemand, obwohl ich damit gerechnet hatte, dass die anderen hier her gekommen waren. Vielleicht waren sie stattdessen in den Gemeinschaftsraum gegangen. Ich wandte mich zu Hannes, während ich meine Jacke auszog und nickte ihm zu, worauf er ebenfalls in den Raum trat und hinter sich die Tür ins Schloss fallen ließ. Schnell zog ich den Koffer unter meinem Bett hervor und nahm meine Geige heraus.
"Spielst du unser Stück?", fragte der Braunhaarige und ließ sich zögerlich auf meinem Bett nieder. Kopfschüttelnd stimmte ich die Saiten meines Instruments, "Überraschung."
Als alle Saiten gestimmt waren, setzte ich den Bogen richtig an und begann zu spielen. Die erste Melodie, die ich auf der Geige auswendig spielen konnte. Das erste Stück, das ich gelernt hatte. Ich hatte es nie vergessen, spielte es in den Augenblicken, in denen ich Trost brauchte. Es hatte schöne hohe Töne, war langsam und leise. Es gab keine Spannung oder Aufregung, die Melodie versprühte nur die Ruhe. Hannes' Augen hatten sich geschlossen und er schien die Töne zu genießen. So konnte ich ihn ungestört betrachten. Ob ich ihm mit dem Lied tatsächlich half, wusste ich nicht, aber seine Gesichtszüge wirkten entspannter als zuvor, was mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Als er seine Augen öffnete und mich direkt ansah, schloss ich meine Lider schnell. Plötzlich merkte ich die Nervosität in mir und dass mein Gesicht um einiges wärmer wurde. Zum Glück war dieses Stück nicht so schwer, wie andere, die ich momentan spielte, sonst hätte ich mit Sicherheit die Noten verhauen und diesen Moment zerstört. Als die letzte Note ausklang, wagte ich es, meine Augen wieder zu öffnen. Etwas verlegen blickte ich zu dem Braunhaarigen, der mich lächelnd musterte. Sein Lächeln drückte nicht nur Freude aus, sondern gleichermaßen Dankbarkeit und Trauer.
"Das war schön. Danke."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top