Kapitel 18 - Das grüne Kleid
Auch der Sonntag verging, ohne dass ich mit dem Braunhaarigen üben konnte. Früh morgens hatte ich vor dem Raum auf ihn gewartet. Als er wie erwartet nicht aufgetaucht war, war ich wieder zurück auf mein Zimmer gegangen. Da alleine zu üben für mich nicht in Frage kam, widmete ich meine Aufmerksamkeit den Schulaufgaben, die ich aufgrund des Wettbewerbs zunächst vernachlässigt hatte. Immerhin standen bald schon Klausuren an, die ich nicht verhauen wollte. So nahm ich mir also vor, den gesamten Tag mit lernen zu verbringen. Als sich zwischendurch Emma meldete, um mir von ihrem Fortschritt bei der Choreographie zu berichten, machte ich eine Pause von den ermüdenden Aufgaben und sah mir stattdessen den Tanz an. Obwohl ich dachte, dass es nicht besser ginge, hatte Emma noch einen oben drauf gesetzt. Mit offenem Mund saß ich am Rand der Turnhalle und sah den Tänzern bei ihren Schritten zu. Vor lauter Begeisterung applaudierte ich und fügte an meinen Beifall sogleich einen Kommentar, "Wahnsinn! Das war der Hammer."
Vor allem Alicia und ihr Ballett-Partner sahen zufrieden aus und ich konnte ihnen ansehen, wie viel Spaß sie gehabt hatten. Es war wahnsinn wie weit wir mit unserem Auftritt waren, nur Hannes' Abwesenheit stand all dem im Weg. Wäre er hier, könnten wir alles durchgehen, unsere Interaktion mit den Tänzern planen und endlich einen fertigen Auftritt vorweisen. Der Wettbewerb war bereits in drei Wochen und obwohl Hannes und ich das Stück im Schlaf spielen konnten, war ich der Meinung, dass man nie genug vorbereitet sein konnte.
Obwohl ich bisher jedes Mal falsch lag, hatte ich große Hoffnung, dass Hannes am Montag wieder in der Klasse sitzen würde. Doch wer hätte gedacht, dass auch diese Hoffnung erstarb, als ich im Matheunterricht saß?
Enttäuscht stützte ich meinen Kopf auf den Armen ab. Weshalb war Hannes bloß weg? Die Lehrer schienen ihn nicht zu vermissen, was ich im Laufe des Schultages feststellte, da niemand sich nach ihm erkundigte. Das bedeutete, dass sie wussten, weshalb er weg war. Liam zuckte weiterhin lediglich mit den Schultern, wenn ich ihn fragte. Da ich keine Zeit mehr fürs Üben aufbrachte, konnte ich meine volle Energie in die kommenden Klausuren stecken. Wie Emma das Tanzen und die Schule unter einen Hut brachte, war mir ein Rätsel. Die gesamte Woche tauchte sie abends immer erst spät auf und schien nicht viel Schlaf zu bekommen, was ich ihr jeden Morgen von den Augen ablesen konnte. Trotzdem meisterte sie jede Klausur, zwar nicht unbedingt mit den besten Noten, aber ich hätte wetten können, dass das nicht ihr Ziel war. Emma brannte fürs Tanzen und lieber würde sie die Schule hinschmeißen, statt das Tanzen und die Musik aufzugeben.
Als ich am Freitag wieder alleine auf unserem Zimmer war, erschöpft von der anstrengenden Schulwoche, in der der Braunhaarige weiterhin nicht aufgetaucht war, widmete ich mich seit langem mal wieder meinem Stück. Obwohl ich wusste, dass es mit Klavier deutlich besser klang, spielte ich es und genoss die sanften Töne, die meine Geige erzeugte. Hannes war jetzt bereits seit einer Woche verschwunden und hatte sich weder gemeldet noch irgendwo blicken lassen. Da ich total eingespannt in Schulaufgaben und Klausuren gewesen war, hatte mein Kopf keine Zeit gehabt, um weitere Überlegungen über sein Verschwinden anzustellen. Doch nun kam das Wochenende und diese verdrängten Gedanken kehrten zurück. Unsicherheit und Sorgen breiteten sich aus, die ich mit der Musik zu ersticken versuchte. Obwohl ich so laut spielte, wie noch nie, schrieen meine Gedanken doppelt so laut zurück. Ob ich ihm doch schreiben sollte?
Glücklicherweise riss mich meine Mitbewohnerin, die in unser Zimmer kam, aus meinen Gedanken, "Unser Tanz steht, jetzt fehlen uns nur noch die Kostüme."
Emma hatte mir die gesamte letzte Woche bereits ausgiebig beschrieben, wie sie sich die Kleidung vorstellte, die getragen werden sollte. Sie müsse die Geschichte des Tanzes stützen, sagte sie.
"Weißt du schon, was du anziehst?", fragte sie mich, nur um mich nach meiner Verneinung, auf ihre bereits geplante Shoppingtour mitzunehmen.
Begleitet von Alicia, Jonas und einigen der Freestyle-Tänzer, liefen wir von Laden zu Laden. Für ihre Tanzgruppe und sich hatte Emma einen dunklen Kleidungsstil beschlossen, jedoch sollte sich jeder selbst seine Kleidung zusammenstellen. Eine wichtigere Rolle spielten die Outfits der Ballett-Tänzer. Dafür mussten wir in mehrere Läden, bis endlich ein Kleid für Alicia passte. Dieses Kleid hatte es wirklich nicht leicht, den Anforderungen gerecht zu werden. Es musste edel und elegant aussehen, aber trotzdem genügend Freiheit zum Tanzen bieten. Schließlich entschieden sie sich für ein kurzes rotes Kleid, das speziell für Ballett geschneidert war. Der Stoff war leicht und dünn, weshalb es dem Tanzen nicht im Weg stand. Jonas' Entscheidung fiel auf ein weißes Outfit, das einige Ornamente an der Brust trug, wodurch es eine edle Wirkung ausstrahlte.
"Und jetzt zu dir", wandte Emma sich an mich. Zwar hatte ich gehofft, sie würde mich vergessen und wir könnten nach zwei Stunden endlich zurück in das Internat gehen, doch meine Wünsche wurden natürlich nicht erhört. Die Tänzer hatten sich bereits verabschiedet, sodass nur noch Emma, Alicia, Jonas und ich übrig waren. Die Suche nach einem geeigneten Kleid für mich, zog sich ähnlich lang, wie die Suche nach Alicias' Outfit. Zunächst probierte ich ein rotes kurzes Kleid an, das sich laut den anderen mit meinen orangenen Haaren biss. Als ich darauf ein hellblaues Kleid anzog, schienen Alicia und Jonas angetan zu sein, doch Emma schüttelte entschlossen ihren Kopf. Es passe nicht zu den Outfits der anderen.
Als ich schon dabei war, die Hoffnung aufzugeben, kam Emma mit einem dunkelgrünen Kleid angerannt. Kurz hielt sie es mir vor die Brust und nickte dann kräftig. Als ich mich damit im Spiegel betrachtete, musste ich augenblicklich lächeln. Es war nicht auffällig, aber die Farbe passte perfekt zu mir. Es lag bis zur Taille eng an und war bis knapp unter die Knie etwas gefächert. Glücklich darüber, endlich ein Kleid gefunden zu haben und erschöpft machten wir uns auf den Rückweg. Den Vorschlag von Emma, morgen mit den Kostümen zu üben, nahmen die beiden Balletttänzer sofort an. Als Emma mich erwartungsvoll ansah, musste ich jedoch ablehnen. Hannes war nicht da, weshalb wir auch das Stück nicht spielen konnten.
"Wenn er nicht bald wieder auftaucht, kriegen wir Probleme", murmelte meine Mitbewohnerin. Zwar hatte sie sich die letzten Tage wenig dafür interessiert, aber recht behielt sie dennoch. Wie sollten wir den Auftritt ohne unseren Klavierspieler hinlegen?
"Hey, was ein Zufall!", riss mich eine Stimme aus den Gedanken. Sam kam von einer Gruppe anderer auf uns zu. Bemüht ihn nicht zu sehr anzustarren, richtete ich meine Augen auf die Pflastersteine unter uns. Seit letzter Woche, fühlte ich mich in seiner Nähe zunehmend unwohl. Der Schwarzhaarige begleitete uns zum Internat und unterhielt sich dauerhaft mit meiner Mitbewohnerin. Als wir durch die große und breite Tür in den Flur traten, blieb ich wie angewurzelt stehen. Dort saß, auf einer der Bänke, die in dem Korridor verteilt waren, die Person nach der ich seit einer Woche die Augen offen gehalten hatte. Hannes.
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