Kapitel 8 - Das Meer

Ich habe mir die Reise zum Meer spannender vorgestellt. Es ist heiss und eng in dem Bus und viel zu langweilig.
"Warum laufen wir nicht ein Stück? Ich habe das Busfahren satt."
"Das würde zu lange dauern und du würdest nicht weniger ermüden."

Wir schweigen viel. Mbaye hat nach meinem Vater gefragt und ich habe nicht geantwortet. Als mir langweilig wird, hole ich die Rakete aus meinem Rucksack. Ich blicke Mbaye von der Seite an. Er schaut stur geradeaus und tut so, als würde er es nicht bemerken. Ich will nicht, dass er etwas sagt.
Eine Frau schaut mich mit stechenden Augen an und auch als ich grimmig zurückblicke, hört sie nicht auf. Sie stört mich. Ich stöhne genervt und blicke aus dem Fenster. In der rechten Hand halte ich die Rakete und mache ihre Startgeräusche, während sie langsam von meinem Schoss abhebt und in den Himmel schiesst. Sand wird von dem Bus aufgewirbelt. Das ist die Staubwolke, die die Rakete zurücklässt.
"Dschsch!" Die Rakete stösst gegen die Fensterscheibe und stürzt ab, zurück auf meinen Schoss.

Ich schaue wieder zu Mbaye und sehe, dass er lächelt, ohne mich anzusehen. Ich wende die Rakete in meinen Händen und betrachte sie dabei.
"Die Rakete hat mein Vater gebaut", erkläre ich ihm schliesslich.
"Das ist ein sehr schönes Spielzeug."
"Es ist alles, was ich von Papa noch habe. Ich glaube nicht, dass er zurückkehrt."
"Darf ich sie mir ansehen?" Ich reiche Mbaye meine Rakete und er nimmt sie vorsichtig mit seinen grossen Händen. Ich sehe, dass sie trocken und rissig sind. Es sieht fast schmerzhaft aus.
"Dein Vater kann gut mit Holz umgehen. Er muss sich sehr viel Mühe gegeben haben", stellt Mbaye fest. Ich wäre gerne stolz auf meinen Vater. Aber ich glaube nicht, dass ich es bin. Mbaye reicht mir die Rakete, ich wickle sie wieder in das T-Shirt und lege sie zurück in den Rucksack.

Am späten Nachmittag kommen wir an. Mbaye möchte uns wieder eine Herberge suchen. Heute bin ich weniger müde und wir schauen gemeinsam, welchen Bus wir morgen nehmen müssen und dann kaufen wir gekochten Reis und gebratenes Poulet.
"Ich möchte Cola trinken", sage ich zu Mbaye und füge hinzu: "Ich habe etwas Geld mitgenommen." Wir gehen zu einem Laden und ich kaufe zwei grosse Colaflaschen und eine Packung Kaugummis. Mbaye hat draussen gewartet und freut sich, dass ich ihm auch eine Cola schenke.
Ich stecke mir einen Kaugummi in den Mund. Mama verbietet mir, Kaugummis zu kauen. Sie hat Angst, dass ich rauche und so den Geruch zu überdecken versuche. Dabei sind Zigaretten eklig.

Auch der dritte Tag unserer Reise ist langweilig. Ich mag nicht mehr Bus fahren.
"Morgen nehmen wir uns ein Taxi", verkündet Mbaye. Ich juble und Mbaye lacht. Dann habe ich Angst, dass er bloss einen Witz gemacht hat.

Am vierten Tag, ich habe ganz aufmerksam mitgezählt, suchen wir einen günstigen Fahrer. Es soll nur noch eine Stunde bis zum Meer sein. Ich bin aufgeregt und freue mich.
Die Strassen werden immer staubiger und ruckliger. Kleine, kniehohe Büsche befinden sich auf beiden Seiten, die Strasse wird schmaler und der Fahrer fährt schnell. Ich kurble die Fensterscheibe herunter und strecke meinen Kopf nach draussen. Ein ganz neuer Geruch schlägt mir entgegen, salzig und frisch, und der Wind weht stärker als zu Hause.
Der Fahrer hält an und wir steigen aus. Die Strasse ist nun zu schmal, viel mehr ein Weg, der bald zu einem engen Pfad wird. Hinter dem nächsten Hügel muss das Meer sein, das weiss ich genau! Ich renne los.

Als ich es sehe, bleibe ich staunend stehen. Es ist so viel grösser, als ich es mir vorgestellt habe. Und so viel schöner als auf dem Foto, das Mbaye mir gezeigt hat. Mit schnellen Schritten und doch bemüht, nicht über eine Wurzel zu stolpern, renne ich hinunter zum Strand und zum Meer. Als ich zurückblicke, sehe ich Mbaye nur noch ganz klein hinter mir. Im Sand ziehe ich meine Schuhe aus, lasse sie liegen und renne barfuss bis zum Wasser. Das Wasser umspült meine Beine, die Wellen sind sanft und freundlich, ganz, als würde Mami Wata mich willkommen heissen.

Ich forme meine Hände zu einem Becher und sammle etwas Wasser. Ich möchte kosten, ob es wirklich salzig ist.
"Bäh!" Ich spucke das Wasser wieder aus. Es ist tatsächlich salzig. Hinter mir höre ich Mbayes tiefes Lachen.
"Hast du gekostet? Das Wasser kannst du nicht trinken." Ich drehe mich mit angewidertem Gesicht um.
"Ich wollte nur schauen, ob es salzig ist." Mbaye bückt sich und taucht einen Finger in das Wasser, den er sich darauf in den Mund steckt.
"Das hätte genügt, um es herauszufinden." Er ist sichtlich amüsiert, aber reicht mir den Rest von seiner Cola. Ich habe meine Flasche schon ausgetrunken.
"Danke, Vater." Mbaye lächelt, weil ich ihn so genannt habe.

Mbaye zeigt mir, wie man mit feuchtem Sand Häuser bauen kann und wir bauen ein wunderschönes Haus, in dem ich einmal mit Mama und meinen Geschwistern wohnen werde.
"Wo steht dein Haus?", frage ich Mbaye.
"Im Senegal."
"Am Meer?", hacke ich neugierig nach.
"Ja, ich erreiche das Meer in einer halben Stunde zu Fuss."
"Wow!"
"Aber ich bin nicht sehr oft dort. Meine Schwester wohnt in dem Haus."
"Und wo wohnen deine Frau und deine Kinder?"
Mbaye antwortet nicht und ich glaube, etwas gefragt zu haben, das mir nicht zusteht.

Unser schönes Haus ist fertig und Mbaye möchte wieder gehen. Sehnsüchtig blicke ich rückwärts laufend dem Meer nach. Wir setzen uns auf einen Stein und ziehen unsere Schuhe wieder an, bevor wir den steilen Pfad nach oben laufen müssen. Ich bin jetzt schon müde.
Mbaye seufzt und beginnt dann zu reden: "Weisst du Djibril, meine Frau ist bei der Geburt unseres zweiten Kindes gestorben und das Kind auch. Ich war zutiefst betrübt und meine Tochter Bella konnte mich nicht trösten."
"Meine Schwester heisst auch Bella!"
"Ich weiss. Bella lebt jetzt bei meiner Schwester, aber sie weiss nicht, dass ich ihr Vater bin und ich sehe sie nur sehr selten."
"Das ist schade", sage ich und ich finde es wirklich traurig.
"Djibril..." Mbaye macht eine lange Pause und ich wage es nicht, ihn anzusehen.
"Jedes Kind sollte einen Vater haben. Du bist ein Kämpfer, also sorge gut für deine Familie und ganz besonders für deine Schwester Bella."

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