Kapitel 7 - Mami Wata
Ich habe meinen Vater geschätzt. Er war schon immer seltener da als Mama. Aber er hat mich geliebt, das wusste ich.
Mein Vater liebte es, mit Holz zu arbeiten. Er hat für meine Mutter ein Bett gebaut. Damit hat sich sehr viel Mühe gegeben und es ist wunderschön geworden.
Unter dem Bett gibt es viele eingebaute Schubladen. In diese Schubladen hat Papa alte Lautsprecher aus Autos gelegt, die er auf dem Markt gekauft hat. Und natürlich auch ein Autoradio mit Kassettenrekorder. Man kann die Schublade mit dem Autoradio öffnen, eine Kassette hineinlegen und dann macht das Bett Musik. Ich finde das toll!
Am oberen Rand des Bettes hat Papa einen Bogen angebracht. Ganz vorsichtig und mit wunderschönen Buchstaben hat Papa die Worte Allahou akbar in das Holz gehauen. Das ist arabisch und bedeutet Gott ist gross.
Papa hat auch für mich ein Spielzeug aus Holz gemacht. Leider ist es das einzige Spielzeug, das er mir je gemacht hat. Es ist eine Rakete aus Holz. Ich mag sie sehr und spiele oft mit ihr. Wenn ich Zeit habe. Ansonsten verstecke ich sie in einem T-Shirt, damit Samba nicht damit spielt und sie kaputt macht.
Jetzt ist sie in meinem Rucksack. Mbaye und ich fahren mit dem Bus. Es ist weit bis zum Meer und ich vermisse Mama und Aissatou. Hoffentlich sind wir bald da.
Mbaye kann gut Geschichten erzählen. Ich lerne bei ihm viel über Kultur, sagt er. Das ist fast wie Schule.
"Wenn wir am Meer sind, wirst du vielleicht Mami Wata sehen." Mbaye schmunzelt geheimnisvoll.
"Wer ist Mami Wata?"
"Hast du noch nie von ihr gehört? Sie ist wunderschön und sie lebt im Wasser. Sie ist die Göttin des Wassers."
"Allah ist Gott. Es gibt keinen Gott ausser Allah!", sage ich sofort und Mbaye schmunzelt.
"Na gut", wendet er ein, "dann sagen wir einfach, Mami Wata ist die Mutter des Wassers. Der Wassergeist."
"Wie sieht sie aus?", frage ich neugierig.
Mama würde sich nicht freuen, wenn sie wüsste, dass ich mehr über Mami Wata wissen möchte. Ihr ist es wichtig, dass ich zu Gott bete. Sie würde sagen, Mami Wata sei bloss ein Märchen, das von Menschen erfunden wurde, die Gott noch nicht gefunden haben.
"Sie ist die schönste Frau, die du je sehen wirst", beginnt Mbaye zu erzählen. "Sie hat einen menschlichen Oberkörper, lange Haare und weisse Haut. Aber statt Beinen besitzt sie den Körper eines Fisches. So kann sie besser schwimmen."
"Klingt mir nach einem Märchen", sage ich und blicke zu Mbaye auf. Mama würde gefallen, was ich gesagt habe.
"Deine Mutter hat die nie solche Geschichten erzählt, nicht wahr?"
"Mama erzählt mir Geschichten aus dem Koran", erwidere ich.
"Weisst du, woher dein Name kommt?", fragt Mbaye mich plötzlich.
"Djibril? Mein Grossvater heisst so. Der Vater meiner Mutter."
Mbaye lacht. Ich habe mich an sein Lachen gewöhnt, denn er lacht viel. Er lacht ganz tief. Aber das macht mir keine Angst mehr, denn ich weiss, dass Mbaye ein guter Mensch ist.
"Djibril ist ein Engel", erzählt mir Mbaye nun. "Er überbrachte dem Propheten Mohammed die Offenbarung von Gott." Ich nicke. Die Geschichte gefällt mir und ich kenne sie gut. Der Engel Djibril spielt eine wichtige Rolle im Islam. Ohne ihn hätten wir den Koran nicht empfangen.
"Weisst du, was der Name Djibril bedeutet?", frage ich Mbaye.
"Sag du es mir."
"Kämpfer für Gott oder Gottes Held." Ich richte mich etwas auf. Ich bin stolz auf meinen Namen. Und ich bin ein Kämpfer! Das weiss ich genau.
"Ein Kämpfer bist du wahrhaftig." Mbaye grinst. "Du kämpfst für dein Glück und das Wohlsein deiner Familie. Das macht dich stark, Djibril."
Die Busfahrt dauert sehr lange und es steigen immer mehr Leute ein. Dicke Frauen, die den ganzen Sitzplatz wegnehmen und mich in die Wange kneifen. Ich antworte ihnen nicht, wenn sie mich fragen, wie ich heisse. Irgendeinmal schlafe ich an Mbayes Schulter gelehnt ein. Ich wache auf, als der Bus zum Stehen kommt.
"Hier werden wir übernachten", verkündet Mbaye.
"Wo?"
"Ich suche uns eine Herberge."
Mit müden Schritten folge ich Mbaye durch eine fremde, grosse Stadt. Das ist nicht mein Zuhause. Ich vermisse Bella und Samba. Ich vermisse meine Freunde. Nach langer Zeit können wir in einem kleinen Zimmer mit einer Matratze am Boden bleiben. Der Mann redet schnell und sagt uns, wo wir morgen Wasser finden um uns zu waschen.
"Ich habe Hunger."
Mbaye reicht mir ein Stück Brot, das er mit der Hand abgezupft hat, und eine Wasserflasche.
"Danke."
Ich bin müde und schlafe auf der Matratze ein. Ich schrecke auf, als Mbaye zurückkommt. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er fort gewesen ist.
"Hier hast du etwas Reis. Iss, morgen wird ein anstrengender Tag und wir müssen früh aufstehen."
"Wo bist du gewesen?", frage ich, während ich mich aufrichte und dankbar den Reis entgegennehme.
"Ich habe geschaut, wann unser Bus morgen fährt."
Es ist noch Nacht, als Mbaye mich aufweckt. Er sieht müde aus und sitzt an die Wand gelehnt da.
"Warum hast du nicht geschlafen?"
Mbaye antwortet nicht. Dafür reicht er mir eine frische Wasserflasche.
"Kannst du die in deinem Rucksack selber tragen?"
"Ja, Mbaye." Fast hätte ich 'Ja, Vater' gesagt. Das wäre höflicher gewesen. Aber dann dachte ich an Papa und ich will nicht, dass Mbaye nach ihm fragt. Deshalb habe ich ihm auch die Rakete nicht gezeigt. Ich vermisse Papa und möchte nicht immer an ihn denken.
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