Kapitel 6 - Bereit!
Viele Wochen sind vergangen und ich habe meinen Vater nicht wiedergesehen. Den Senegalesen habe ich schon fast vergessen und zu Hause reden wir nicht über ihn. Aber ich träume noch immer vom Meer. Nach der Schule versuche ich, Geld zu verdienen und das Geld spare ich, damit wir ein Auto kaufen können.
Aber ganz plötzlich steht er wieder auf dem Markt mit seinem leuchtend grünen Hemd und wieder verkauft er Fisch. Ich hatte seinen Namen völlig vergessen, aber als ich ihn sehe, ist es, als sei er gestern erst fortgegangen.
"Mbaye!"
Ich stürme auf ihn zu. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, so sehr freue ich mich, ihn zu sehen. Aber ich bin nicht mehr so klein wie Samba und kann mich beherrschen. Mbaye schaut auf und grinst breit, als er mich sieht.
"Mbaye! Du erinnerst dich doch noch an mich, oder?"
"Aber natürlich, mein Sohn. Sag mir nur noch einmal deinen Namen." Dass er mich seinen Sohn genannt hat, bedeutet, dass er mich sehr mag.
"Djibril", antworte ich.
"Djibril, der das Meer sehen wollte", schmunzelt Mbaye.
"Ja! Bist du dort gewesen? Hast du wieder das Meer gesehen?" Mbaye lacht und ich merke, dass ich eine dumme Frage gestelllt habe. Beschämt blicke ich zu Boden.
"Natürlich hast du. Woher sollte sonst der Fisch kommen?"
Mbaye legt seine Hand auf meine Schulter und beugt sich zu mir. Mit seiner anderen Hand hebt er mein Kinn, damit ich ihn ansehe.
"Möchtest du gerne ein Foto sehen?"
"Hast du einen Fotoapparat?" Meine Augen werden gross. Mbaye lacht wieder.
"Das nicht. Aber ich habe ein Handy." Er zieht ein kleines, aufklappbares Handy aus seiner Hosentasche.
"Darf ich?" Fast reisse ich Mbaye das Handy aus der Hand. Ich bin begestert, aber dann merke ich, dass ich besser höflich sein sollte und verschränke meine Arme hinter dem Rücken. Mbaye drückt einige Knöpfe und dann zeigt er mir den Bildschirm. Ich sehe bloss blau. Blaues Meer und blauer Himmel. Alles grenzenlos.
"Was ist hinter dem Meer?", frage ich Mbaye.
"Europa."
"Warst du schon einmal in Europa?"
"Nein."
"Und in Amerika?"
"Djibril, willst du noch immer, dass ich dir das Meer zeige?"
Meine Augen werden gross und als ich merke, dass mir der Mund offen steht, klappe ich ihn schnell zu.
"Ja, aber du... also darf ich mit dir..." Ich merke selbst, wie ich stammle. Mbaye lacht.
"Versprich mir eines, mein Sohn. Du wirst deiner Mutter nichts davon erzählen. Wir sehen uns morgen. Pack nichts ein, sei unauffällig."
"Damit Mama die Polizei nicht ruft?"
"Dann hat sie gesagt, dass sie das tun würde. Sei ihr nicht böse. Du wirst sie bald wiedersehen."
Hüpfend und singend gehe ich nach Hause. Endlich werde ich das Meer sehen! Daheim nehme ich Aissatou auf den Arm und schaukle sie. Ich liebe sie so sehr. Sie wird mir fehlen. Bella schaut mich an und lächelt.
Später spiele ich mit Samba ein Spiel mit den Steinen. Natürlich gewinne ich immer aber deshalb macht es ja Spass. Heute lasse ich Samba mit Absicht gewinnen, aber er merkt es und ist frustriert.
Als ich den Reis koche, denke ich, dass es schade ist, hat uns Mbaye nicht wieder Fisch geschenkt. Aber er denkt vermutlich, dass Mama die Polizei rufen würde.
"Schneidest du mir bitte noch eine Zwiebel, Djibril?", bittet mich Mama in diesem Moment.
"Ja, Mama", antworte ich gehorsam. Ich hole eine Zwiebel und ein Messer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mama die Polizei rufen würde. Mbaye hat ja gar nichts gemacht.
"Nimm dir einen Teller! Djibril, du schneidest nicht in der Luft!"
"Ja, ist gut, Mama." Ich renne noch einmal schnell hinein, um einen Teller zu holen, auf dem ich die Zwiebel schneiden kann. Ich stelle ihn auf den Boden und kniee mich davor. Das Messer ist stumpf. Aber ich mag nicht noch einmal aufstehen.
"Bella! Bring mir ein zweites Messer. Meines ist stumpf", rufe ich meiner Schwester zu aber Mama mischt sich ein: "Hast du nicht zwei Beine? Kannst du nicht selber aufstehen und laufen?"
Ich blicke zu Bella, die abwartend dasteht und schaut, ob ich es mir selbst hole.
"Na los, mach schon!"
"Djibril!" Mama schimpft. Bella bringt mir das Messer und ich ziehe sie am Arm zu mir hinunter.
"Danke, kleine Schwester."
Bella lächelt. Sie mag mich. Mama verdreht die Augen aber ich sehe, dass auch sie lächelt. Ich weiss, wie sehr sie mich liebt.
Ich nehme ein Messer in jede Hand und reibe sie so aneinander, dass mein Messer wieder scharf wird. Früher hat Papa das gemacht und ich habe immer gut zugeschaut.
In der Nacht kann ich nicht schlafen. Ich bin viel zu aufgeregt. Am Morgen stehe ich früh auf und packe meinen Rucksack. Aber nicht zu voll. Mama soll denken, dass ich zur Schule gehe.
Ich laufe zum Markt, aber Mbaye ist nicht da. Ziellos schlendere ich durch die Gassen und sehe mich um. Es fühlt sich an, als würde ich Stunden nach Mbaye suchen.
"Bereit, mein Grosser?"
Ich schrecke zusammen. Ich weiss nicht, weshalb sich Mbaye so leise bewegen kann. Er steht hinter mir und grinst mich breit an und auf einmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich Mama mit nur Bella als Unterstützung zurücklassen will.
Es ist nur eine Woche, Djibril, sage ich zu mir selbst. Aber Mama wird sich Sorgen machen, antwortet eine andere Stimme in mir. Ich weiche einige Schritte zurück und Mbayes Grinsen verschwindet langsam. Ich stolpere und auf einmal packt er mich am Arm und hindert mich am Fallen.
"Bereit!"
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