Kapitel 4 - Der Mann vom Markt
Ich liebe Aissatou! Am liebsten möchte ich ihr alles beibringen, aber dafür brauche ich Geduld. Sie kann noch nicht einmal laufen. Ich wechsle ihr immer die Windeln, wenn Mama gerade beschäftigt ist. Und dann lege ich die dreckigen Windeln auf den Wäschehaufen. Waschen möchte ich sie nicht, das ist eklig.
Samba ist auf einmal gar nicht mehr so klein. Wenn ich Aissatou sehe, merke ich, wie viel er schon kann und gelernt hat.
Manchmal streiten Bella und ich uns, wer Aissatou zu essen geben darf. Zum Glück ist Mama auf meiner Seite und Bella muss mir gehorchen.
Als ich an einem Tag auf den Markt gehe, steht da ein neuer Händler. Er verkauft Fisch aus dem Meer. Den ganzen Tag verbringe ich in seiner Nähe und betrachte ihn und die Fische. Schon mein ganzes Leben lang träume ich davon, einmal das Meer zu sehen.
"Komm her, Junge", ruft mir der Händler zu und ich gehe zu ihm hin.
"Wie heisst du?"
"Djibril."
"Ich bin Mbaye. Was fasziniert dich so an meinem Stand?"
"Die Fische. Kommen die aus dem Meer?"
Mbaye beginnt zu lachen: "Ob die...? Ja, die kommen aus dem Meer." Beschämt blicke ich nach unten und lasse meinen Fuss durch den Sand kreisen.
Dann blicke ich wieder zu Mbaye hinauf und schaue ihn mit strahlenden, träumenden Augen an.
"Ich habe das Meer noch nie gesehen", berichte ich ihm.
"Es ist wunderschön. Du würdest es lieben." Auch Mbayes Augen strahlen und ich bin mir sicher, dass er das Meer vor sich sehen kann.
"Woher kommst du?", frage ich Mbaye neugierig.
"Aus dem Senegal." Seine Augen blicken noch immer in die Ferne, aber auf einmal sieht er traurig aus.
"Von so weit her? Wow!"
"Djibril", fragt Mbaye mich mit einem Lächeln im Gesicht, "möchtest du du das Meer sehen? Ich kann es dir zeigen."
"Du würdest mich hinbringen?" Ich staune und bin auf einmal sehr aufgeregt.
"Und wieder zurück. Wir wären höchstens eine Woche unterwegs und müssten nicht einmal das Land verlassen."
"Wow!"
"Natürlich nur, wenn deine Mutter es erlaubt. Du gehst ja bestimmt zur Schule", wendet Mbaye plötzlich ein.
"Mama wird es nicht erlauben..." Ich werde traurig und lasse den Kopf sinken. Mbaye nimmt zwei schöne grosse Fische und wickelt sie in Papier.
"Hier. Das ist ein Geschenk an deine Mutter. Davon könnt ihr lange essen."
"Danke!" Ich nehme den Fisch und renne, so schnell es mit dem schweren Fisch geht, nach Hause.
"Mama, Mama!" Mama erscheint in der Tür und ihre Augen werden gross, als sie den Fisch sieht.
"Woher hast du den Fisch, Djibril?"
"Da war ein Mann auf dem Markt! Er hat ihn mir geschenkt!" Ich bin noch immer ganz aufgeregt. Aber bevor ich meine Mutter frage, ob Mbaye mir das Meer zeigen darf, soll sie den Fisch auspacken. Ich bin intelligent, ich muss nur den richtigen Moment abwarten und dann wird sie ja sagen. Mama stösst einen lauten Freudenschrei aus: "Alhamdulilaye! Das ist viel zu viel Fisch! Djibril, ruf die Nachbarn, wir werden teilen."
Später kocht Mama den Fisch und ich sehe genau zu. Sie träg Aissatou auf dem Rücken, in ein Tuch gewickelt. Aissatou schläft und Mama summt zufrieden.
"Mama?" Ich spiele mit einem kleinen Stock und zeichne Muster in den Sand. Mama merkt sofort, dass etwas ist, denn ihre Stimme klingt angespannt.
"Was ist, mein Sohn?", fragt sie mich mit einem strengen Unterton.
"Der Mann von Markt... er hat gesagt, er würde mir das Meer zeigen."
"Du gehst nicht mit ihm mit."
"Mama, bitte! Ich habe das Meer noch nie gesehen! Ich träume schon mein ganzes Leben davon!"
"Wir kennen diesen Mann nicht. Ende der Diskussion!"
Traurig zerbreche ich meinen Stock und verwische das Muster mit meinem Fuss. Ich warte.
Ganz leise beginne ich nach einigen Minuten wieder zu sprechen: "Er heisst Mbaye. Er kommt aus dem Senegal."
"Was?", fragt Mama und ich wiederhole mich etwas lauter.
"Ich habe gesagt er heisst Mbaye und kommt aus dem Senegal. Ich kenne ihn, wir haben uns unterhalten."
"Redest du noch immer von diesem Mann vom Markt?" Mama wird ärgerlich. "Geh und mach dich nützlich. Du kannst den Reis kochen."
Ich schmeisse den zerbrochenen Stock in Mamas Richtung. Ich bin wütend. Aber ich passe auf, dass ich sie nicht treffe.
"Djibril!" Sie ist auch wütend. Dabei wollte ich doch bloss das Meer sehen.
"Djibril, was hast du?" Meine Schwester kommt auf mich zu, bleibt aber in einigem Abstand zu mir stehen.
"Nichts! Geh weg!"
"Djibril! Sieh nur, wie du den Reis wäschst. Das ganze Wasser schwappt aus dem Topf und du bist auch schon ganz nass."
"Lass mich in Ruhe!", erwidere ich genervt.
Aber Bella schubst mich weg und wäscht den Reis für mich. Sie findet, ich soll einen Spaziergang machen und mich beruhigen, wenn ich schon nicht sagen will, was los ist.
Am nächsten Morgen zieht mich Mama unsanft aus dem Bett. Es ist noch sehr früh.
"Mama!", protestiere ich.
"Zieh dich an, wir gehen zum Markt."
Schlagartig bin ich wach. Ich muss wieder an das Meer denken. Vielleicht hat Mama ja geträumt, dass sie mich gehen lassen soll?
"Warum, Mama? Warum so früh?"
"Wir werden uns bei diesem Senegalesen für den Fisch bedanken", sagt Mama trocken.
"Und dann?"
"Komm jetzt endlich!"
Ich renne Mama voraus. Ich möchte so schnell wie möglich da sein. Aber auf dem Markt kann ich Mbaye nirgendwo entdecken. Gestern war sein Stand ganz am Rand, ganz vorne und sein grünes Hemd hat geleuchtet.
"Wo ist er denn nun?", fragt Mama spöttisch. "Etwa abgereist?" Mama ist hämisch und ich bin traurig.
"Vielleicht schläft er ja noch und kommt erst später."
"Djibril", sagt Mama und schaut mich lehrerhaft an, "du kannst den Senegalesen nicht trauen."
Mama hat sehr starke Hände. Sie packt meine Hand ganz fest und zieht mich nach Hause. Ich laufe mit ihr und kämpfe gegen die Tränen. Ich bin schon gross, ich sollte nicht weinen. Ich bin bloss so enttäuscht, dass Mbaye nicht darauf gewartet hat, dass ich mit ihm komme.
Wahrscheinlich hat Mama recht und man kann den Senegalesen nicht trauen. Ich beschliesse, keinem Senegalesen je zu trauen.
Zu Hause lege ich mich wieder ins Bett. Ich gehe nicht zur Schule, auch nicht, als Mama mich schlägt, weil ich bloss faul herumliege.
Am Nachmittag suche ich meine Freunde. Aber meine Füsse laufen von alleine in Richtung Markt. Plötzlich spüre ich eine schwere Hand auf meiner Schulter und erschrecke mich.
"Djibril. Hast du mich heute Morgen gesucht?"
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