Kapitel 3 - Das Huhn
Mama bleibt lange weg. Ich mag das nicht, aber wenn ich nicht schlafen will und abends vor der Tür sitze, sagt Tante Fanta immer, dass bestimmt alles gut ist und sie bald kommt.
"Vielleicht schon morgen."
"Vielleicht auch schon heute", gebe ich ihr zur Antwort. "Und wenn sie kommt, möchte ich ihr Reis zum essen bringen. Darum kann ich nicht schlafen."
Tante Fanta wird nicht böse auf mich. Ich glaube, sie kann gar nicht böse werden. Vielleicht, wenn sie selber Kinder hat?
"Tante Fanta, warum hast du noch keine Kinder?"
"Weil ich noch keinen Mann habe."
"Und warum heiratest du dann nicht?"
Tante Fanta lächelt, aber sie antwortet nicht.
"Tante Fanta! Wenn ich grösser bin, kann ich dich heiraten. Du bist hübsch!" Sie lächelt. Ich weiss, dass ihr mein Kompliment gefallen hat.
"Oh danke, mein Sohn!" Ihr grosser Mund entblösst ihre weissen Zähne, die in der Dunkelheit strahlen. Davon angespornt rede ich weiter. "Du bist schlank. Ich möchte keine dicke Frau heiraten. Vor der hätte ich ja Angst! Schlanke Frauen gefallen mir viel besser."
Tante Fanta lacht schallend, aber ich weiss nicht, warum.
"Warum findest du das lustig? Mama lacht auch immer, wenn ich das sage."
"Es ist lustig, Djibril. Wenn du grösser bist und geheiratet hast, wirst du sehen."
Ich möchte Mama gerne entgegenlaufen. Aber ich weiss, dass ich nicht weggehen darf, da Tante Fanta sich sonst Sorgen macht. Und ich habe es Mama versprochen. Ausserdem hören Bella und Samba nicht so gut auf sie, meine kleinen Geschwister brauchen ihren grossen Bruder.
Und Tante Fanta kann nicht kochen. Ich muss ihr immer helfen. Sonst brennt das Essen an oder es hat nicht genug Chili drin.
Und immer muss Tante Fanta das teure Poulet vom Markt kaufen. Sie sagt, dass sie noch nie ein Huhn geschlachtet hat. Das ist, weil sie eine Frau ist. Eigentlich müssen Männer die Hühner töten. Aber wenn Papa nicht da ist, macht es Mama.
Ich kann auch keine Hühner töten, obwohl ich schon fast ein Mann bin. Aber Mama ist nicht böse. Sie sagt, ich habe ein zu weiches Herz. Mein Herz ist nicht gemacht um zu töten.
"Mama schlachtet die Hühner immer selbst, Tante Fanta. Aber ich kann das auch nicht", erkläre ich ihr.
"Dann wirst du es lernen müssen."
"Warum? Mama sagt, ich habe ein zu weiches Herz."
"Oh ja, Djibril, das hast du." Tante Fanta lacht und ich bin mir sicher, dass Mama ihr von der Geschichte erzählt hat, als ich einmal versuchte, ein Huhn zu töten.
Mama sagt, eigentlich ist es ganz einfach. Und ich hatte es ja schon oft gesehen. Man fängt ein Huhn und legt es hin. Dann kniet man sich auf die Flügel, damit es nicht wegfliegen kann. Das habe ich auch geschafft. Und dann hält man mit der einen Hand den Kopf auf dem Boden und in die andere Hand nimmt man ein Messer. Dann trennt man den Kopf langsam ab. Man muss das vorsichtig machen, damit das Blut nicht überall hinspritzt. Aber das Huhn tat mir so leid und ich habe es nicht gut gemacht.
Nachdem der Kopf abgetrennt ist, bindet man die Beine zusammen und hängt das Huhn auf, damit das ganze Blut abfliessen kann. Aber das Huhn hat so gezappelt, dass ich mein Knie von den Flügeln genommen habe und dann ist es weggerannt. Bestimmt eine Stunde rannte es umher, ohne Kopf, bis es schliesslich umfiel und ich es aufhängen konnte.
Ich habe Mama gesagt, dass ich nie wieder ein Huhn töten werde. Normalerweise sind Hühner spätestens eine Viertelstunde nachdem man ihnen den Kopf abgeschnitten hat tot.
"Tante Fanta, wenn ich viel Geld verdiene, kann ich auch immer Poulet vom Markt kaufen. Meine Frau ist sicher auch glücklich, wenn sie das viele Blut nicht sehen muss."
"Wenn du eine eine Familie hast, wirst du dein Geld für andere Sachen ausgeben", entgegnet mir Tante Fanta. "Zum Beispiel für die Schule deiner Kinder. Bildung ist wichtig, weisst du?"
"Ich gehe ja zur Schule! Und ich kaufe meine Hefte und Stifte alle selber. Und für Bella auch. Ich werde meinem Sohn beibringen, wie man Geld verdient."
Nach vielen endlosen Tagen kommen Mama und Papa endlich nach Hause. Ich bin überrascht, dass sie bloss ein Baby haben. Mamas Bauch war doch so gross!
Es ist ein Mädchen. Ich freue mich, dass ich noch eine Schwester kriege. Mama hat sie Aissatou genannt. So heisst auch meine Grossmutter.
Mama sieht müde aus. Ich bringe ihr den Reis und eine Tomatensauce, die ich ganz alleine gekocht habe. Dann bringe ich auch meinem Vater etwas zu essen und zu trinken.
Tante Fanta nimmt Aissatou und wir bringen sie zusammen ins Bett. Sie schreit bevor sie einschläft, aber das ist normal, weil sie ein Baby ist, und es stört mich nicht.
Papa bleibt zwei Tage hier und dann schimpft er mit Mama. Ich höre zu und dann gehe ich mutig zu Papa. Ich muss meine Mutter ja beschützen.
"Kannst du nicht endlich das Baby zum Schweigen bringen? Es schreit Tag und Nacht!", beschwert sich Papa. "Gibst du ihm nicht genug Milch, oder was? Du brauchst dich überhaupt nicht zu wundern, dass ich so selten zu Hause bin. Man würde meinen, nach dem vierten Kind hättest du endlich gelernt, wie man erzieht!"
"Papa! Babys schreien. Da macht Mama gar nichts falsch! Das hat Tante Fanta auch gesagt."
"Djibril, scher dich weg! Du hast keine Ahnung von Kindern und Fanta ebensowenig. Was meinst du, weshalb kein Mann sie haben möchte?" Ich stampfe einmal auf den Boden. Papa macht mich wütend.
"Ich kann Tante Fanta heiraten, wenn ich grösser bin. Sie ist hübsch und sie ist schlank. Und jung!"
Papa fängt an zu lachen, aber seine Augen sehen bedrohlich aus. Als ich sehe, dass er seinen Gürtel auszieht, renne ich weg und verstecke mich. Aber ich achte darauf, dass ich ihn immer noch sehen kann, damit ich weiss, wo er ist und was er macht.
Aber Papa wollte mich gar nicht schlagen. Er bindet seinen Gürtel wieder zu, füllt unseren restlichen Reis in eine Plastikdose, nimmt eine Wasserflasche und verlässt unser Haus.
Seither habe ich ihn nicht wieder gesehen.
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