Kapitel 12 - Schulferien
Bald schon nenne ich meinen Grossvater nur noch Vater, manchmal auch Papa. Er ist mir ein richtiger Vater und hört mir zu, wie Mama mir immer zugehört hat. Ich vermisse sie sehr. Mein Grossvater besitzt ein Telefon und Leute aus der ganzen Stadt kommen zu ihm, weil sie telefonieren müssen. Er hat sogar eine Kamera und beobachtet die Leute, während sie vor der Tür warten. Sind sie ihm suspekt, schickt er sie wieder fort.
"Djibril, komm her. Ich möchte dir etwas zeigen." Onkel Alpha holt eine kleine Schachtel aus seiner Tasche und zeigt sie mir.
"Wow! Ein Handy!" Mit schnellen Fingern befreie ich das Handy aus seiner Packung und nehme es ehrfürchtig in die Hand. Es ist ganz neu, in schönem hellgrau. Vorsichtig klappe ich es auf und betrachte es von allen Seiten. Natürlich ist es nicht aufgeladen, aber ich drücke trotzdem spielerisch auf der Tastatur herum.
"Es ist für deine Mutter", sagt Onkel Alpha. "Gefällt es dir? So kannst du ab und zu mit ihr telefonieren."
"Das ist toll, Onkel Alpha! Wir müssen es ihr unbedingt schicken!" Ich möchte Onkel Alpha gerne umarmen, aber ich weiss, dass ich schon zu alt dafür bin. Also reiche ich ihm die Hand, um mich zu bedanken.
"Bedanke dich bei deinem Vater", sagt er bloss. "Es war seine Idee."
Mein altes Leben fehlt mir, Bella und Samba und vor allem Aissatou. Ich hätte ihr so gerne das Fussballspielen beigebracht. Aber am meisten fehlt mir Mama. Als wir telefonieren, fragt sie mich, ob ich in den Schulferien nach Hause kommen möchte. Natürlich will ich!
Grossvater gibt mir Geld für den Bus und Onkel Alpha begleitet mich bis zu der Haltestelle. Bis auf meinen Rucksack habe ich kein Gepäck dabei. Die Fahrt dauert lange.
Schliesslich steige ich aus und laufe zu Fuss weiter, bis ich das Dorf erblicke. Als erstes gehe ich zu einem kleinen Laden. Die dicke Frau mit den bunten Haaren erkennt mich wieder und strahlt über das ganze Gesicht.
"Djibril! Willkommen daheim. Deine Mutter hat mir gestern erst erzählt, dass du zurückkommst."
Während die Frau mir berichtet, was in den letzten Monaten passierte, suche ich die saftigsten Orangen und reifsten Kochbananen zusammen und lege sie der Frau auf die Theke. Sie wiegt beides.
"Weisst du was, mein Junge? Diese zwei Bananen hier schenke ich dir. Und den Laib Brot für deinen kleinen Bruder auch."
"Danke."
Die Verkäuferin legt mir alles in eine Plastiktüte, ich nehme sie und beeile mich nach Hause zu kommen.
"Grüss deine Mutter von mir!", ruft mir die Frau hinterher, aber ich drehe mich nicht um. "Und deine Schwester Bella. Diesem hübschen Mädchen werden die Jungs bald in Scharen hinterherrennen."
Bella? Ist sie so schnell gewachsen?
Daheim treffe ich sie vor unserem Haus an. Sie ist wirklich gewachsen und wunderschön geworden. Als Samba in der Tür erscheint, hätte ich ihn fast nicht mehr erkannt.
"Djibril!", ruft er glücklich.
"Hallo grosser Bruder", sagt Bella. Während Samba stürmisch ins Haus zurückrennt und unsere Mutter ruft, bleibt Bella in einigem Abstand zu mir stehen und betrachtet mich mit grossen Augen. Sie verhält sich distanziert. Aber als ich Mama sehe, vergesse ich Bella und renne auf sie zu, um sie zu umarmen.
"Du hast mir so gefehlt, Mama!"
"Du mir auch, mein Junge."
"Ich gehe Aissatou holen", sagt Bella bloss.
Bella ist krank gewesen, erklärt mir meine Mutter. Zuerst will ich mich empören, dass sie mir nichts erzählt hat, aber dann gestehe ich mir ein, dass es mich bloss aufgewühlt hätte.
Ich habe verstanden, dass ich manchmal impulsiv handle und meine Emotionen nicht so auslebe, wie die Anderen das erwarten. Tante Fanta hat mir das erklärt, als der Hund meines Vaters gestorben ist und ich einen Klassenkameraden verprügelt habe, der mich geärgert hat. Wir haben lange über den Vorfall geredet und Tante Fanta hat mich besser verstanden als jeder zuvor, mit Ausnahme meiner Mutter natürlich.
"Du wolltest nicht, dass ich etwas dummes anstelle", sage ich zu Mama.
"Du hättest nichts ändern können, Djibril", erwidert sie.
"Wir hätte Grossvater fragen können, ob er dir etwas Geld für Medikamente schickt."
"Das habe ich getan."
Wir unterhalten uns wie Erwachsene, stelle ich fest, und an Mamas Lächeln erkenne ich, dass sie das gleiche denkt. Da bei meinem Grossvater fast alle älter sind als ich, muss ich viel wissen und können, damit sie mich wahrnehmen.
"Dein Grossvater hat mir erzählt, dass du für ihn arbeitest", beginnt Mama ein Gespräch. Ich erzähle meiner Familie von meinem Leben in der Stadt. Ich verkaufe Taschen, die aus Europa zu meinem Grossvater kommen. Und Autoteile. Manchmal kommen arme Männer zu meinem Grossvater und bitten ihn um Geld, da sie ihre Familie ernähren müssen. Sie lassen ihr Auto bei uns stehen und Vater macht ihnen ein gutes Angebot. Meine Onkel bauen das alte Auto auseinander und ich helfe ihnen. Dann verkaufe ich die einzelnen Teile. Mein Grossvater besitzt viele Autos. Ganze drei Stück. Manchmal fahre ich mit einem in der Stadt umher. Das darf ich natürlich nicht, deshalb erzähle ich es Mama auch nicht.
"Gehst du denn auch zur Schule?", fragt Mama. Sie weiss, dass mein Vater für meine gute Schulbildung bezahlt. Und auch wenn ich nicht jeden Tag gehe, gehe ich ganz oft.
"Natürlich Mama. Aber ich arbeite auch für Vater und habe nicht jeden Tag Zeit."
Obwohl Bella am Anfang so distanziert war, verstehen wir uns bald schon wieder so gut wie früher. Sie erzählt mir, dass sie Mama mit Kochen und Wäsche waschen viel helfen muss. Eigentlich passt es mir nicht, dass sie meine Rolle übernimmt, aber ich bin froh, dass Mama Unterstützung erhält.
"Gehst du noch zur Schule?", frage ich sie vorsichtig.
"Nur noch selten. Es ist schwierig, wenn du nicht da bist." Bella schaut weg. Ich merke, dass sie mir einen Vorwurf macht und es zu verbergen versucht. Aber es war ja nicht meine Entscheidung fortzugehen.
"Ich komme wieder zurück, kleine Schwester. Versprochen."
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