Kapitel 1 - Der Orangenbaum
Ich wuchs bei meiner Mutter auf, bis ich neun war. Es war ein nettes kleines Dörfchen und wir waren eine glückliche Familie.
Ich bin der Erstgeborene. Das ist gut so, denn das bedeutet, dass meine Mutter und ich eine spezielle Bindung haben. Sie ist meine beste Freundin und ich bin ihr bester Freund. Ich dachte immer, dass nichts uns jemals trennen wird.
"Djibril!" Das ist sie. Sie wird mich schlagen, da ich zwei Tage weggewesen bin. Sie hat sich Sorgen gemacht. Schnell renne ich davon. Ich werde später nach Hause gehen.
"Djibril!" Das ist die Stimme meines Bruders.
"Wo bist du, Samba?"
"Hier oben!" Samba konnte kaum laufen und schon kletterte er auf jeden Orangenbaum. Das hat er sich von uns Grossen abgeschaut.
Samba ist mein kleiner Bruder. Er ist weniger intelligent. Er weiss auch nicht, wie man Verantwortung übernimmt.
Schon mit zwei Jahren - ich sage doch, er konnte noch kaum laufen - rannte er immer zum Bäcker. Er liebt Brot über alles, aber er konnte noch nicht reden und hängte beliebige Silben aneinander. Ich wusste, was er meint, und so lief ich zu der Frau, gab ihr etwas Geld und sagte ihr, dass mein Bruder Brot wolle. Er hätte auch selber Geld mitnehmen können, aber er ist ja nicht so intelligent.
Wir Grossen klauen manchmal Orangen von den Bäumen. Dazu stopfen wir unser T-Shirt in die Hose. Man muss aufpassen, dass man ein grosses T-Shirt trägt und die Hose eng sitzt, sonst muss man sie mit Schnur befestigen. Ausserdem muss das T-Shirt überall gut in der Hose stecken, auch hinten. Samba versteht das nicht.
Dann pflücken wir die Orangen und lassen sie durch die Öffnung an unserem Hals in das T-Shirt fallen. Sobald wir keinen Platz mehr haben, springen wir hinunter und rennen in unser Geheimversteck. Dort trinken wir sie dann.
"Komm herunter, Samba", rufe ich meinem kleinen Bruder zu.
"Nein! Ich habe schon zwanzig Orangen."
"Das ist zu wenig. Du brauchst mindestens hundert, damit es sich lohnt." Samba kann noch nicht zählen. Schon drei und vier verwechselt er.
"Ich kann nicht", beginnt Samba zu jammern.
"Du bist hochgekommen, also komm auch wieder herunter."
"Ich habe Angst."
"Wovor?"
"Der Orangenmann."
Niemand kennt seinen Namen. Ausser die Erwachsenen vielleicht. Wir nennen ihn immer nur den Orangenmann.
Einmal hat er uns erwischt. Weshalb? Samba hat sein T-Shirt hinten nicht gut in die Hose gesteckt. Er trug eine alte Hose von mir und diese war ihm zu gross. Er war selbst schuld, wir hatten Schnur dabei, er hätte uns fragen können.
Auf einmal purzelten die Orangen aus seinem T-Shirt und seinen Hosenbeinen und Samba schrie. Ich sage ja, er ist nicht so intelligent. Jeder weiss doch, dass wir leise sein müssen.
Der Orangenmann sprang aus der Tür und alle rannten schnell weg. Nur Samba blieb auf dem Baum und deshalb musste ich auch oben bleiben. Der Orangenmann stand da mit einer Schaufel und er wollte uns verprügeln. Da öffnete ich die Schnur um meine Hose mit einem Messer. Ich hob mein T-Shirt an und die Orangen fielen auf den Orangenmann, der sich schützend in Deckung begab.
"Samba renn!" Samba sprang von dem Baum herunter und rannte zu den anderen Kindern. Als meine Orangen alle heruntergepurzelt waren, sprang ich auch so schnell ich konnte, hielt meine Hose fest und rannte weg. Es war wirklich schade um die vielen Orangen.
"Der Orangenmann ist auf dem Markt. Ich habe ihn vorhin gesehen. Also komm schnell herunter, bevor er zurückkehrt." Samba springt und ich ziehe ihm das T-Shirt aus der Hose, damit seine paar Orangen herunterfallen.
"Djibril, nein! Das sind meine Orangen!"
"Komm jetzt!" Ungeduldig verdrehe ich meine Augen. "Du willst doch nicht, dass Mama dich schlägt, weil du klaust? Oder dich zum Orangenmann mit seiner Schaufel bringt?"
Statt einer Antwort beginnt Samba die Orangen aufzulesen und sie in sein T-Shirt zu legen, das er am unteren Saum vorne hochgezogen hat.
"Lass das!" Ich gebe Samba einen Klaps auf die Hand und er lässt die Orangen fallen. Ich packe seinen Ellbogen und ziehe ihn mit mir. Er beginnt zu weinen.
Mama sagt, das macht er, weil er klein ist. Und sie sagt auch, dass er noch intelligent wird. Wir werden sehen, aber ich kann mir das schwer vorstellen.
Ich weine nie. Ausser ich habe mir sehr fest weh getan. Mama schlägt mich manchmal richtig fest und dann würde ich am liebsten eine Woche nicht nach Hause kommen.
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