35) Freundschaft
„Ich kann nicht fassen, dass du uns das alles verheimlicht hast."
Wie erwartet war Maren außer sich, schwankte irgendwo zwischen Fassungslosigkeit, Ärger und Besorgnis. Die ganze Woche über hatte ich mit mir gerungen, sie endlich in mein Drama einzuweihen, und als Marvin heute Morgen hochoffiziell aus unserer Projektgruppe ausgestiegen war, uns beide blockiert hatte und vorhin auch zur Praxisstunde natürlich nicht aufgetaucht war, hatte ich entschieden, dass die Stunde der Wahrheit gekommen war.
„Ich meine, du hast ..." Sie ächzte dramatisch. „Du führst eine geheime Beziehung mit einem unserer Dozenten. Und noch dazu ist es ausgerechnet Mr. Malik, der heißeste Dozent überhaupt. Oh. Mein. Gott. Niall, warum erzählst du uns das denn nicht? Wir hätten vor der Tür Schmiere stehen können, wenn ihr ..." Dann schien sie zu bemerken, dass Harry betont unbeteiligt seine Schuhspitzen betrachtete, denn sie hielt inne. „Moment mal. Du hast es etwa gewusst?"
Abwehrend hob Harry die Hände. „Nur durch Zufall. Hätte ich die zwei nicht auf dem Parkplatz zusammen erwischt, würde ich es auch erst jetzt erfahren"
„Tut mir leid." Verlegen wand ich mich unter Marens anklagendem Blick. „Es ist mir echt schwergefallen, aber das war nicht gerade eine Sache, mit der wir groß herumposaunen konnten. Ist es immer noch nicht, auch wenn wir jetzt mehr oder weniger offiziell den Segen haben, dass wir nicht gegen irgendeine Ethikrichtlinie verstoßen."
Maren betrachtete mich skeptisch. „Und Marvin ist rausgeflogen?"
„Richtig."
„Gut so." Sie lehnte sich zurück. „Ich konnte diesen Feuermelder-Drecksack von Anfang an nicht ausstehen. Mein Bauchgefühl wollte mich wohl warnen."
Ich schüttelte den Kopf. „Meins hat total versagt. Ich dachte auf der Fakultätsfeier, wenn ich gleich von Anfang an sage, was Sache ist, wird es einfach ein lockerer, spaßiger Abend ohne irgendwelche Erwartungen. Wer kommt schon darauf, dass der Typ keine Grenzen kennt?"
„Nein, darauf kommt man in der Regel nicht einfach so." Maren presste sich die Hand vor den Mund, dann gab sie ein erschütterndes Seufzen von sich. „Fuck. Niall, es tut mir wirklich leid, dass wir uns einfach verdünnisiert haben. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass ..."
„Hör doch auf", schnitt ich ihr entschieden das Wort ab. „Ich treibe mich ständig allein in irgendwelchen Clubs herum, das hat mir nie etwas ausgemacht und bisher war es auch immer in Ordnung. Dass es letzte Woche schiefgegangen ist, hat rein gar nichts mit euch zu tun. Ich hätte nicht so viel trinken sollen."
„Hey, mit dir hat es auch nichts zu tun", schaltete Harry sich ein. „Und mit deinem Alkoholkonsum auch nicht. Marvin ist derjenige, der sich dafür entschieden hat, sich so zu verhalten, wie er sich eben verhalten hat. Dass er von der Uni geflogen ist, hat er sich einzig und allein selbst zuzuschreiben."
„Ich weiß." Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Das Ganze fühlt sich trotzdem noch so unsicher an. Er könnte immer noch über die sozialen Medien irgendwelche Geschichten in die Welt setzen, Zayns Namen durch den Dreck ziehen und seine Karriere ruinieren. Schon allein aus Rache. Ihr wisst ja, welchen Schaden bloße Gerüchte anrichten können."
Maren rutschte unruhig umher, sorgte dafür, dass die alte Bank unter uns bedenklich knarzte. Die komplette Ausstattung in den Gängen der Universität hätte eine Erneuerung dringend nötig, aber das würde man wohl erst dann angreifen, wenn sich jemand ernsthaft daran verletzte.
„Hast du ihn denn angezeigt? Oder hast du noch vor, es zu tun?" Sie fing meinen Blick auf. „Ich meine, wäre dieser andere Typ nicht aufgetaucht, wäre weiß Gott was passiert. Mal ganz davon abgesehen, dass auch so schon genug passiert ist."
Ich zögerte, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Darüber habe ich mit Zayn auch schon gesprochen, aber ich denke, ich werde es nicht tun. Solange Marvin nicht anfängt, verdrehte Versionen der Wahrheit ins Netz zu stellen, versteht sich. Ich hoffe, der Rausschmiss durch die Rektorin höchstpersönlich war ihm Denkzettel genug. Und Schiss vor einer Anzeige hat er ja auch."
„Okay." Maren wirkte nicht überzeugt, drängte mich jedoch nicht weiter. „Solltest du dich aber doch noch dazu entscheiden, kommen wir gerne mit."
Harry nickte so heftig, dass seine Locken in alle Richtungen flogen, und ich sah gerührt zwischen den beiden hin und her. „Danke euch. Ich werde euch auf dem Laufenden halten."
Maren wollte etwas entgegnen, doch dann fiel ihr Blick auf etwas auf der gegenüberliegenden Seite der Aula, und prompt nahmen ihre Augen den Umfang ihrer filigranen Brille an.
„Niall", hauchte sie. „Niall, da ist dein Freund."
Wie vom Blitz getroffen fuhr ich hoch, stellte fest, dass sie Recht hatte. Dort drüben war soeben kein Geringerer Zayn durch den Haupteingang hereingekommen und steuerte nun auf die gläserne Flügeltür zu, die in den Verwaltungstrakt führte. Selbstverständlich trug er immer noch dasselbe wie davor in der Musikpsychologie-Praxisstunde, aber ich konnte trotzdem den Blick nicht von ihm loseisen. Vor allem nicht von dem engen, schwarzen Rollkragenpulli und dieser einzelnen Haarsträhne, die ihm in die Stirn hing. Am liebsten würde ich mich direkt auf ihn stürzen und ihn ausziehen.
Prompt drehte er den Kopf in unsere Richtung, fing natürlich sofort meinen Blick auf – und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Oh mein Gott." Maren neben mir quiekte wie ein Schweinchen, stieß mir den Ellbogen in die Seite. „Oh mein Gott. Er hat dich angelächelt!"
Harry gurgelte leise. „Sei darüber lieber nicht zu begeistert. Der Typ hat schon ganz andere Dinge mit ihm gemacht."
„Klappe!", zischte Maren ihn an. „Er kommt her. Fuck."
Harry antwortete irgendetwas Schnippisches, doch ich blendete den Rest ihrer Konversation aus, um mich stattdessen zu erheben und Zayn entgegenzukommen. Sorge keimte in mir auf. Was tat er denn hier an der Uni? War nicht schon alles geklärt, was man klären musste? Oder war auf den letzten Metern doch noch irgendetwas schiefgegangen?
„Hi." Zayns schiefes Grinsen war so vertraut, dass meine Knie davon weich wurden. Die Hände hielt er steif in den Hosentaschen vergraben, und ich konnte nur erahnen, dass das ein Schutzmechanismus war, um sie davon abzuhalten, in meine Richtung zu wandern. Sehr nachvollziehbar. Mir ging es nicht anders. „Alles klar bei euch?"
„Ja, ja." Besorgt ließ ich den Blick über sein Gesicht gleiten. „Ist bei dir alles klar?"
„Weil ich mich an der Uni herumtreibe?" Zayn winkte ab. „Ich werfe nur für meinen Bruder etwas bei der Verwaltung ein." Er hielt inne, als er bemerkte, wie meine Schultern vor Erleichterung herabsackten, und lächelte bekümmert. „Du hast schon wieder mit Stress gerechnet, hm?"
„Kannst du es mir verübeln?"
„Nicht wirklich, nein." Er sah über meine Schulter hinweg zu der Bank hinüber, auf der Maren und Harry saßen und uns sicherlich wie gebannt anstarrten, in Marens Fall eventuell sogar durch ein Fernglas. „Maren weiß Bescheid."
Er formulierte es als Statement, nicht als Frage, was meine Theorie mit dem gebannten Starren – hoffentlich ohne das Fernglas – einwandfrei bestätigte.
„Jup." Ich biss mir auf die Unterlippe. „Bisher hat sie aber noch keine Forderungen gestellt, dass sie deinen Personalausweis sehen oder ein Abendessen mit dir möchte."
Zayn lachte leise. „Das will ich auch hoffen. Ich kann es mir nicht leisten, zu einer weiteren Person aus meinem Kurs eine persönliche Bindung aufzubauen. Jedenfalls so lange, bis das Semester vorbei ist. Danach freue ich mich natürlich darüber, deinen Freundeskreis kennenzulernen."
Mein Herz drohte mir aus der Brust zu springen, so heftig klopfte es bei diesen Worten, pumpte ein wohliges, kribbeliges Gefühl der Wärme durch meinen Körper, ließ die Schmetterlinge in meinem Bauch Tango tanzen.
„Gleichfalls." Ich schluckte schwer, musste meine Finger umso mehr im Stoff meiner Jeans vergraben, um nicht nach Zayns Händen zu greifen. Es verursachte mir fast körperliche Schmerzen, so nahe vor ihm zu stehen und doch so weit weg zu sein. Ihn nicht berühren zu dürfen, obwohl er sich in direkter Reichweite befand. „Was hast du heute Abend so vor?"
Seine braunen Augen begannen zu funkeln. „Bis jetzt noch nichts. Du?"
Ich befeuchtete meine Lippen. „Bis jetzt auch noch nichts."
„Wann hast du aus?"
„Nach der Veranstaltung jetzt dann. Um sechs."
„Okay." Sein Blick hielt meinen fest, brannte sich förmlich in mich ein und ließ mein Gemüt in Flammen stehen. „Ich warte an unserem üblichen Parkplatz."
„Okay." Mühsam schluckte ich ein hysterisch-glückseliges Kichern hinunter, das meiner Kehle zu entschlüpfen drohte. „Dann bis später. Viel Erfolg noch bei deinem Botengang."
„Danke." Ein verschmitztes Grinsen umspielte seine Lippen. „Viel Erfolg noch mit Marens Fragen."
Meine Wangen fühlten sich brühwarm an, als ich mich umdrehte und zu meinen Freunden zurücklief. Harry nickte mir lediglich mit einem verhaltenen Lächeln zu, während Maren buchstäblich auf und ab hopste. Sie konnte gar nicht abwarten, bis ich mich aus eigener Kraft hingesetzt hatte, sondern packte mich am Arm und zerrte mich schwungvoll auf meine vier Buchstaben.
„Oh. Mein. Gott." Todernst sah sie mich an. „Die Ihr habt ausgesehen, als hättet ihr gleich Sex auf dem nächstbesten Tisch."
„Nur keine Sorge", murmelte Harry zynisch im Hintergrund. „Ich bin mir sicher, sie haben sich soeben für welchen verabredet."
Diese Pisser.
„Ey, Leute, ich bin auf Entzug, ja?", versuchte ich mich zu rechtfertigen. „Ich habe ihm hundertmal gesagt, dass ich definitiv mit ihm schlafen will und ich – wenigstens was das betrifft – nicht traumatisiert bin oder so, aber er glaubt mir ja nichts. Mehr als einen Blowie konnte ich in den letzten Tagen nicht aus ihm herauskitzeln. Ich bin horny ohne Ende, also hört auf, mir meine Vorfreude zu vermiesen, ihr Arschlöcher."
„Ich finde es gut, dass ihr euch damit Zeit gelassen habt", merkte Harry an, schlagartig wieder völlig ernst. Immer wieder erfrischend, wie schnell der Typ zwischen schwärzestem Sarkasmus und Todernst hin und her switchen konnte. „Ich kann natürlich nicht aus eigener Erfahrung sprechen, Gott sei Dank, aber kann mir vorstellen, dass man vielleicht auch erst einige Zeit nach so einem Erlebnis bemerkt, ob und wie sehr es Spuren hinterlassen hat. Zayn passt nur auf dich auf."
„Ich weiß." Mit gerunzelter Stirn zupfte ich an einem abstehenden Faden am Saum meines Shirts. „Um ehrlich zu sein, bin ich auch ein bisschen überrascht von mir selbst, falls das Sinn ergibt? Also, dass ich nach der Scheiße mit Marvin wirklich keine Hemmungen habe, was Sex oder Berührungen betrifft. Dass sich meine Haltung dahingehend nicht verändert hat. Vielleicht wäre das anders gewesen, wäre noch mehr passiert, aber ..." Ich schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich hab jetzt eher ein Problem damit, allein in irgendwelche Clubs zu gehen. Letztes Wochenende in der Arbeit war das so ein komisches Gefühl, vor allem, wenn ich die Bar verlassen und unter die Leute musste. Es ist nicht direkt Angst oder so, aber es ist einfach ... komisch. Klingt das blöd?"
„Das klingt überhaupt nicht blöd", sagte Maren wie aus der Pistole geschossen, sobald ich geendet hatte. „Ich denke, das ist eine völlig normale Reaktion, die jeder verstehen würde. Es ist so krass. Leute wie Marvin bringen es fertig, dass man sich beim Feiern allein nicht mehr sicher fühlt. Und was dich und ... Zayn betrifft, fuck, dieser Vorname, es ist ja nichts in Stein gemeißelt, ja? Wenn du plötzlich merkst, dass du doch mehr Hemmungen hast, als du anfangs dachtest, sagst du das einfach und gibst dir noch mehr Zeit."
Ein warmes Gefühl durchströmte mich bei all diesen ermutigenden, stärkenden Worten, die meine Freunde hier fanden, und um ein Haar hätte ich den Wasserhahn aufgedreht.
„Ja. Danke." Ich schenkte ihnen ein schiefes Lächeln. „Aber Leute ... jetzt mal beiseite mit all den Traumareaktionen und den Scheißtypen. Hatte ich schon erwähnt, dass ich auf Entzug bin und mich über die Aussicht auf heute Abend freue?"
Maren gackerte ausgelassen vor sich hin, während Harry kopfschüttelnd das Gesicht in den Händen vergrub, und ich linste ungeduldig auf die Uhr.
Das würde noch ein langer Tag werden.
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Sorry again für die längere Pause, irgendwie war mein Alltag alles andere als eine Pause💀😂🙄 Aber ich habe diese Woche Urlaub, thank GOD.
Mir ist bewusst, dass in diesem Kapitel plot-wise nicht viel passiert, aber dieses Gespräch zwischen den dreien war mir unfassbar wichtig🙈 Schon allein, um das Thema eines potenziellen Traumas aufzuarbeiten und um die Bedeutung von Bezugspersonen nach so einem Erlebnis zu zeigen. Vertraute Personen, mit denen man reden kann und/oder die einfach da sind, sind so wichtig.
Da das nächste Kapitel (das eigentlich noch zu dem hier dazugehört hätte) neben einigen weiteren Gesprächen und emotional-Ziall-bonding literally zu 90% fucking Smut ist, überlege ich, das auch gleich noch hochzuladen, aber we'll see😭💀
Dankeschön für alles & liebe Grüßeeeee!❤
Andi🌈
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