33) Konfrontation

Die erste Vorlesung am Montag – den dritten Teil der Psychologischen Grundlagen – verbrachte ich mit nervösem Fußwippen und Fingernägelkauen. Wieder und wieder schielte ich abwechselnd auf die große Uhr im Vorlesungssaal und auf die Digitalanzeige meines Smartphones, während ich meine schweißnassen und zugleich dennoch eiskalten Hände im Schoß verknotete. Exakt jetzt saß Zayn beim Präsidenten der Hochschule und schilderte diesem seine Sicht der Dinge, und ich machte mir vor Sorge in die Hose.

Der Rest meiner Gehirnkapazitäten ging dafür drauf, mir die Begegnung mit Marvin nachher im Musikpsychologie-Kurs auszumalen. Würde er sich tatsächlich trauen, mich anzusprechen, als wäre nichts gewesen? Oder plante er, mich davor schon im Gang abzufangen?

Leider war ich heute allein – Harry hatte noch immer Magenschmerzen, Maren musste zu einem Arzttermin – und das machte die Situation natürlich nicht gerade besser. Ich hatte keine Angst vor Marvin, nein. Ich hatte eher Angst davor, dass es ihm gelang, mich dermaßen zu provozieren, dass ich ihm in aller Öffentlichkeit eine Ohrfeige gab. Oder einen Tritt in die Eier. Oder beides direkt hintereinander

Die Dozentin hatte die Vorlesung kaum beendet, da sprang ich schon auf und stürmte förmlich aus dem Saal. Wie gebannt starrte ich mein Handy an, als könnte ich auf diese Art einen Anruf oder eine Nachricht von Zayn herbeibeschwören. Saß er etwa immer noch im Gespräch? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sich der Präsident der Hochschule so viel Zeit nahm.

Als ich völlig außer Atem am Seminarraum ankam, war dieser noch vom vorigen Kurs besetzt. Meine Kommilitonen tummelten sich quatschend und lachend auf dem Gang, kippten sich Kaffee in den Rachen oder futterten kleine Snacks. Von Zayn keine Spur.

Verdammt.

Besorgt zückte ich zum zigsten Mal mein Handy. Nichts. Sollte ich ihn einfach anrufen? Nein, es wäre blöd, wenn er sich wirklich noch im Gespräch befand und sein Handy klingelte. Ich sollte einfach abwarten und ...

„Hi, Niall."

Auf die muntere Begrüßung folgte eine Berührung an meiner Schulter, und bevor ich meine Reaktion überdenken konnte, zuckte ich schon reflexartig zurück, nahm vorsichtshalber noch einen Schritt Sicherheitsabstand.

Marvin hatte sich klammheimlich angeschlichen. Ein strahlendes, keckes Lächeln umspielte seine Lippen, als wäre zwischen uns alles paletti, als hätte er mich nicht erst vor ein paar Tagen verdammt nochmal genötigt.

„Na?" Lässig verlagerte er sein Gesicht von einem Bein aufs andere, vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Alles wieder fit? Du warst am Freitag ganz schön besoffen."

Ausdruckslos starrte ich ihn an. Eine wilde Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit brodelte in mir. Wagte er es gerade wirklich, mich einfach so anzuquatschen? Am liebsten würde ich ihn anschreien und vor allen anderen eine Szene machen, aber ich riss mich zusammen. Dieser Typ war es nicht wert, dass ich meinen Sauerstoff und meine Energie an ihn verschwendete. Ein Gewissen besaß er vermutlich sowieso nicht.

Wortlos wollte ich mich wegdrehen, doch er griff nach meinem Arm.

„Hey, warte doch kurz. Ich will doch nur m-..."

„Pfoten weg!", zischte ich ihn an, offenbar nachdrücklich genug, dass er eilig die Hand sinken ließ. Ach, jetzt konnte er das plötzlich? Meine Grenzen respektieren und ein Nein als solches verstehen? Spannend, dass er das vor ein paar Tagen nicht hinbekommen hatte. Musste wohl an den ganzen Leuten um uns herum liegen. „Wir sind fertig miteinander."

Sein Lächeln fiel ein wenig in sich zusammen, ließ seine lässige, pseudofreundliche Fassade bröckeln.

„Noch nicht ganz." Trotz meiner warnend erhobenen Hand trat er einen Schritt näher, warf einen schnellen Blick über seine Schulter, als befürchtete er, jemand könnte hinter ihm stehen und uns belauschen. „Hast du es dir inzwischen überlegt?"

„Was?" Ich musste mir auf die Innenseiten meiner Wangen beißen, um ihm mit der Faust nicht das biestige Lächeln vom Gesicht zu schlagen. „Ob ich mich von dir sexuell nötigen lassen möchte? Nein, danke. Ich verzichte."

„Sexuell nötigen lassen?" Ungläubig lachte er auf. „Ich bitte dich, soo ein Schwachsinn. Warum übertreibst du denn immer gleich so? Sieh es doch einfach als eine Gelegenheit für ein bisschen Spaß. Also?"

„Nein." Ich hielt seinem Blick eisern stand. „Falls du dieses Wort denn kennst. Gestern hatte ich da so meine Zweifel. Immerhin habe ich es mehrmals gesagt, und dir konnte es trotzdem nicht schnell genug gehen, deine dreckigen Pfoten unter mein Shirt zu kriegen."

„Ich habe ... was?" Marvins Gesicht gewann an Farbe, wies plötzlich erstaunliche Ähnlichkeit mit seinen roten Haaren auf. „Was zum Fick redest du? Du bist derjenige, der mir gestern eine geklatscht hat. Ich habe dich doch nur ..."

„Geküsst, ja." Kalt musterte ich ihn. „Mehrmals. Und gegen meinen Willen. Und festgehalten. Auch mehrmals und auch gegen meinen Willen. Und danach wolltest du mich dazu erpressen, mit dir ins Bett zu gehen. Du solltest dir die Definition von sexueller Belästigung und Nötigung nochmal ansehen, Kumpel."

Seine Gesichtszüge entgleisten für einen Augenblick, und ich konnte mir ein bitteres Auflachen nicht verkneifen. „Ah, ich verstehe. Hättest du etwa gehofft, dass ich mich nicht mehr daran erinnere? Hast du deshalb mit deiner Scheißnummer gewartet, bis ich betrunken war? Hast du gedacht, dann kannst du alles mit mir machen, weil ich mich nicht wehren kann und danach einen Blackout habe?"

Marvin stierte mich an.

Eine Ader an seiner Schläfe begann gefährlich zu pulsieren, sein Kiefer bebte unter der Kraft seiner zusammengebissenen Zähne, und der Blick, mit dem er mich durchbohrte, war rundheraus mörderisch. Bestimmt stellte er sich gerade sehnsüchtig vor, wie er mich lebendig durch den Fleischwolf ließ.

„Weißt du, Niall, dann hättest du vielleicht einfach nicht so viel trinken sollen", gab er schließlich gedehnt zurück. „Wenn man betrunken ist, kann man immerhin nicht mehr kontrollieren, welche Signale man sendet. Und dann muss man halt auch damit rechnen, dass andere Leute auf diese Signale reagieren, findest du nicht? Außerdem war ich auch betrunken und wusste nicht mehr so recht, was ich tue." Er hob die Hände zu einer unschuldigen Geste. „Wir hatten also wohl einfach einen Fehler in der Kommunikation."

Ich traute meinen Ohren kaum.

Dieser Wichser.

Dieser elendige Wichser.

„Einen Fehler in der Kommunikation?" Erstickt schnappte ich nach Luft. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. „Ja, weil ein simples Nein auch so viel Raum für Fehlinterpretationen lässt. Du wusstest genau, was du tust. Und mach zur verfickten Hölle nochmal nicht den Alkohol für deinen Bullshit verantwortlich! Meine oder deine Trinkerei rechtfertigt hier überhaupt nichts. Hattest du diese Aktion etwa schon länger geplant? Weil du meinen Korb nicht verkraften konntest? Wie erbärmlich bist du überhaupt?"

„Komm schon, kein Grund, persönlich zu werden." Marvin lächelte schmallippig, doch nun schien er unruhig zu werden. „Was genau möchtest du mir mitteilen?"

„Jetzt nicht mehr viel." Zittrig schob ich mir den rutschenden Riemen meines Rucksacks höher auf die Schulter. „Nur noch, dass du im Psychologie-Studiengang nichts zu suchen hast. Am Ende musst du noch Leute therapieren, die wiederum wegen Leuten wie dir Trauma haben. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn ich dich nicht anzeige."

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie endlich die Tür zum Kursraum aufflog und schnatternde Studierende auf den Gang strömten.

Gott sei Dank.

„Ich gehe rein. Schönen Tag noch."

„Niall. Warte doch kurz." Jetzt klang er irgendwie verstört. Mit der Erwähnung einer möglichen Anzeige hatte ich offenbar einen Nerv getroffen. „Ich glaube, wir m-..."

Und schon wieder griff er nach meinem Arm, und diesmal konnte ich nicht an mich halten. Heftig stieß ich ihn weg, verfolgte mit Genugtuung, wie er sich nur im allerletzten Moment an der Wand abfangen konnte. Ich hatte mich gestern genug von ihm herumzerren und gegen Wände stoßen lassen, jetzt sollte er mal von seiner eigenen Medizin kosten.

„Fass mich bloß nicht an!"

„Du hast sie doch nicht mehr alle!" Zornentbrannt stieß er sich ab, marschierte schnaubend auf mich zu. „Du übertreibst maßlos! Außerdem würde ich an deiner Stelle das Maul nicht ganz so weit aufreißen. Oder hast du etwa vergessen, dass ich jederzeit d-..."

„Guten Tag", hakte sich eine neue Stimme in unsere Unterhaltung ein. „Gibt es hier ein Problem?"

Erleichtert atmete ich auf, als Zayn zwischen uns auftauchte. Natürlich brauchte ich ihn nicht, um ihn meine Konflikte für mich ausfechten zu lassen, aber es tat gut, jemanden auf meiner Seite zu wissen. Vor allem, wenn dieser jemand Zayn war.

„Meine Herren?" Fragend ließ er den Blick zwischen uns hin und her wandern, nach außen hin völlig entspannt und lediglich etwas pikiert, doch ich sah das gefährliche Flackern in seinen sonst so sanftmütigen, braunen Augen. Am liebsten würde er Marvin hier und jetzt in der Luft zerfetzen. „Wenn nicht, schlage ich vor, dass wir zusammen reingehen. Wir sind ohnehin schon spät dran."

Wie auf Knopfdruck zauberte sich Marvin ein strahlendes Lächeln auf die Lippen, ehe er der Aufforderung nachkam und sich zum Gehen wandte. Er konnte ja nicht ahnen, dass Zayn längst wusste, dass er hinter den Fotos steckte, dass ich ihm davon erzählt hatte – und davon, was gestern geschehen war. Marvins Verhalten nach zu urteilen, dachte er wohl nach wie vor, dass er am längeren Hebel saß und mich in der Hand hatte. Dass er uns beide in der Hand hatte.

Hatte er das denn?

Unsicher schielte ich zu Zayn hinüber, während wir auf den Seminarraum zusteuerten. Alles hing davon ab, wie sein Gespräch gelaufen war.

„Alles okay?" Er streifte mich mit einem flüchtigen, neutralen Blick, grüßte lächelnd eine vorbeilaufende Dozentin. „Was wollte er?"

Ich schnaubte abfällig. „Er hat ein bisschen empört getan. Hat behauptet, dass er nicht mehr wusste, was er tut. Und dass alles nur ein Missverständnis war und ich maßlos übertreibe."

Zayns Hände verkrampften sich um den Trageriemen seiner Tasche. „Dieser Scheißkerl. Aber keine Sorge. Er wird sich heute noch wundern."

Mitgroßen Augen sah ich ihn an, holte schon Luft, um nachzuhaken, doch dann tratenwir durch die Tür und unsere Unterhaltung unter vier Augen war beendet. Ichwürde mich bis nach dem Kurs gedulden müssen.


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Oh dear😬 Ich finde ja, Niall hat sich in dieser äußerst fragwürdigen Konfrontation ganz gut geschlagen. Marvin ist ein Wichser der außerordentlichen Sorte.

Und es klingt ganz so, als wäre Zaynie beim Präsidenten erfolgreich gewesen👀 We'll see.

Dankeschön fürs Lesen & liebe Grüße❤
Andi🌈

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