30) Grenzen - 1

An dieser Stelle weise ich erneut auf die Inhaltswarnungen hin!

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Letzten Endes wurde es eine merkwürdige Mischung aus Gespräch und Tanz. Und Alkoholkonsum. Etwas viel Alkoholkonsum. Marvin schien sich für diese Party dasselbe Ziel gesetzt zu haben wie ich – Feiern, Trinken, Ablenkung, Vergessen.

Das war für mich in Ordnung. Wir waren auf dem gleichen Stand, und es fühlte sich gut an, mit ihm und ein paar anderen Leuten, die sich irgendwann hinzugesellt hatten, auf der Tanzfläche abzugehen.

Maren und Harry hatte ich geschrieben, dass ich einen Kumpel getroffen hatte und mir die Sache mit dem Tisch leidtat. Wenig später kam von Maren die Antwort, dass sie Harry ohnehin schnell in sein Wohnheimzimmer bringen und dann zurückkehren würde, wenn sie sich sicher sein konnte, dass er nicht auf dem Weg ins Bett draufging.

Mein Kopf drehte sich mit meinem Sichtfeld um die Wette, die Lichter um mich herum pulsierten, die harten Bässe der Musik und das Stimmengewirr dröhnten mir förmlich in den Ohren. Ich hatte viel zu viel getrunken. Noch ein einziger weiterer Cocktail, und ich würde heute Nacht kotzend über der Kloschüssel hängen.

Haltsuchend griff ich nach dem Tisch, der plötzlich neben mir auftauchte, als der Boden unter meinen Füßen bedenklich zu wanken begann. Irritiert schüttelte ich den Kopf, massierte mir mit den Fingern die Nasenwurzel, als könnte ich so den Schwindel lindern. Die Haare klebten mir schweißnass und unangenehm im Nacken.

Ich brauchte eindeutig eine Pause.

„Ey, Marvin." Ich stieß ihn an. „Ich muss mal kurz hier raus."

„Zu viel getrunken?" Lachend warf Marvin mir einen Arm um die Schultern. Auch er war definitiv nicht mehr ganz sauber, seinen glasigen Augen und den leicht unkoordinierten Bewegungen nach zu urteilen. „Fühl ich. Ich komme kurz mit."

Ich zuckte mit den Schultern. „Von mir aus."

Gemeinsam bahnten wir uns einen Weg durch die tanzenden, lachenden und lallenden Leute, doch als wir den Haupteingang erreichten, registrierte ich, dass es draußen wie verrückt schneite – und als dann auch noch jemand zur Tür hereinkam, fegte ein derart eiskalter Windstoß über uns hinweg, dass sich mir sämtliche Haare aufstellten. Ohne Jacke würde ich definitiv keinen Fuß vor die Tür setzen.

Frustriert wandte ich mich um, zwang Marvin, der seltsame Geräusche des Erfrierens von sich gab, einfach zum Mitkommen. Dann mussten es eben die stillen Gänge neben der Toilette werden. Oder irgendein anderer Ort abseits der Party, an dem sich nicht tausend Leute herumtrieben, knutschten oder kotzten. Der Keller? Dort gab es Sitzgruppen, eine Toilette und einen Snackautomaten. Eine hervorragende Idee.

Kurzentschlossen steuerte ich das Treppenhaus an. Die Musik wurde leiser und leise, je weiter wir uns von der Aula entfernten, bis sie nur noch im Hintergrund vor sich hin wummerte. Schweratmend und erbärmlich strauchelnd brachte ich die letzten Treppenstufen hinter mich und ließ mich ächzend gegen die Wand sinken, dankbar dafür, dass sich nach hier unten tatsächlich noch niemand verirrt hatte. Und wenn doch, sahen wir die entsprechenden Personen wenigstens nicht.

Seufzend schloss ich die Augen, ließ meinen Kopf an die Wand zurücksacken. Das Quietschen von Marvins Sohlen auf dem glatten Steinboden verriet mir, dass er sich mir gegenüber an das Endstück vom Treppengeländer lehnte. In seltsamer Gesellschaft war ich hier unterwegs. Hätte mir gestern jemand gesagt, dass ich mich auf der Fakultätsparty ausgerechnet mit Marvin betrinken würde, hätte ich demjenigen den Vogel gezeigt. Und doch stand ich hier mit ihm, und es könnte mir nicht gleichgültiger sein. Ganz geheuer war er mir zwar nach wie vor nicht, aber allein der unzufriedene, frustrierte Ausdruck in Zayns Gesicht war es mir wert gewesen. Wenn er sich einen neuen Loverboy mit zur Party nehmen konnte, konnte ich auch mit Marvin abhängen. Punkt.

Innerlich wand ich mich bei meinen eigenen Gedanken. Ich benahm mich wie ein verdammtes, emotional völlig unreifes Kind.

„Alles klar bei dir?", drang irgendwann Marvins Stimme in mein Bewusstsein vor. Er klang viel näher, als ich erwartet hatte, und als ich die Augen öffnete, registrierte ich, dass er plötzlich direkt neben mir stand, die Schulter lässig an die Wand gelehnt und die Hände in den Hosentaschen. „Mal ganz abgesehen davon, dass du mich normalerweise zum Teufel schlägst, siehst du irgendwie nicht so aus, als wäre alles in Ordnung."

„Aha." Ich blinzelte, als die Tür auf der gegenüberliegenden Wand Tango zu tanzen begann. Vielleicht sollte ich doch meine Jacke holen und an die frische Luft gehen. „Und woran machst du das fest?"

Marvin gab ein unbestimmtes Summen von sich. „Du suchst gezielt nach Ablenkung."

Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte ich den Kopf, um ihn ansehen zu können. Der Typ überraschte mich. Er war aufmerksamer, als ich angenommen hatte. „Und was, wenn du dir das nur einbildest?"

„Dann mache ich mir Sorgen um mein Bauchgefühl." Ein Grinsen zupfte an seinen Lippen. „Brauchst du denn noch etwas mehr Ablenkung? Ich hätte da etwas im Angebot."

Mein Gehirn war schon wieder viel zu sehr mit verworrenem Rotieren beschäftigt, um seine Worte korrekt zu verarbeiten. Dementsprechend unerwartet traf es mich, als Marvin, der mein Schweigen offenbar als Zustimmung deutete, sich von der Wand abstieß und vor mich trat – und einen Wimpernschlag später küsste er mich plötzlich, als hätte ich ihm auch nur ansatzweise die Erlaubnis dafür gegeben.

Für einen kurzen Moment war ich wie gelähmt. Marvins Lippen auf meinen fühlten sich kein bisschen so an wie die Zayns. Wenn Zayn mich küsste, schossen Funken durch meinen Körper. Funken der Wärme, der Zuneigung, der Begierde.

Marvins Kuss löste nichts davon aus. Er war zwar warm, weil Marvin nun mal ein Warmblüter war und tragischerweise lebte, glänzte ansonsten aber nur mit unangenehmer, schlabbernder Feuchtigkeit. Und, noch viel wichtiger, mit absoluter Unerwünschtheit.

Endlich gelang es mir, mich aus meiner Schockstarre zu lösen, woraufhin ich keine Sekunde mehr zögerte, ihn von mir zu schieben und seine Lippen verschwanden von meinem Gesicht.

„Alter, spinnst du?" Angewidert wischte ich mir mit dem Handrücken über den Mund. Die etwas zu schnelle Bewegung sorgte dafür, dass ich taumelte und mich an der Wand festhalten musste. Meine Sprache klang schrecklich verwaschen. „Was ist falsch mit dir?"

„Was falsch mit mir ist?" Plötzlich schlug Marvin nicht mehr seinen bisherigen neckenden, spielerischen Tonfall an. Plötzlich klang er wütend. Und frustriert. „Echt jetzt, Niall?"

„Was?" Wie auf Knopfdruck keimte auch in mir Wut auf. „Was?"

Marvins Kiefer bebte. „Du denkst also wirklich, es ist okay, mir den ganzen Abend über falsche Signale zu senden, nur um mich dann wüst zu beschimpfen, wenn ich darauf eingehe? Das ist nicht fair."

Fassungslos starrte ich ihn an, brauchte wieder eine halbe Ewigkeit, um das Gesagte zu verdauen. War das gerade sein Ernst? War das sein verdammter Ernst? Wozu zum Henker hatte ich ihm ganz, ganz am Anfang denn gleich verklickert, dass das hier kein verschissenes Date werden würde, und auch sonst nichts in diese Richtung?

„Nicht fair?" Ich verstummte, als ich mich verhaspelte. Verdammter Alkohol. „Hast du mir am Anfang nicht zugehört? Ich habe dir klar und deutlich gesagt, was das hier ist und was es nicht ist!"

„Meinungen können sich ändern."

„Tja. Meine hat sich aber nicht geändert. Schönen Abend noch."

Mit diesen Worten wollte ich mich von der Wand abstoßen und einen dramatischen Abmarsch hinlegen, doch ich schaffte keine zwei Schritte, da griff Marvin nach meinem Arm und zog mich grob zurück.

„Moment." Seine Augen blitzten zornig. „Wir sind hier noch nicht fertig."

„Und wie wir das sind." Frustriert zerrte ich an meinem Arm. „Nimm deine Pfoten weg."

Tat er nicht. Stattdessen rückte er noch näher heran und drängte mich an die Wand, verstärkte seinen Griff zu einer unangenehmen Umklammerung. Heiß traf sein Atem auf meine Wange, roch nach Schnaps und Bier und irgendeinem Pfefferminzbonbon, das er sich offenbar zwischendurch eingeworfen hatte. Es war ekelerregend.

„Marvin, lass das." Wieder startete ich einen Versuch, mich zwischen ihm und der Wand herauszuwinden, doch er ließ mich nicht. Dieser Arsch. „Hey!"

„Komm, stell dich nicht so an." Genervt verdrehte er die Augen. „Wie wäre es mit einer kleinen Challenge? Vielleicht schaffe ich es ja, deine Meinung doch noch zu ändern."

Ich starrte ihn an, nahm seinen entschlossenen Gesichtsausdruck zur Kenntnis, zusammen mit der unnachgiebigen Körperhaltung und dem gierigen Funkeln in seinen Augen – und plötzlich gesellte sich zu der wilden Mischung in mir eine brandneue Emotion hinzu.

Angst.

Begründend auf der Erkenntnis, dass ich mich in meinem jetzigen Zustand kaum zur Wehr setzen könnte, sollte Marvin sich mir tatsächlich aufdrängen. Schlagartig beschleunigte sich mein Puls, sorgte dafür, dass mir das Herz wie wild im Brustkorb hämmerte und das Blut in den Ohren rauschte.

„Stopp." Auf einmal war mir übel. Meine Kehle war so unfassbar eng, und ich musste mich förmlich dazu zwingen, Sauerstoff hindurchzulassen, statt den Atem anzuhalten und kläglich zu ersticken. „Lass mich los."

Auch dieser Aufforderung kam er nicht nach. Stattdessen beugte er sich blitzschnell vor und küsste mich erneut, doch diesmal ließ meine Reaktion zum Glück nicht so lange auf sich warten. Reflexartig stieß ich ihn zurück, und ehe ich es mir anders überlegen konnte, holte ich schon mit der Hand aus – und im nächsten Moment hatte ich ihm schon eine saftige Ohrfeige versetzt, die seinen Kopf zur Seite fliegen und seinen Nacken knacken ließ.

Marvin gab ein schmerzerfülltes Grunzen von sich, taumelte zurück und lockerte dabei seinen Schraubstockgriff um meinen Arm. Hastig wollte ich mich unter ihm hindurch bücken und auf die Treppe sprinten, aber leider war Marvins Regenerationszeit nicht so lange, wie ich gehofft hatte.

Ich hatte mich gerade weggedreht, da gruben sich schon seine Finger in den Stoff meines T-Shirts, zerrten mich zurück. Mir war ohnehin schon vom Alkohol schwindelig, und diese ruckhafte Bewegung sorgte dafür, dass mir der Boden unter den Füßen entglitt. Allein Marvins Griff bewahrte mich vor einem Sturz, doch die Tatsache, dass dabei mein Shirt hochrutschte und seine Finger mit meiner nackten Haut in Berührung kamen, sorgte dafür, dass mir eine Begegnung mit dem Boden tausendmal lieber gewesen wäre.

Waschechte Panik keimte in mir auf. Alles um mich herum drehte sich, mein Magen rumorte unangenehm und meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding, und ich konnte einfach nicht begreifen, was hier geschah. Alle Alarmglocken in meinem Kopf schellten lautstark, als Marvin mich wieder gegen die Wand drängte, ehe sein Gesicht vor meinem auftauchte. In seinem linken Mundwinkel klebte etwas Blut, das er nun flüchtig fortwischte, und er wirkte um ein Vielfaches wütender als zuvor. Mir drehte sich der Magen um. Warum zur verschissenen Hölle kam nicht endlich jemand die Treppe herab?

„Ich kapier dein Problem nicht." Er klang aufrichtig frustriert. Ich wusste nicht, ob mich das beruhigen oder meine Angst noch weiter anfachen sollte. Er war alkoholisiert, das stand fest, aber das gab ihm noch lange nicht die Berechtigung, das hier zu tun. „Gib mir doch wenigstens eine Chance."

„Welchen Teil von Nein kapierst du denn nicht, Mann?" Meine Stimme bebte, obwohl ich mir alle Mühe gab, es zu verbergen. Auf keinen Fall sollte er wissen, dass ich mich gerade vor ihm fürchtete. „Ist dir bewusst, dass du dich gerade strafbar machst?"

„Strafbar?" Laut lachte er auf. „Bei allem Respekt, Niall, aber du bist der letzte, der mich über Strafbarkeit belehren kann."

Ich wand mich in seinem Griff, in der Hoffnung, auf diese Art mein Shirt an seinen ursprünglichen Platz zurückzubringen. Die Stelle, an der Marvins Hand mit meiner Haut in Berührung kam, brannte förmlich, und ich wollte einfach nur, dass es aufhörte. Ich sollte nach ihm treten und laufen. Sofern ich das hinbekam. Warum hatte ich blöder Trottel nur so viel trinken müssen?

„Marvin." Ich holte tief Luft, startete einen letzten Versuch, die Situation mit Vernunft und unmissverständlich klaren Worten zu lösen, die keinerlei Spielraum für Interpretationen ließen. „Ich möchte das hier nicht. Also lass mich bitte los."

Marvin blinzelte. „Was ist denn nur los mit dir? Du bist doch sonst nicht so zimperlich, mit Leuten in die Kiste zu hüpfen. Bei Malik warst du bestimmt auch nicht so verklemmt, oder?"

Alles in mir erstarrte. „Wie bitte?"

„Tu doch nicht so." Eine Ader an seiner Schläfe pulsierte. „Ich weiß genau, dass du dich von ihm vögeln lässt. Warum eigentlich? Hoffst du, dass er dir eine bessere Note gibt? Oder stehst du einfach auf Typen, die Macht haben?"

Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Noch schwerer als zuvor, falls das überhaupt möglich war.

Marvin wusste von Zayn und mir.

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Part 2 ist auch schon da :)

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