9-4 Draken fliegen nachts
In manchen Fantasy-Storys kommt etwas zum Tragen, was mich ziemlich stört. Meist ist das der Fall, wenn der Mensch aus unserer Welt überwechselt und dann mit den dort lebenden Wesen eine "Gemeinschaft" bildet. Oftmals ist diese dann nämlich von der Überlegenheit des Menschen geprägt. Schließlich stammen die anderen Wesen aus einer Welt, die weniger entwickelt ist und auch wenn die Geschöpfe dort Magie beherrschen, so sind sie doch weniger intelligent als ein Mensch. Und nicht im deduktiven Denken oder Logik ausgebildet. Eben darum braucht man ja den Menschen, um die Probleme dieser Phantasie-Welt zu lösen.
Ich mag das nicht. Zum einen ist der Begriff "unterentwickelt" eh falsch am Platz. Man kann so unterschiedliche Welten nicht nach ihrem Entwicklungsstandard beurteilen. Ebenso wenig kann man einem Elfen oder Werwolf nicht mangelnde Intelligenz vorwerfen, weil dieser kein Latein beherrscht oder noch nie etwas von einem Differentialgetriebe gehört hat (wobei die wenigsten Menschen wohl dieses Wort erklären können ;) ).
Zum anderen ist das nichts anderes als Rassismus. Und bis heute ist mir völlig unklar, woher die (hellhäutigen) Menschen ihre feste Überzeugung nehmen, besser, klüger und wichtiger zu sein als alle anderen Rassen.
Doch der Kitsune hatte ebenso wie der Mensch Emms Charakterfestigkeit unterschätzt. „Die Eßgewohnheiten einer Rasse haben doch nichts mit der Intelligenz zu tun", wehrte sie Ziegers Argumente ab.
„Bist du sicher? Nur Tiere fressen ihre Nahrung so, wie sie sie vorfinden. Wir Menschen bereiten sie ordentlich zu. Oder hast du schon einmal Insekten aufgehoben und so gegessen?"
„Nein", Emm schluckte.
„Und es stört dich, dass dein Fuchsfreund sowas macht, stimmts?" Zieger hatte Emms Schaudern bemerkt, als sie sich daran erinnert hatte.
„So könnten wir Menschen uns auch ernähren und haben das früher auch getan. Wenn mich das stört, ist das eigentlich mein Fehler. Außerdem habe ich mich jetzt daran gewöhnt!", verteidigte sich Emm, bevor ihr klar wurde, dass sie Zieger überhaupt keine Antwort schuldig war. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter ihr einmal erklärt hatte, wer Fragen stellt, behält die Oberhand im Gespräch und die wollte sie dem Mann eigentlich nicht lassen.
„Was meinten Sie eigentlich damit, dass Sie ein Psi sind?" erkundigte sie sich deshalb.
„Na, ein medial veranlagter Mensch mit PSI-Kräften. In den USA nennen sie das ESP, du hast das sicher schon mal gehört. Der Mensch entwickelt sich immer weiter, auch jetzt noch und nun geht die Entwicklung in Richtung dieser übersinnlichen Fähigkeiten. Der Mensch der Zukunft wird Telekinese und Telepathie so selbstverständlich nutzen wie du heute dein Smartphone. Und diejenigen ohne Kräfte wird man als behindert empfinden und ihnen keine Fortpflanzung erlauben."
„Sie spinnen ja!" entfuhr es Emm. „Sie halten sich echt für was Besseres, nur weil Sie Telekinese können!"
„Das kann er gar nicht", warf Feno ein. „Er ist ein Poltergeist, mit ungewöhnlich großer Kraft zwar, aber trotzdem nur ein Poltergeist."
„Geist?" Lothar Zieger zog die Brauen hoch. „Ich bin überaus lebendig und mehr als wirklich - alles andere als ein Geist!"
„Wieso Geist? Ich sagte Poltergeist", entgegnete der Kitsune verwirrt. „Ich kann jetzt spüren, von welcher Art deine Macht ist."
Emm dachte rasend schnell nach. Während Zieger sich noch mit dem Kitsunen stritt, was man unter einem Geist zu verstehen hatte, analysierte sie Fenos Worte. Offenbar lag hier etwas Ähnliches vor wie bei den Heinzelmännchen; was die Menschen als Poltergeist bezeichneten, hatte in Fenos Sprache nichts mit Geistern zu tun. Emm hatte sich eine Zeitlang für das Poltergeist-Phänomen interessiert und zählte sich in Gedanken jetzt die verschiedenen Erklärungsversuche auf. Ihre Blicke wanderten derweil über die Lichtung und nahmen verschiedene Eindrücke auf.
Zwei davon blieben länger haften. Die Kupferarmbänder des Mannes ... sie waren außerordentlich dick, etwa vier Zentimeter breit und außen gewellt. Jetzt ging Emm auf, woran sie die Form erinnerte: an Batteriegehäuse.
Und auf dem Boden vor der über den Stamm geworfenen Jacke waren zwei braune Herrenschuhe ordentlich nebeneinander gestellt worden, im rechten stak ein Paar grauer Socken. Warum hatte Lothar Zieger die Schuhe ausgezogen? Dass er sich der Jacke entledigt hatte, um sich besser bewegen zu können, war verständlich, aber inwiefern störten ihn die Schuhe?
Die Fakten rückten sich in Emms Kopf zurecht und dann verstand sie. Und damit wußte sie auch, wie dem Mann beizukommen war.
„Vondrau, nimm!" Sie schubste den Knüttel in die Richtung des Werwolfs. „Zerschlag seine Armbänder!"
„Wehe!" rief Zieger und hob erneut die Pfeife an die Lippen. Doch diesmal geschah nichts. Verwirrt sah der Mann auf die Pfeife, dann auf Feno, der ihn angrinste. „Pech gehabt!"
„Aber – wie?"
Zieger war so abgelenkt, dass er weder bemerkte, wie sich Vondrau ihm näherte, noch dass Arniri nach einem Messer gegriffen hatte. Momentelang schien die Szene für Emm wie erstarrt, dann geschah alles sehr rasch.
Arniris Messer, kraftvoll und präzise geworfen, traf die Pfeife in der Hand des Mannes, der sie mit einem Schmerzensschrei fallen ließ. Aus dem Schrei wurde ein Heulen, als Vondrau den Knüttel mit voller Kraft auf das rechte und gleich danach auf das linke Handgelenk sausen ließ. Beide Bänder brachen auseinander und es regnete Mignonzellen.
Trotz der Schmerzen hob Zieger die Hände, doch Emm schrie: „Feno, heb ihn hoch!" Der Kitsune verstand sofort.
Diesmal war es Lothar Zieger, der in die Luft gehoben wurde. Sein Flug war allerdings wesentlich kontrollierter; er schwebte einige Meter in die Höhe, dann drückte ihm etwas die Arme an die Seiten. Emm vermutete richtig, dass Feno die Luft um den Menschen röhrenförmig hatte erstarren lassen und ihn so in unsichtbaren Fesseln hielt.
Arniri kletterte geschickt vom Baum herunter. „Habt ihr ihn jetzt sicher?"
Lothar Zieger wand sich in seinen luftigen Fesseln und aktivierte ganz offensichtlich erneut seine Kräfte. Ein lauter Knall ertönte, der alle zusammenzucken ließ, doch sonst geschah nichts.
Vondrau lachte leise. „Typisch Poltergeist. Mehr Schein als Sein."
„Lass ihn nicht auf die Erde zurück", warnte Emm und Feno nickte. „Bestimmt nicht. Ich habe es auch gespürt. Er zog Kraft aus der Verwerfung."
„Hatte er darum die Schuhe ausgezogen?" erkundigte sich Arniri. Emm hob die Schuhe auf und lachte. „Allerdings. Sie haben Gummisohlen, das isoliert. Wahrscheinlich waren ihm Schuhe mit Ledersohlen zu teuer."
„Gummi?" fragte Arniri verdutzt und Emm überlegte: „Kautschuk? Baumblut? Pflanzensaft?"
„Ach, jetzt verstehe ich!"
Emm erkundigte sich nicht, welchen ihrer Begriffe die Freundin verstanden hatte, sondern bückte sich nach dem Fürdraken, den Zieger vorhin so unsanft weggestoßen hatte. Das Tierchen schrak sichtlich zusammen, beruhigte sich in ihrem Arm aber schnell. Arniri nahm einen weiteren Draken auf. „Wie bekommen wir die wieder in den Vulkan?"
Vondrau lächelte. „Schau, seit sie nicht mehr unter Ziegers Einfluß stehen, fliegen sie von selbst zurück. Nur um die Geblendeten müssen wir uns kümmern."
Feno sah zum Himmel. „Wir haben noch einige Stunden Zeit. Bringen wir erst Zieger in Gewahrsam."
Auf dem Weg zurück betrachtete Emm den kleinen Draken in ihren Armen genauer. Das Geschöpfchen kuschelte sich vertraulich an sie und hielt die geblendeten Augen fest geschlossen. Und Emm erkannte, dass es wohl ein Drake war, der Lis zu dem Ausruf „ein Hund!" veranlaßt hatte.
Der Fürdrak hatte etwa die Größe von Rudi, also ca. 35 cm Schulterhöhe. Und auf dem ersten Blick schien er auch ein Fell zu haben. Tatsächlich handelte es sich aber um schwarze, unglaublich feine Federn, die den ganzen Körper überzogen, auch die an den Schultern angesetzten Flügel. Der Drak besaß jedoch keine Schwungfedern wie ein Vogel, stattdessen waren die Hautlappen, die wie bei Fledermäusen durch verlängerte Finger gespannt wurden, lediglich mit dem feinen Federgespinst überzogen. Emm hatte so etwas noch bei keinem Tier gesehen und verstand nun, warum die Menschen die Fürdraken als Dämonen angesehen hatten.
Der Schwanz war ebenfalls auf diese Art befedert, hier allerdings waren die Federn gelb und leuchteten schwach orange. Der Schwanz war fast so lang wie der Drak selbst und endete in einer Raute, die fast die Hälfte des Schweifs einnahm. Der Kopf erinnerte mit den riesigen, gerillten Ohren, den kleinen Augen und der vorgeschobenen Schnauze an eine Fledermaus.
Arniri grinste Emm an. „Sie sind richtig süß, wenn man sie näher betrachtet, oder?" Auch die Elbin kuschelte ihren Draken eng an die Brust.
„Kommt bloß nicht auf die Idee, sie als Haustiere halten zu wollen", riet Vondrau den Mädchen. „Wenn sie sehen können, sind sie nicht mehr so zutraulich. Vor allem die Männchen nicht, Emm."
„Hab ich ein Männchen?" fragte das Mädchen und der Werwolf nickte. „Sein Schweif leuchtet orange. Arniri hat ein Weibchen, das sieht man an dem hellgelben Schwanz."
„Mich wundert, dass sie offenbar keine Angst vor uns haben", meinte die Elbin und Feno lächelte. „Fürdraken zählen zwar nach unserer Klassifikation eher zu den Tieren, sind aber dafür sehr intelligent. Sie spüren, dass ihr ihnen nur helfen wollt. Trotzdem, könnten sie sehen, würden sie sich aus euren Armen freikämpfen. Sie mögen keinerlei Zwang."
„Aber – dann war das, was Herr Zieger mit ihnen gemacht hat, ja doppelt schlimm!" rief Emm entsetzt.
„Allerdings!" sagte Feno finster.
Auf der Terrasse erwartete sie nicht nur Tendris mit einer schlafenden Katra auf dem Schoß, sondern auch Inari, Sito und zwei Emm unbekannte Kitsunefrauen. Die eine war fast so groß wie Tenyve und trug zu ihrem blauen Kasack schwarze Wildlederhosen und Ledersandalen, die bis zum Knie geschnürt waren. Vier braune Zöpfe fielen ihr lang über den Rücken und sie lächelte Emm und Arniri freundlich an.
Die andere war fast so zierlich wie Inari, ihre drei rostroten Zöpfe reichten knapp über die Schultern und sie musterte die Mädchen aus verkniffenen, gelbbraunen Augen. Ihren grünen Kimono hatte sie eng um sich gezogen, als fröre sie.
„Vondrau!" Tendris sprang entsetzt auf, als sie die Verbrennungen ihres Mannes bemerkte und drückte ihre Tochter der nächsten Kitsune in die Arme. „Was ist geschehen, bist du schlimm verletzt? Laß sehen!" Sie zog ihn zum Tisch und nötigte ihn auf eine Bank.
„Das ist nicht schlimm", wehrte ihr Mann ab und nahm wieder volle menschliche Gestalt an. „Alles nur oberflächlich, das heilt schnell."
Davon war Emm nicht so überzeugt. Zuvor war ihr nur das versengte Fell aufgefallen, jetzt sah sie, dass Vondraus linke Stirnseite bis zur Braue mit Blasen übersät war, ein Teil der Braue war weggebrannt und über die Brust des Werwolfs zogen sich mehrere blaßrote, nässende Striemen.
Inari schien derselben Meinung zu sein wie Emm. „Du gehst nachher zu den Heilern", bestimmte sie und Vondrau wiedersprach nicht.
Die kleine Kitsune trat jetzt auf Emm zu. „Würdest du mir mal erzählen, was du mit dem Draken vorhast?" fuhr sie das erschrockene Mädchen an. „Das ist ein Tier, kein Spielzeug für dumme Menschen!"
„Ich – er ist blind", stammelte Emm.
Die große Kitsune gab Tendris die Tochter zurück und trat zwischen die beiden „Yandrell, vielleicht fragst du erstmal nach, was geschehen ist, bevor du hier Schuldzuweisungen triffst. Ich nehme an, dass dieser Mensch, den Fenyro da in der Luft balanciert, auch was damit zu tun hat."
„Den wird die Menschin hergebracht haben!" schnappte Yandrell. „Erst deine Baku, Marisondee, jetzt meine Fürdraken! Es war eine dämliche Idee, einem Kind einen Portalspiegel anzuvertrauen und eine noch schlechtere, Fenny die Verantwortung für dieses Kind zu geben. Wir sollten ihren Spiegel in Sicherheit bringen, bevor noch mehr passiert!"
„Ich würde ehrlich gesagt lieber erstmal diesen Menschen in Gewahrsam bringen", mischte sich Feno ein. „Wenn es dich nicht stört, Inari, sperre ich ihn in das tiefstgelegene Doyo. In die höheren Kerker sollte er nicht gelangen, er ist ein Poltergeist."
„Das übernehme ich", Fenravi schwebte zu ihnen herab. „Dann könnt ihr in Ruhe klären, was passiert ist. Und Fennyli dürfte ohnehin nicht mehr lange durchhalten", sie musterte Fenos schweißfeuchte Stirn. „Lass ihn los, ich nehme ihn dann."
Einen Moment sah es aus, als würde Lothar Zieger fallen. Dann hatte sich seine Lage wieder stabilisiert und Fenravi stieg zusammen mit dem Menschen auf.
Yandrell wandte sich nun Emm zu. „Jetzt erklär mir mal, warum du ihn hergebracht hast", forderte sie das Mädchen auf.
„Das habe ich doch überhaupt nicht", Emm war empört über diese grundlose Unterstellung. Yandrell wies jedoch nur auf die Plastikboxen, die Vondrau mitgebracht und auf der Terrasse abgestellt hatte. „Ach ja? Es seid doch ihr Menschen, die so erpicht auf Edelsteine sind. Diese Kisten beweisen, dass die Fürdraken manipuliert wurden, um die Schätze aus dem Vulkan zu holen. Aber ein einzelner Poltergeist hat gar nicht eine solche Macht. Du magst vielleicht eine Wächterin sein, aber das heißt nicht, dass du keine andere Macht besitzt. Ganz offensichtlich hast du dir diesen Menschen zu Hilfe geholt."
„Was für ein Unsinn", sagte Vondrau ärgerlich. „Die Fürdraken flogen schon einige Tage aus, obwohl es nicht ihre Zeit war. Emm war aber die letzten Tage gar nicht hier und seit sie heute nachmittag kam, war sie ständig in Gesellschaft von uns allen", seine Armbewegung schloß ihn selbst, seine Frau, Feno und Arniri ein.
„Das heißt, du weißt nicht, wo Emm die letzten Tage war", schnappte Yandrell sofort.
„Das reicht jetzt", unterbrach Inari. „Ich möchte erstmal wissen, was geschehen ist. Was dahintersteckt, können wir viel besser ermitteln, wenn wir alle Informationen haben."
Vondrau übernahm es, seine Schwiegereltern von allen Geschehnissen in Kenntnis zu setzen. Emm stellte bewundernd fest, dass der Werwolf die Tatsachen klar und deutlich schilderte und nichts ausließ. Inaris Blick wanderte während der Erzählung zwischen den Gefährten hin und her; Emm konnte aber nicht ausmachen, ob sie deren Reaktion auf Vondraus Schilderung prüfte oder sich nur die Kräfte der Freunde vergegenwärtigte, um sich das Ganze besser vorstellen zu können.
„Zeig mir mal deinen Allwiß", sagte sie dann zu Vondrau und der holte den Spiegel hervor, sprach kurz hinein und gab ihn der Kitsune. Sie betrachtete ihn eine Weile, wischte ein paarmal zu Emms Überraschung über die glatte Fläche, nicht anders, als ob sie auf einem Smartphone blättern würde und reichte dann den Spiegel zurück.
„Dieser Mensch wird schon eine Weile gesucht und zwar länger, als Emm ihren Spiegel besitzt", sagte sie dann. „In keiner Dimension konnte geklärt werden, wie er die Dimensionen wechseln konnte, aber durch Emms Portal ist er nicht gegangen."
„Das ist ein ganz schön cooles Gerät!" platzte Emm heraus und Vondrau lächelte ihr zu. „Finde ich auch, aber in den meisten Dimensionen lehnt man sie ab."
„Das hat auch leider seine Gründe", bemerkte Sito dazu. „Gut, ich habe Vondraus Schilderung gehört, aber nicht alles verstanden. Wie kamst du darauf, dass er ein Poltergeist ist, Fenyro? Und Emm, wieso konntest du wissen, wie man ihn besiegt? Nein, Yandrell", unterbrach er die kleine Kitsune, die bereits den Mund öffnete. „Von dir will ich erstmal nichts weiter hören, deine Ansicht kenne ich."
„Aber .."
„Ja, du wolltest sagen, dass Emm und Feno den Menschen ja hergeholt haben und daher auch alles über ihn wissen, stimmts? Unbewiesene Behauptungen in die Luft stellen konntest du immer schon gut, aber auch durch die Wiederholung werden sie nicht wahrer. Feno, bitte!"
Der Junge hatte sich den Poncho wieder übergestreift und trank erstmal einige Schlucke, bevor er erklärte: „Seine Kraft war für mich fühlbar, mußte also in irgendeiner Art verwandt mit meiner sein. Die anderen konnten nichts ausmachen, also hat er weder Hexenkräfte noch Geistesmagie. Als er Vondrau und Arniri herumschleuderte, wirkte das auch eher unkontrolliert. Dann sprach Emm von Telekinese und in dem Moment wurde mir bewußt, dass seine Art, uns abzuwehren, eher einem Poltergeist entsprach."
„Was ja auch eine typisch menschliche Kraft ist", nickte Sito. „Aber die Menschen wissen eigentlich sehr wenig darüber. Also, Emm?"
„Naja, es beschäftigen sich bei uns ja schon einige Wissenschaftler mit Geisterphänomenen und mich hat das mal interessiert", erklärte das Mädchen. „Und Poltergeister zählen bei uns zu diesen Erscheinungen. Unser Wort dafür bedeutet ein Geist, der Lärm macht. Als Herr Zieger meinte, er sei kein Geist und Feno erklärte, er habe nichts von Geistern gesagt, dachte ich, das ist wie mit den Heinzelmännchen – wir haben ein Wort für das gleiche Ding, das sich aber anders herleitet.
Bei den Poltergeistern vermuten einige Experten schon lange, dass die Erscheinungen nicht von toten Seelen, sondern von lebenden Menschen hervorgerufen werden. Zumal in den meisten Fällen bestimmte Personen attacktiert wurden oder die Erscheinungen nur auftraten, wenn diese Personen in Raum waren.
Andere Experten glauben aber, dass es sich um Naturphänomene handelt, die dort auftreten, wo der Erdmagnetismus am stärksten ist. Oder elektrische Felder sind. Weil eben viele der Sachen, die da passieren, mit Elektrizität oder Magnetismus zu tun haben – wißt ihr überhaupt, wovon ich rede?"
Sito nickte. „Das sind Kräfte der Natur, die in der Nähe von Vulkanen besonders stark sind."
„Das habe ich auch gelesen", stimmte Emm zu. „Und einige Kräfte von Poltergeistern haben ja auch damit zu tun. Lichter, die an und ausgehen zum Beispiel. Und dass Gegenstände in der Luft herumfliegen, soll auch daran liegen, obwohl ich nicht verstehe, wie das gehen soll. Als Feno Herrn Zieger einen Poltergeist nannte, dachte ich daran, dass manche Experten vermuten, dass diese Kräfte von Jugendlichen in der Pubertät ausgehen. Herr Zieger konnte jemand sein, der diese Kraft bewahrt und weiterentwickelt hatte. Als er Feno angriff, muss er Elektrizität durch Fenos Gehirn geleitet haben, so dass es sofort aussetzte. Und Vondrau hat er ebenfalls elektrisch verbrannt. Aber die Funken, mit denen er Vondrau verletzte, waren von seinen Armbändern ausgegangen. Und die hatten lauter Wölbungen, so wie das Batteriegehäuse von Lis' Sprechpuppe. In einer Batterie können wir Energie speichern."
„Verstehe", sagte Vondrau ruhig. Er legte einige Mignonzellen auf den Tisch, die mit Kupferdraht umwickelt waren. „Das hier hatte der Mensch in den Armbändern."
Sito griff danach. „Ja, ich spüre elektrische, aber auch magnetische Kraft. Latent, aber nutzbar."
Ermutigt fuhr Emm fort: „Damit muß er seine Kraft verstärkt haben. Ihr habt ja gesagt, eigentlich ist ein Poltergeist nicht so stark. Mir fiel auch auf, dass er barfuß war. Vondrau hatte von einer Verwerfung gesprochen, an der wir uns befanden und ich habe mal gelesen, dass sowas in der Nähe von Vulkanen vorkommen kann. In so einem Fall ist dann Lava hochgestiegen und erkaltet, bevor sie an die Oberfläche kam. Und erkaltete Lava soll besonders magnetisch sein."
„Ja, beim Abkühlen magnetisiert sie", stimmte Feno zu. „Darum wollte ich Zieger auch in ein tiefes Doyo sperren, in der Nähe von heißer Lava. Hitze neutralisiert Magneten."
„Du gingst dann also davon aus, dass Zieger Kraft aus der kalten Lavablase unter seinen Füßen zog", stellte Inari fest.
Marisondee zog die Brauen kraus. „Das erklärt es. Das Mädchen ließ Vondrau die Armbänder zerstören und Feno den Kontakt des Poltergeistes mit der Erde unterbrechen. Nun verstehe ich sowohl die ungewöhnliche Stärke des Menschen als auch die Methode, mit der ihr ihn bezwungen habt." Sie lächelte die erstaunte Emm an. „Meine Baku hatten recht, du bist sehr intelligent."
Emm wurde rot. „Ich bin eigentlich nur an vielen Sachen interessiert. Meine Eltern haben mir auf Fragen immer geantwortet. Wenn sie es selbst nicht wußten, haben sie in Lexika nachgesehen und wenn mich ein Thema sehr beschäftigt hat, haben sie mir Bücher dazu gekauft. Vor drei Jahren hat mir mein Vater dann seinen alten Firmen-PC aufbereitet und geschenkt, damit ich selber im Internet nachsehen kann, wenn ich was wissen will."
„Und das macht sie auch", bestätigte Feno lachend. „Sobald ich ein Wort erwähne, das sie nicht kennt, sitzt sie am Schreibtisch und fragt den Computer - ihren Allwiß."
„Und sie ist offenbar bemerkenswert vorurteilsfrei", stellte Marisondee fest. „Dieser Mensch hat ihr zu erklären versucht, dass wir alle nur Tiere sind, die man ungestraft quälen und manipulieren darf, hast du gesagt?" Sie wandte sich an Vondrau.
„Ja, und einen Moment glaubte ich schon, sie würde sich von ihm beeinflussen lassen. Ihr wißt alle, wie Menschen unsere Rassen früher verfolgt haben. Das Gefühl, mehr wert zu sein als alle anderen Geschöpfe, bekommt man nicht so leicht aus ihren Köpfen."
„Leider", gab Emm zu. „Aber zum Glück bin ich anders erzogen worden. Ich habe Menschen schon immer danach beurteilt, ob sie nett sind und nicht, wie dunkel ihre Haut ist. Dass Fenos und Arniris Haut dunkler ist als meine, ist mir zum Beispiel erst aufgegangen, als mich Lara gefragt hat, ob ihr nicht ganz weiß wärt. Und Tiere schlecht behandeln ist bei mir ein absolutes No-Go. Selbst wenn ich euch als „bloße Tiere" ansehen wollte, wäre das nie ein Grund, euch als minderwertig zu verachten."
Yandrell schluckte. „Ich glaube, ich sollte mich bei dir entschuldigen. Ich habe dich mir ganz anders vorgestellt – eben so wie die Menschen, mit denen ich bisher zu tun hatte."
Sito lächelte grimmig. „Wer sagt denn, dass nur Menschen Vorurteile haben. Ich glaube, du hast da auch noch einiges aufzuarbeiten, Yandrell. Hoffentlich glaubst du das nächste mal auch, wenn dir jemand sagt, dass etwas nicht stimmt – selbst wenn es ein Mann ist."
Die kleine Kitsune nickte betreten. Zu mehr konnte sie sich im Moment nicht aufraffen, aber es war ihr deutlich anzusehen, dass sie sich für ihr Verhalten schämte.
„Und damit wollte er euch quälen?" Inari griff nun nach der Pfeife, die Vondrau auf den Tisch gelegt hatte.
„Das ist eine Hundepfeife, die Töne sind im Ultraschallbereich", erklärte Emm. „Wir Menschen können sie nicht hören, Hunde schon. Und Elben offenbar auch. Aber Feno hat sie irgendwie unwirksam gemacht."
Der Junge zuckte die Schultern. „Als mir klar wurde, dass er hineinblasen muss, um den Ton zu erzeugen, habe ich einen Luftpfropf erzeugt."
Inari hob die Pfeife probeweise an den Mund und blies vorsichtig. Alle außer Emm zuckten schmerzlich zusammen und Kattra wachte auf und begann zu weinen.
„Ach, Mama, mußte das sein?" rief Tendris genervt. „Ich war so froh, dass sie endlich schläft!"
Sito nahm seiner Frau grinsend die Pfeife aus derHand. „Komm, du Spielkalb, das kannst du morgen auch noch ausprobieren. Jetzt lassen wir die Kinder erstmal schlafen, sie habens dringend nötig."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top