8-2 Verschlossen und verriegelt
Vor Jahren schrieb ich ein Story-Fragment, in dem eine Schicksalsweberin sich über die störrischen Werwölfe beklagt, denn diese fügen sich in kein Muster ein und machen, was sie wollen. Wie recht sie damit hatte, sieht man hier. Vondrau war eigentlich nur der Name eines Kitsunen-Technikers, der gar nicht leibhaftig in Erscheinung treten sollte. Als Tendris in Kapitel 6 ihre Tochter erwähnte, trat er jedoch dazwischen und stellte erst mal klar, wer deren Vater ist. In Kapitel 7 tauchte er im Torraum auf und überraschte nicht nur Emm, sondern auch mich damit, dass er gar kein Kitsune ist und auch aus einer anderen Dimension stammt. Zudem führte er auch gleich vor, dass er trotz seiner fröhlichen, optimistischen Art doch recht renitent und eigenwillig sein kann. Das zeigt sich hier in Kapitel 8 erst recht, denn nun hat er sich einfach eine Hauptrolle ergattert - mit der Zusicherung, auch in weiteren Kapiteln mitzuspielen, ob ich will oder nicht.
Ich hatte schon recht damals - Werwölfe bekommt man einfach nicht ins Webmuster eingefügt, sie suchen sich ihren eigenen Weg. Selbst dann, wenn sie gar nicht als Werwolf geplant waren.
"Wo sind wir jetzt?" fragt Hanuie verwirrt. Vondrau lächelte. „Im Tunnelsystem. Ich springe lieber nicht direkt zu Emm, falls sie nicht alleine ist. Außerdem ist es unhöflich." Er musterte den jungen Elben. „Ihr habt mich falsch verstanden. Ich wollte nicht dich mitnehmen, sondern Cluyranda. Dir würde dein Vater wohl nichts tun."
„Oh, Großmutter wird er auch nichts tun", versicherte Arniri. „Es halten immer noch zuviele unseres Volkes zu ihr, als dass er es wagen könnte, sie offen anzugreifen."
„Ich hoffe, du hast recht. Es wird massive Probleme geben, wenn Cluyranda etwas geschieht. Bei allen anderen Völkern außer ihrem eigenen ist sie nämlich sehr angesehen." Vondrau wandte sich einem der Tunnel zu. „Laß uns gehen."
Schon nach wenigen Kreuzungen erreichten sie das richtige Portal. Arniri spähte hindurch. „Emm ist da und alleine! Tirili, Emm, läßt du uns rein?"
Die Freundin sprang vom Schreibtisch auf, kam zum Spiegel und öffnete ihn – schon ziemlich routiniert, wie Vondrau amüsiert bemerkte. „Hi, Arniri – nanu? Was machen die beiden denn hier? Und warum so früh? Ihr habt Glück, dass Samstag ist."
„Das was ist?" fragte Hanuie verwirrt und Emm lachte. „Wir geben den Tagen Namen und fassen sie zu siebt zu einer Woche zusammen. An zwei Tagen in dieser Woche ist keine Schule und Samstag ist einer davon. An anderen Tagen hättet ihr mich so früh nicht angetroffen." Sie musterte den Elben. „Hanuie, richtig?"
„Ja."
„Emm, wir haben Probleme", sagte Arniri nun. „Großmutter sagt, uns fehlt Salz, Zink und Eisen und ich glaube, du kannst uns das beschaffen. Und Bres Jukran erlaubt keine Dimensionsreisen mehr."
„Wie bist du dann hierhergekommen?"
Arniri wies auf Vondrau. „Er kann doch springen."
„Stimmt, ihr habt sowas gesagt", erinnerte sich Emm. „Kann ich dann mal die Geschichte in Langform haben? Telegrammstil verstehe ich nicht so unbedingt."
„Telewas?" Aber Arniri erzählte Emm erstmal ausführlich, was geschehen war.
„Hmm", Emm tippte prompt auf ihrer Tastatur herum. „Ich halte gar nichts davon, im Netz nach Infos zu suchen, wenn man einen Arzt braucht. Nur werden wir am Samstag erstens keinen finden und zweitens wird euch keiner ohne Krankenkarte untersuchen. Ich würde ja Deik fragen, aber der fängt gerade erst an. Cluyranda ist aber sicher, dass es sich um Ernährungsmängel handelt?" Sie blickte auf den Monitor. „Zinkmangel - erhöhte Infektanfälligkeit, Wachstumsstörungen, Schwäche, dünner werdende Haare, entzündliche Hautreaktionen, verzögerte Wundheilung, verringertes Geschmacks- und Geruchsempfinden, Konzentrationsstörung, psychische Symptome wie , ..." Sie rasselte das in einem Tempo herunter, dass Arniri nicht mitkam. Hanuie jedoch nickte. „Kann ich alles bestätigen", er zeigte Emm seinen Arm und die hüpfte hoch. „Warte kurz", schon war sie weg.
Hanuie sah verblüfft auf Arniri. „Ist die immer so schnell?"
„Meistens, ja."
Vondrau grinste nur. „Ein patentes Mädchen."
„So", Emm kam zurück mit Salbentube und Verbandszeug in den Händen. „Gib mal her."
Bereitwillig ließ sich der junge Elb verarzten, äußerte aber: „Bisher hat keine Salbe geholfen."
„Das hier ist Zinksalbe. Die bekommen wir immer auf entzündete Wunden und das hilft dann auch. Davon kaufen wir euch am besten auch so einige." Sie hatte Hanuie verbunden, schnappte sich nun ihren Notizblock und schrieb einiges auf. „Damit wir nichts vergessen beim Einkaufen", erklärte sie und vertiefte sich wieder in ihre Suchergebnisse.
„Und wo kommt das...", fing Arniri an, wurde aber von Vondrau unterbrochen. „Pst, laß uns erst abwarten, was ihr Computer ausspuckt."
„Ihr was?"
„Dein ‚alleswissender Spiegel' ist ein Computer", Vondrau grinste. „In meiner Dimension nutzt man die ebenfalls. Ich habe schon länger überlegt, ob ich mir einen zulege und dann versuche, eine Verbindung über die Dimensionen hinweg zu schaffen. Aber bisher ist das Tribunal dagegen. Naja, ich habe ja noch ein paar Jahrhunderte Zeit, um die Herrschaften zu überreden."
Arniri sah den Werwolf verblüfft an. „Wie alt bist du?"
„56, warum?"
„Und da willst du noch Jahrhunderte Zeit haben?"
Gleichzeitig sagte Emm: „Du siehst wie Mitte Zwanzig aus."
„Bin ich auch – körperlich gesehen."
„Hä?" Emms Interesse war geweckt. Sie musterte den Werwolf mit schiefgelegtem Kopf. „56 Jahre gelebt, entspricht 25 Jahren eines Menschen – egal, wie ich das teile, es ergibt keinen Sinn. Es sei denn, Werwölfe hören wie die Elben ab 20 auf zu altern."
„Tun sie nicht", Vondrau grinste, Emms Rätselei machte ihm Spaß. „Aber ich gebe dir noch einen Tipp – ich war 23, als ich Tendris heiratete."
„Ist das wichtig für deine Alterskurve?"
„Ja, sehr."
Emm überlegte eine Weile, rechnete dann auf einem Blatt herum. „Du hast gelogen. Du bist körperlich nicht 25, sondern 26."
„Das stimmt. Offenbar hast du's raus."
„Ich nicht", gab Arniri zu und auch Hanuie schüttelte verwirrt den Kopf. Emm lächelte. „Wenn Vondrau 23 war, als er Tendris heiratete, dann scheinen Werwölfe so zu altern wie Menschen. Offenbar hat er aber bei der Heirat die Lebensdauer eines Kitsunen bekommen. Wenn ich von 56 die 23 Jahre abziehe, komme ich auf 33 Jahre, die Vondrau jetzt verheiratet sein muss. Diese 33 Jahre sind bei einem Kitsunen wie 3 Jahre und 23 plus 3 ist 26." Sie sah zu Vondrau auf. „Ist das immer so, wenn man Kitsunen heiratet?"
„Nein, aber Kitsunen können den Lebenszyklus anderer Wesen verlangsamen. Und das machen sie auch – sie haben nämlich etwas dagegen, fast ein ganzes Leben lang um einen kurzlebigen Freund oder Lebenspartner zu trauern oder alle Naslang einen Spiegelwächter auszutauschen."
„Oh", Emm machte große Augen. „Dann ... nee, darüber denke ich jetzt am besten noch nicht nach."
„Nein, sag uns lieber, was wir gegen unsere Mangelkrankheiten machen können", drängte Arniri.
Emm sah wieder auf den Monitor. „Bei Eisen steht hier Müdigkeit, Blässe, häufige Infekte, eingerissene Mundwinkel. Also ähnlich wie bei Zink. Interessant sind die Risikogruppen, bei beidem werden Vegetarier und Veganer aufgezählt. Eßt ihr weniger Fleisch, seit ihr in Bulben seid?"
Die Elben sahen sich an. „Weniger, ja, und anderes", sagte Hanuie dann langsam. „In Bulben gibt es nur Kaninchen und einige kleine Vogelarten zu jagen. Und natürlich Fische."
„Und an Gemüse und Getreide? Hier steht, Hülsenfrüchte enthalten viel Mineralstoffe, Hafer, Weizen und Roggen auch, vor allem als Vollkorn. Und – oh – Moment mal", Emm rief einen weiteren Link auf und studierte ihn sorgfältig. „Ich glaub, ich hab die Erklärung."
„Wir essen viel Getreide", sagte nun Arniri. „Und wir haben auch Erbsen, Bohnen und Linsen angebaut, weil wir wußten, dass wir in Bulben weniger Fleisch zur Verfügung haben. Wir wissen nicht warum, aber dieses Gemüse kann Fleisch ersetzen. Das haben wir vorher aber auch so gemacht, wir haben die Jagd immer mehr eingeschränkt, um nicht den Menschen über den Weg zu laufen."
„Ja, steht hier auch, dass es Fleisch ersetzen kann, aber nicht in jeder Hinsicht. Hülsenfrüchte haben viel Eiweiß, aber auch Phytinsäure. Und die bindet Mineralien und verhindert, dass der Körper sie aufnehmen kann. Getreide übrigens auch. Wenn ihr euch hauptsächlich davon ernährt, bekommt ihr zwar die nötige Energie, aber nicht genug Mineralien. Du hast gesagt, ihr eßt Fisch, habt ihr auch Meeresfrüchte?"
„Nein, in Bulben scheint es nur Süßwasser zu geben."
Emm klatschte sich auf den Schenkel. „Und genau das ist das Problem. Es paßt alles zusammen! Ihr stammt aus Irland und der Ben Bulben liegt am Meer – ihr habt euren Mineralienmangel mit Austern und Muscheln ausgeglichen! Nach der Tabelle hier haben vor allen Austern einen sehr hohen Zinkgehalt!"
Hanuie schluckte. „Das ist richtig! Wir haben sehr viel Austern gefangen damals und ich vermisse den Geschmack heute noch."
Emm las weiter in der Nährwerttabelle nach. „Kann ich euch Austernfischer zu Tierhaltern und Bauern machen?"
„Es wäre nicht das erstemal, dass die Gentry Feldfrüchte anbauen und Tiere züchten", meinte Hanuie. „Es gibt zwar so etliche unter uns, die am liebsten zur reinen Jagd- und Sammel-gesellschaft zurückkehren würden, aber die meisten sehen ein, dass das auf Dauer nicht ausreichen wird. Welche Tiere empfiehlst du uns?"
„Vor allem Hühner, Schafe und Rinder. Mit Milch und Eiern könnt ihr nämlich schon sehr viel bewirken."
„Kein Problem, Hühner und Schafe hatten wir früher schon. Und meine älteste Schwester kann wunderbaren Käse machen."
„Das ist auch zu empfehlen, denn Käse liefert eine Menge Mineralien. Und Schafsmilch ist sogar besser als Kuhmilch, lese ich grad." Emm kritzelte auf ihrem Block herum. „Ihr baut in Zukunft gefälligst Paprika, Tomaten und Kartoffeln an, die Vitamine dadrin helfen euch, Eisen besser aufzunehmen." Sie sprang auf. „Okay, laßt uns gehen!"
„So", fragte Arniri verdutzt und Emm stutzte. „Oh ja. Du bist okay so, aber die Jungs können wir so nicht rauslassen." Sie betrachtete die drei. Arniri trug graue Jeans, ein grünes Shirt und halbhohe Lederstiefel, ein grünes Tuch um den Hals und ein silbernes um den Kopf. Hanuies kurze Stiefel würden nicht allzusehr auffallen, die helle Lederhose könnte vielleicht auch akzeptiert werden, allerdings nicht in Verbindung mit der wollenen, knielangen Tunika. „Die mußt du ausziehen", Emm wies auf das beanstandete Kleidungsstück und öffnete ihren Schrank. „Hier", Sie warf dem Elben ein schwarzes T-Shirt und eine graue Sweatjacke zu. Dann sah sie Vondrau an. Der grinste nur. „Ich glaube, in deine Hemden passe ich nicht rein."
„Nee, mußt du aber auch nicht", Emm verließ den Raum, war aber schon zurück, bevor Hanuie fertig war. „Runter mit dem Poncho", kommandierte sie und überreichte dem Werwolf ein blaues Shirt und eine Glattlederjacke aus Deiks Beständen.
Arniri nahm ihr Halstuch ab. „Einer von euch kann es um den Kopf binden. Das andere brauche ich selbst, aber Emm hat sicher auch Tücher."
Beide starrten die Elbin entgeistert an. „Gibt's noch andere Möglichkeiten als ein Frauen-kopftuch?" fragte Vondrau kläglich und Emm lachte. „Klar!" Sie fischte zwei Baseballkappen aus einer Schublade. „Steckt da eure Ohren drunter. Sowas wird hier vor allem von Männern getragen."
Arniri kramte indessen in ihrem Beutel. „Hier, ich habe Geld", sagte sie stolz. „Der Agent Patrick hat mir die Felle abgekauft."
Emm sah hin. „Für Pfund bekommst du hier aber nichts."
„Oh, dann muss ich die hier nehmen?"
„Die Euros? Ja, das ist hier besser. Also kommt jetzt!"
Eine Stunde später waren sie wieder zurück. Zwischen ihnen standen zwei IKEA-Taschen voller Salz, Mineral- und Vitamintabletten, Saatentütchen, Zinksalben, Nivea-Creme und einem großen Sack Kartoffeln.
„Das wäre erstmal die Soforthilfe", meinte Vondrau.
„Und die Tiere?" fragte Emm und Arniri lächelte. „Wir werden zu Patrick gehen, er wird uns alles beschaffen können."
„Ihr braucht auch Maschendraht für die Hühner und Futter", erinnerte Emm und Vondrau lachte. „Fenyro erwähnte schon, dass du immer versuchst, an alles zu denken. Aber jetzt müssen wir noch dafür sorgen, dass in Bulben der Spiegel wieder geöffnet wird – und bleibt. Man kann doch nicht den einzigen Portalspiegel einer Dimension einfach sperren. Und ich werde ganz bestimmt nicht mit zeternden Hühnern und Schafen im Arm hin und her springen, damit alles bei euch landet."
Arniri riß plötzlich die Augen auf. „Das einzige? Da fällt mir ein - Hanuie – du hast da vorhin etwas gesagt – es gibt noch einen Spiegel in Bulben?"
Der Junge sah betreten zu Boden. „Ja, Großvater nahm seinen damals auch mit. Vater wollte aber nicht, dass er ihn nutzte. Kurz vor seinem Tod hörte Großvater einen Ruf aus diesem Spiegel und wollte öffnen, aber Vater befahl ihm, das Portal sofort zu verriegeln."
„Während jemand im Toreingang war?" Vondrau fuhr auf. „Das ist doch Wahnsinn!" Er sah zu Emm, die ratlos zuhörte. „Man kann ein Portal sperren, dann ist es wie eine Tür, die nur mit dem richtigen Schlüssel geöffnet werden kann. Wenn man aber ein Portal verriegelt, ist das als ob man die Tür mit Brettern vernagelt. Und zwar von beiden Seiten. Wer immer da zu euch wollte, er hängt noch immer drin!"
„Seit zwei Jahren?" fragte Hanuie entsetzt. „Dann ist er tot!"
Vondrau schüttelte den Kopf. „Nein, er hängt zwischen zwei Augenblicken fest. Beim Spiegeldurchgang wird die persönliche Lebenszeit angehalten, wie auch beim Springen. Wenn der Wanderer allerdings schon das Portal auf seiner Seite geöffnet hatte, wird er das Verstreichen der Zeit und was vor dem Spiegel geschieht, genau mitbekommen."
Emm schauderte. „Das wünsche ich keinem. Klingt richtig gruselig!"
„Ist es auch", bemerkte Vondrau grimmig. „Wißt ihr was, am besten geht ihr schonmal zu Patrick und verklickert ihm eure Wünsche. Wir treffen uns dann vor dem Portal der Aserets." Mit diesen Worten löste er sich in Luft auf.
„Wer ist Patrick überhaupt?" fragte Emm, als sie vor dem Portal standen.
„Ein Agent", Arniri öffnete das Portal und sah hindurch. „Er ist nicht da."
„Hat wahrscheinlich Sperrstunde, ist ja langsam Mittag", meinte Emm. „Warten wir jetzt?"
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