8-1 Verschlossen und verriegelt
Kneipen und Läden haben eine Sperrstunde, denn sie werden zu festgelegten Zeiten verschlossen. Dennoch wird die Kneipe hinter der versperrten Tür noch geputzt, der Laden wird aufgeräumt. Die Sperre bezieht sich also auf die Tür, nicht auf das, was dahinter steckt. Hinter der verriegelten Tür tut sich noch allerhand.
Auch Spiegelportale sind im Grunde Türen - Türen in eine andere Welt. Nur sollten die eigentlich keine Sperrstunde haben, denn man weiß ja nie, wann jemand kommt, der evtl Hilfe braucht. Wenn man sie trotzdem versperrt, was geschieht dann?
„Schon wieder einer?" fragte Arniri, als der alte Elb davonhumpelte. „Konntest du ihm helfen?"
Cluyranda seufzte. „Nur wenig", gab sie zu. „Sonst sage ich den Leuten immer, sie sollen mehr trinken, jetzt muss ich sagen, sie müssen weniger trinken, obwohl sie bereits dehydriert sind."
Arniri runzelte die Stirn. „Das ergibt keinen Sinn."
„Unser Blut wird immer dünner", erklärte Cluyranda. „Das ruft die Krampfanfälle hervor. Wenig zu trinken ist aber nur eine Notlösung. Es sind Mangelkrankheiten, Arniri. Diese Welt ernährt uns nicht so gut wie Okziram."
„Abr wir haben unsere Ernährung nicht wirklich umgestellt", erwiderte Arniri. „Ich könnte es ja verstehen, wenn wir jetzt andere Dinge essen würden. Aber es hat sich kaum etwas geändert."
„Nun, eines hat sich auf jeden Fall geändert. Wir haben kein Salz mehr. Und der Mangel daran ist für einen Teil der Probleme verantwortlich. Aber es fehlen noch andere Elemente, Zink und Eisen vor allem. Das kann ich feststellen, aber nicht, warum."
Arniri dachte nach. „Können wir kein Salz suchen?"
„Da wir ein Kriegervolk sind, leider nicht", schnaubte Cluyranda.
„Hä?"
„Glaubst du, es würde sich einer auf die Suche machen, solange Bres Jukran dagegen ist? Nur auf das Wort einer Frau hin?"
„Stimmt auch wieder." Arniri zog die Schultern hoch, als fröre sie. „Manee und ihre Leute suchen überall nach Hinweisen und Inari hat alle Wächter befragt. Aber Oryson, Nuada, Urtian und Bran sind unauffindbar. Als wären sie aus der Welt gefallen!"
Cluyrandas Gesicht verdunkelte sich, als sie an ihren Sohn und ihre Enkel dachte. „Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben", sagte sie entschieden. „Auch wenn ich Sitos Deutung der Runensteine anerkenne, glaube ich dennoch gespürt zu haben, dass wir sie – zumindest einen von ihnen – wiedersehen werden."
„Kannst du die Steine nicht nochmals werfen?"
„Nein, das wird nichts bringen. Sito hat recht, ich bin zu sehr selbst betroffen. Kein Seher kann sein eigenes Schicksal werfen."
„Nein, aber man kann sein Schicksal in die Hand nehmen", erklärte Arniri energisch und sprang auf. „Und das werde ich jetzt auch. Hier haben wir kein Salz und suchen wird es keiner. Aber ich kann Emm aufsuchen und dort Salz kaufen. Und Zink!"
Cluyranda lachte unfroh. „Dass du in Okziram Salz kaufen willst, ist eine sehr gute Idee. Aber Zink? Es muss in der Nahrung vorhanden sein, Kind, du kannst den Leuten nicht einfach Zink eingeben. Zudem werden auch noch andere Elemente fehlen. Ich kann es nur nicht genauer feststellen, solange die Kranken nicht zu mir kommen. Und die meisten halten sich an das Gebot der Jukrans, uns nicht mehr zu trauen."
„Ja, dass ich trotz des defekten Portals durch die Dimensionen gegangen und auch noch heil zurückgekommen bin, hat sie ganz schön aufgeregt", stimmte Arniri zu. „Aber nur dadurch haben wir jetzt eine Chance. Cucu, ich habe aufgepaßt, als Emm uns durch diese ‚Drogerie' führte. Die Menschen haben mit ihrer Tech-Nick die Elemente eingefangen und in Pillen gesperrt. Emm sagte, das ist für Leute, die mit der Nahrung nicht genug Nährstoffe bekommen oder mehr davon brauchen als normal. Und das ist bei uns ja der Fall." Sie tätschelte ihren magischen Beutel. „Ich habe viel Geld für meine Felle bekommen, ich kann mit Emm einkaufen gehen. Patrick hat mir beide Währungen gegeben, ich kann in seinem Land einkaufen und bei Emm."
„Dann mach das, Kind", Cluyranda wirkte erleichtert. „Damit könnten wir wenigstens das vordringlichste Problem lösen. Wir sind viel zu wenige und wenn uns jetzt noch die Kinder und die Alten wegsterben, haben wir noch weniger Überlebenschancen."
Arniri nickte. „Und da ist noch was – Emm hat einen magischen Spiegel, der fast alles weiß. Vielleicht kann sie rausfinden, warum uns Zink fehlt."
Die Seherin betrachtete ihre Enkelin nachdenklich. „Du hast keinerlei gesundheitliche Probleme, oder?"
„Nein – oh!" Arniri hatte verstanden, worauf Cluyranda rauswollte. „Du meinst, weil ich öfters im Fuchshügel oder bei Emm mitesse?"
Cluyranda nickte. „Geh mal die Speisepläne durch mit Emm, vielleicht bekommt ihr etwas raus."
Arniri umarmte sie. „Mach ich. Ich sehe zu, dass ich spätestens morgen wieder da bin, okay?" Sie rannte los und Cluyranda sah ihr lächelnd nach. „Irgendwann muss ich sie fragen, was dieses ‚okay' bedeutet, das sie neuerdings so oft benutzt."
„Halt!"
Verdutzt hielt Arniri inne und sah zu dem Krieger auf, der ihr den Weg versperrte. „Oh, Werren, ich bins doch bloß. Läßt du mich bitte durch, ich muss nach Okziram. Großmutter weiß jetzt, was die Krankheit verursacht und ich weiß, wo die Medizin ist."
Der hochgewachsene Elb schüttelte den Kopf. „Ich darf dich nicht mehr zum Portal lassen, Arniri. Niemand darf mehr hindurch."
„Seit wann denn das?"
„Seit heute früh", Hanuie tauchte hinter einem Baum auf. „Ich soll hier aufpassen, falls jemand von innen durchbrechen will. Aber mir reichts jetzt endgültig. Komm, wir gehen zu Cluyranda!" Er packte die verdutzte Arniri und zog sie hinter sich her zu Cluyrandas Hügel.
„Nanu, schon wieder da?" wunderte sich die Seherin.
Hanuie sprühte regelrecht vor Wut. „Sie kann nicht weg, Vater läßt den Spiegel bewachen! Als ob es nicht reichen würde, dass er den anderen sperren ließ! Cluyranda, Arniri sagte, du hast ein Mittel gegen die Krankheit? Vater behauptet, das seien Viren, die durch die Spiegel zu uns kommen und Arniri ist daran schuld!"
„Was für ein Unsinn!" rief Cluyranda aus. „Hat er nicht gemerkt, dass es uns allen schon länger schlechter geht? Ich bin mir sicher, dass er sich um Mangelerscheinungen handelt und so etwas geht schleichend über Jahre, bis man die Folgen bemerkt."
„Ihm ist erst etwas aufgefallen, seit Arniri regelmäßig durch den Spiegel geht", murrte Hanuie. „Er hat sogar angedeutet, dass Arniri etwas damit zu tun hat, weil sie nämlich gesund ist."
Cluyranda betrachtete die beiden nachdenklich. Hanuie war unnatürlich blaß und hager, das Haar war dünn und ohne Glanz, die matte Haut schuppte sich an einigen Stellen und wies Ekzeme an anderen auf, die Lippen waren spröde und eingerissen. Der kleine Schnitt am rechten Arm, den sich der Junge vor Wochen zugezogen hatte, war entzündet und heilte trotz Behandlung nicht mehr zu.
Arniri hingegen strahlte geradezu vor Gesundheit, ihre zarte Haut war leicht gebräunt, wie es bei den Gentry üblich war, die Augen waren hell und klar, das volle Haar leuchtete goldblond im Sonnenschein. Der Unterschied zwischen den beiden fiel deutlich ins Auge.
„Ich denke, es ist ihm jetzt erst aufgefallen", meinte sie. „Dadurch, dass Arniri gesund ist, sieht man mehr, wie kränklich die anderen sind."
Hanuie nickte. „Was ist das, was Arniri gesund macht? Atmen wir hier die falsche Luft, macht uns Bulben krank?"
„Nein, ich denke, es liegt an der Ernährung. Wenn Arniri die Dimensionen wechselt, ißt sie auch oft dort und bekommt dann wohl die Nährstoffe, die uns Bulben nicht bieten kann. Leider kann ich zwar feststellen, was uns fehlt, aber nicht, wie wir uns das beschaffen können."
„Deshalb werde ich Emm befragen", schloß Arniri. „Ihr magischer Kasten weiß das bestimmt." Sie kramte in ihrem Beutelchen herum.
„Aber wie willst du zu ihr hinkommen?" fragt Hanuie verzagt. „Ich werde nochmal mit Vater reden, aber ich fürchte, ich kann ihn nicht überzeugen. Dabei sieht er doch auch, wie meine kleine Schwester dahinsiecht, aber er will nichts dagegen tun!" Er ballte die Fäuste. „Ich jedenfalls will nicht, dass Dandree stirbt und wenn ich das irgendwie verhindern kann, tu ich's!"
Arniri grinste und zog einen kleinen, runden Spiegel aus dem Beutel. „Den hat mir Vondrau gegeben. Ihm ist aufgefallen, wie skeptisch dein Vater war, als er das Portal repariert hat und er meinte, ich sollte eine Möglichkeit haben, ihn jederzeit zu kontaktieren."
Sie legte den Spiegel auf den Handteller und sprach direkt hinein: „Vondrau, kannst du mir helfen?"
Als Antwort kam nur ein Laut zwischen Knurren und Schnurren zurück. „Nanu?" Arniri versuchte es nochmal: „VONDRAU!"
„He?" kam es verschlafen zurück. „Was ist los?"
„Ich bin's, Arniri. Hab ich dich geweckt?"
„Um diese Zeit? Natürlich!"
„Du bist aber auch doof, Arniri", Hanuie gluckste. „Als Vondrau unser Tor repariert hat, kam er immer erst gegen Mittag und blieb dann bis tief in die Nacht. Du hättest dir denken können, dass er jetzt noch schläft! Er ist ein Werwolf, er hat einen anderen Tagesrhythmus!"
„Gut, aber jetzt bin ich wach. Was ist los bei euch?" Vondrau konnte offenbar auch Hanuie hören.
„Mein Vater hat den Spiegel abgesperrt."
„Das kann der doch gar nicht!"
„Ich meine, er läßt ihn bewachen. Und mir hat er befohlen, den Spiegel zu verriegeln, sobald jemand durchzukommen versucht."
„Das ist das blödeste, was man tun kann!" schimpfte Vondrau. „In Ordnung, ich bin in zwei Minuten bei euch!"
„Macht das den Spiegel kaputt?" frage Hanuie erschrocken, doch Vondrau antwortete nicht mehr.
„Deck mal den Tisch", wies Cluyranda ihre Enkelin an. „Wenn du den jungen Mann geweckt hast, wird er Hunger haben."
Arniri sauste davon und als Vondrau kurz danach erschien, fand er Brot, Haferkekse, kaltes Rebhuhn und Feldsalat mit gebratener Forelle vor. Er zeigte sich davon auch sehr angetan und fiel über das Frühstück her, kaum dass er die Elben begrüßt hatte.
Arniri und Hanuie erzählten ihm abwechselnd, was geschehen war. Vondrau hörte ruhig zu und wandte sich dann an Cluyranda: „Du bist dir deiner Diagnose sicher?"
„So sicher, wie man sein kann, wenn man nicht alle Bausteine zusammen hat."
„Dann sollten wir das klären. Mit dem Salz wirst du auf jeden Fall recht haben, ich habe noch kein Lebewesen gesehen, welches ohne Salz auskam. Wohl ist zuviel von Übel, zuwenig aber auch."
„Ja und wir haben zwar welches mitgenommen, aber das ist mittlerweile verbraucht. Die Quellen hier führen keines mit sich und Salzwasser, Solequellen oder Salzstöcke haben wir in dieser Dimension noch nicht entdeckt."
„Trotzdem muss es hier welche geben, es leben ja Tiere hier. Allerdings kommen die glaub ich mit geringeren Mengen aus." Vondrau dachte nach. „Deine Idee, Emm um Hilfe zu bitten, ist auf jeden Fall gut, aber eine dauerhafte Lösung ist das nicht. Aber jetzt braucht ihr erstmal schnelle Hilfe. Am besten springe ich mit dir zu Emm und ...." Er unterbrach sich, als Schreie laut wurden. Eine Gruppe Elben lief auf Cluyrandas Hügel zu.
„Der Springer!"
„Haltet ihn fest!"
„Aber wie?"
„Wenn ihr ihn bindet, kann er nicht springen!"
„Mein Vater!" rief Hanuie.
„Festhalten!" schrie Vondrau und streckte seine Hände aus. Verblüfft griffen die Jugendlichen danach. Der Werwolf trat einen Schritt vor, es wurde dunkel und die Elben verloren jede Orientierung.
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