7-6 Gedächtnismanipulation

Nachdem Emm den irreführenden Brief und die Wechselscheibe erhielt, die sie auf die Mordsee führte, hat man im Fuchshügel natürlich nachgeforscht, aber nicht mehr herausbekommen. Weder konnte die Identität des Schreibers nachgewiesen werden noch ist inzwischen bekannt, wie die Wechselscheibe entwendet werden konnte. Auch Fenos Verdacht, es könne sich um einen unerkannten Nogitsune handeln, konnte bisher weder bestätigt noch widerlegt werden. Aber wie bei den Ermittlern unserer Polizei wird ein unklärter Fall nicht einfach ad acta gelegt. Sobald neue Informationen auftauchen, die dazu passen, wird weiter untersucht.

Dabei muss natürlich auch abgeklärt werden, ob ein Vorfall wirklich mit einem anderen zu tun hat oder ob beides unabhängig voneinander ist. Im Fuchshügel sieht es da nicht anders aus als in unserem Justizsystem - solange die Faktenlage nicht eindeutig ist, kann nicht allzuviel unternommen werden. Aber zumindest kann man alle vorhandenen Informationen schon einmal einsammeln und bündeln.

„Ich fürchte, er hatte gute Gründe, euch nicht um Hilfe zu bitten", sagte Jonivra gelassen. „Ihr vermutet ja einen bewußten Anschlag hinter dieser Sache? Ich habe den Verdacht, dass es nur ein Unglücksfall gewesen ist."

„Was bringt dich zu der Annahme?" fragte Sito.

„Weil mir das Ganze ziemlich gepfuscht vorkommt. So geht man nicht mit Baku um und die meisten von uns hier wissen das. Bis auf diejenigen, deren Ausbildung noch lange nicht soweit ist – und vermutlich niemals sein wird."

Feno hob den Kopf, seine Augen funkelten empört, aber er sagte nichts. Ungerührt fuhr Jonivra fort: „In Okziram ist ja schon einiges schiefgegangen. Menschen, die nichts von den Dimensionen hätte wissen dürfen, haben davon erfahren – einer davon war sogar schon hier, in einem Bereich, der selbst für uns gefährlich sein kann. Ihr habt ja schon davon gesprochen, eventuell die Baku einzusetzen und euch dann dagegen entschieden. Aber wenn jemand anderer Meinung war, könnte er es auf eigene Faust versucht haben. Nur dass die Baku dann auf die falsche Person losgingen."

„Und wer sollte sowas tun?" Vondrau war offenbar der Einzige, der noch nicht verstanden hatte, worauf Jonivra hinauswollte.

„Wer wohl", die Kitsune verzog hämisch den Mund. „Überleg mal, Vondrau. Wir haben hier einen Kitsunen, der schon als Kleinkind nicht in der Lage war, sich an Regeln zu halten oder die Grenzen seiner Macht einzusehen. Der sich und andere ständig in Gefahr bringt; dauernd mit Kräften herumspielt, die außerhalb seiner Reichweite sind; der alleine in unbekannte Dimensionen aufbricht und uns immer noch den Beweis schuldig bleibt, dass er die nötigen Fähigkeiten besitzt. Ja, ich weiß, dass deine Frau ihn für begabter hält als ich ihn einschätze, aber wenigstens du solltest doch klar sehen!" Sie ereiferte sich immer mehr. „Keine Strafe, keine Demütigung hat ihn bisher zu der Einsicht gebracht, dass er sich gewaltig überschätzt! Und jetzt hat er auch noch erfahren, wie es ist, unverdiente Anerkennung zu erfahren. Ihr wart doch alle so begeistert, als er den Schrat zurückbrachte und habt vor lauter Lob vergessen, dass es eigentlich die Menschin war, die den Schrat fing. Als die Menschin ..."

„Ich heiße Emm!" sagte das Mädchen scharf und für einen Moment geriet Jonivra aus dem Konzept.

Dann fuhr sie fort: „Als Emm nach Allendun geschickt wurde, hat er wieder niemanden informiert und ist einfach gegangen, um sie zu retten. Dabei wissen wir immer noch nicht, wer ihr die Scheibe sandte."

„Wer immer ihr die Scheibe gab", unterbrach Sito, „ging davon aus, dass Emm im Eis einbrechen würde. Dann wäre es zu spät für eine Rettung gewesen."

„Jeder von uns hätte das gedacht, ja, weil wir sie uns falsch vorstellten", stimmte Jonivra zu. „Nur Fenny wußte, wie sie aussah – und dass sie zu leicht sein würde, um einzubrechen."

„Das ist eine sehr gewagte Anschuldigung", hielt ihr ihre Großmutter entgegen.

„Ja? Aber es paßt alles zusammen. Dass die Elbin auftauchte und ihr an die Schicksalsgruppe glaubtet – ich glaube auch, dass Emm und Arniri dazugehören, aber Fennyli? Seine Verknüpfung zu ihnen war doch nur, dass er als erster durch Emms Spiegel gekommen war – und das wäre nicht geschehen, wenn er nicht wieder einmal seine Anweisungen mißachtet hätte.

Dann die Sache mit Emms Schwester. Ich kann nicht glauben, dass sie nur zufällig in die Heizung fiel – und nur Fenny in der Lage war, ihren Aufenthaltsort zu entdecken. Woraufhin Fennychen mal wieder als der große Held dastand, der die Kleine gerettet hat.

Und jetzt – wie hättet ihr reagiert, wenn es geklappt hätte und die Baku bei Emms Schwester, ihrem Kusin und ihrer Mutter die Erinnerung an Dinge gelöscht hätten, die nicht zu ihrer Vorstellungswelt passen? Ihr wart ja nur gegen den Einsatz, weil ihr nicht sicher wart, ob ihr die Baku so genau arbeiten lassen konntet. Wenn er euch dann bewiesen hätte, dass er es konnte? Dann wäre doch wieder Fennylein der Held gewesen, der das vollbracht hatte."

Zufrieden lehnte sich Jonivra zurück. Sie hatte ihre Argumente klar und deutlich vorgetragen und ihre Zuhörer waren sprachlos, dachten erst einmal darüber nach.

Dann sagte Arniri laut: „Ich glaube sowas nicht von Feno!"

Emm stimmte ihr zu: „Ich habe ihn als sehr verantwortungsbewußt kennengelernt. Und was das Team angeht – obwohl ich alles vergessen hatte; als Feno mich daran erinnerte, dass ich das Auge bin, fiel mir sofort ein, was die anderen beiden sind – und dass ich ihnen vertrauen kann. Da ist eine Verbundenheit, die nicht einmal die Baku auslöschen konnten!"

„Ich zweifle die Zugehörigkeit Fennys zu euch beiden nicht an", sagte Yandigo nachdenklich. „Aber ihr seid alle drei sehr jung. Es ist möglich, dass die Gruppe zu früh gebildet wurde – impliziert durch Fennys Ungehorsam, durch den er Emms Spiegel entdeckte – und dass Fenny emotional noch nicht reif genug ist, um diese plötzliche Aufmerksamkeit zu verkraften."

„Für mich klingt das völlig absurd", wandte Vondrau ein. „Es wäre etwas anderes, wenn Fenyro schon öfters Schaden angerichtet hätte. Das hat er aber nie. Ja, er geht Risiken ein, vor denen ich zurückscheuen würde, aber bisher kam er auch immer wieder raus und das ohne Hilfe."

„Das kann ich nur bestätigen", meinte die alte Fuchsdame. „Und ja, ich habe miterlebt, dass Fenyro immer wieder gedemütigt und zurückgesetzt wurde und wie er dagegen rebellierte. Aber bisher hat er nie etwas getan, was geeignet wäre, jemand anderem zu schaden als höchstens ihm selbst."

Fenos Eltern sahen sich nachdenklich an. Dann wandte sich Inari an ihren Sohn: „Was hast du zu Jonivras Schlußfolgerungen zu sagen?"

Feno war kreideweiß und zitterte, aber er sagte mit fester Stimme: „Sie sind schlüssig, aber falsch. Ich würde nie soweit gehen, nur um Anerkennung zu erlangen – und ich würde auch aus anderen Gründen niemandem so etwas antun."

„Es ist doch klar, dass er es leugnet", fuhr Jonivra auf. Sito schüttelte jedoch den Kopf. „Nein. Wenn Fenyro aus Unachtsamkeit und Leichtsinn gehandelt hätte, wenn er lediglich die möglichen Folgen seines Tuns nicht sorgsam genug überdacht hätte, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt gewesen, es zu gestehen. Dass er es nicht tut, zeigt uns, dass er entweder unschuldig ist oder bewußt rücksichtslos gehandelt hat." Er sah zu Inari und die erklärte ruhig: „Wir werden deine Theorie zu den Akten nehmen als einen der möglichen Tatvorgänge. Aber es wird auch in andere Richtungen weiter ermittelt werden und den wahrscheinlicheren Theorien nachgegangen werden. Bislang gibt es keinerlei Beweise, die die eine oder andere Hypothese stützen."

Yandigo blickte Feno an. „Es gibt eine Möglichkeit, Jonivras These sofort zu widerlegen."

„Nein", wehrte Feno ab.

„Das sehe ich als Schuldgeständnis!" triumphierte Jonivra.

„Das ist ein gefährliches Vorgehen, gerade bei einem Jugendlichen, dessen Geist noch zwischen Kind und Erwachsenen schwebt", widersprach Fenos Großmutter heftig. „Und gerade in diesem Alter hat man viele Geheimnisse, die einem peinlich sind. Fenyros Ablehnung ist für mich kein Eingeständnis einer Schuld. Vielleicht ist der Junge einfach nur verliebt und möchte nicht, dass das herauskommt oder sowas. Ich war immer dagegen, den Geist von Jugendlichen zu sondieren."

Feno wurde rot und sah zu Boden, aber er blieb bei seiner Weigerung. „Ich lehne die Sondierung ab."

„Auch wenn das deine Unschuld beweisen könnte?" Inaris Frage klang so sachlich, dass Emm verstand; die Lenkerin wollte ihren Sohn nicht überreden, sondern nur die Weigerung „für die Akten" zur Kenntnis nehmen.

„Auch dann", Fenos Gesichtfarbe wechselte zwischen blaß und rot, aber er schien fest entschlossen.

„Gut", Inari erhob sich und überreichte Vondrau seine Tochter, der gleich die Haare seiner Schwiegermutter aus den kleinen Händen befreite. „Dann können wir in dieser Sache nichts mehr tun, bis uns weitere Indizien vorliegen. Alle Tatsachen sind klargelegt und werden aufgezeichnet werden. Bis auf weiteres werden wir keine Maßnahmen verfügen." Sie wandte sich an Emm. „Nur eines noch, würdest du Yandigo erlauben, deinen Geist zu untersuchen? Das ist dann keine Sondierung, sondern nur eine Überprüfung, ob du verletzt wurdest. Dabei wird sie auch keinerlei Information aus dir ziehen."

Zögernd sah Emm in die hellblauen Augen, die durch sie hindurch zu sehen schienen. „Ich werde dich nur von außen abtasten", erklärte die Kitsune freundlich. „Dabei kann ich zwar feststellen, ob Teile deines Geistes beschädigt sind, aber nicht, was sich hinter diesen Teilen verbirgt. Ich will nur sicherstellen, dass deine Erinnungen wieder komplett ist."

Das wollte Emm eigentlich auch. Trotzdem sah sie zu Feno hinüber, der ihr mühsam zulächelte. Obwohl er selbst noch unter Schock stand, beruhigte er sie: „Du kannst ihr vertrauen, Emm. Geh ruhig mit ihr, es wird dir gut tun."

Also folgte Emm der Kitsune und fragte sich dabei, wie es sein konnte, dass Jonivras Folgerungen so verdammt schlüssig waren. Sie wußte, es konnte einfach nicht so gewesen sein, wie es Fenos Schwester dargestellt hatte – aber warum klang das alles so logisch?


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