5-2 "Tomatensuppe stinkt!"

Die Geschichte weiß viele Beispiele von Leuten, die vor möglichem Unglück warnten oder von bereits Geschehenem berichteten und dafür gestraft wurden. Wie der Brauch, dass im Mittelalter angeblich Boten getötet wurden, wenn sie eine schlechte Nachricht überbrachten. Oder auch wie bei Kassandra und Helenos, die vergeblich vor dem Fall Trojas warnten und dafür nur Schimpf und Häme ernteten. Viele Menschen unterscheiden nicht zwischen dem, der die Nachricht von einem Unglück überbringt oder davor warnt und der Ursache für eben dieses Unglück.

So zwiespältig werden auch die irischen Banshees und die schottischen Bean-Nighe betrachtet. Die einen halten sie für Unglücksboten, die anderen glauben, sie selbst bringen den Tod. Sieht man diese Wesen als eine Spukgestalt, die nur Böses will, kann man sie auch als Todbringer beschreiben. Macht man aus ihnen eine eigene Rasse, wie andere Fantasiewesen, paßt das nicht mehr - warum sollten sie sowas tun? Viel eher sind sie dann einfach Geschöpfe, welche den nahenden oder drohenden Tod spüren - und dafür den Haß ihrer Mitmenschen ernteten, bis sie sich nicht mehr trauten, überhaupt noch irgendetwas zu sagen.

„Doch, in etwa", erwiderte Lusa. „Aber ich kann den genauen Ort nicht feststellen. Diese Kugel dient dazu, den Fokus innerhalb einer Dimension zu verschieben – so kannst du die Tunnel umgehen und wie bei einer Wechselscheibe an einem Ort herauskommen, an dem kein Torspiegel ist. Das ist natürlich gefährlich, weil du ohne ein Portal auch nicht wieder zurückkommst. Diese Funktion wird nur in absoluten Notfällen genutzt."

„Was könnten das für Notfälle sein?" erkundigte sich Emm; selbst in dieser Situation konnte sie das Fragen nicht lassen.

„Nun, wenn du dringend an einem bestimmten Ort gebraucht wirst und keine Zeit hast, erst vom Spiegeltor aus dahin zu gehen. Wenn du eines der Portale in dieser Dimension kennst, ist der Rückweg ja auch kein Problem."

„Als Ukrien durch die Tunnel floh, sind einige von uns ihm durch die Tunnel gefolgt, andere haben sich aber direkt an Orte geschickt, an denen Ukrien evtl auftauchen und dort Schaden anrichten könnte", erklärte Feno, während sich nun Tenyve vor Emms Spiegel kniete. „So waren sie sofort am Platz und als sie Nachricht bekamen, dass Ukrien gefangen ist, konnten sie in aller Ruhe zum nächsten Portal gehen."

„Und genau das werden wir jetzt auch tun müssen", seufzte Tenyve. „Emm, hast du mal grad Papier und Pinsel?"

Emm reichte ihr sofort Block und Bleistift vom Schreibtisch. Tenyve starrte einen Moment lang verwirrt auf das ihr ungewohnte Schreibgerät, dann nickte sie und begann, lange Zahlenreihen auf das Papier zu kritzeln.

Feno beugte sich über sie und las mit. „Ihr lieben Fate, was für eine Liste!" stöhnte er und das nicht zu Unrecht, denn Tenyve schien noch lange nicht fertig zu sein. Ganze drei Blätter schrieb sie voll, auf das vierte kamen noch zwei lange Zahlen, dann legte sie den Block weg. „Das sind die wahrscheinlichsten", erklärte sie und Lusa nickte, während Feno die Hände vors Gesicht schlug. „Du meinst, es kommen noch viel mehr Möglichkeiten in Betracht?"

Inari betrachtete stirnrunzelnd die Liste. „Ich denke, einiges können wir ausschließen", meinte sie. „Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Lis eine der Dimensionen erwischt, mit denen das Portal seit der Aktivierung durch Emm bereits zu tun hatte."

„Was sind das für Zahlen?" fragte Emm nervös.

„Koordinaten", erklärte Feno. „Tenyve und Lusa haben die Stellen markiert, auf welche die Manipulationen hinweisen, welchen Tenyve nachspüren konnte."

„Ich kann aber nicht erkennen, welche von Lis und welche von Ove sind", Tenyve erhob sich seufzend. „Und vor allem nicht, bei welcher Einstellung Lis durchfiel. Hätte dein Kusin den Spiegel in Ruhe gelassen, wäre die Einstellung erhalten geblieben, aber so ..." sie zuckte bedauernd die Schultern.

„Aber wenn es nur die Dimensionen sein können, mit denen ich bisher zu tun hatte, dann sind das doch nur zwei", sagte Emm hoffnungsvoll.

„Hast du denn auch nur zwei Namen auf deinen Wegweisern erkannt?" erkundigte sich Arniri und Emm schüttelte den Kopf. „Nein, da waren noch andere."

„Welche?" fragte Inari sofort und Emm überlegte. „Bulben. Und eines mit viel K und R, das man gar nicht aussprechen kann – Krikatu oder so. Eins klang Chinesisch, Xua glaub ich. Eins konnte ich nicht lesen. Und eins war irgendwas mit Von – zwei Worte."

„Toll", stöhnte Lusa. „Xhua und Bulben sind klar, aber die anderen? Da können wir jetzt lange raten."

„Ich glaube nicht", Feno schnappte sich Emms Block und schrieb zwei Namen drauf. „Können die das gewesen sein, Emm?"

Emm las Krkatew und Vonderau-Puites. Und nickte erleichtert. „Ja, ich glaube, das waren sie."

„Woher wußtest du das?" fragte Inari und Feno grinste. „Ukrien stammt aus Krkatew (er sprach es Kreschkateu aus) und Dormin ursprünglich aus Vonderau-Puites. Das Portal merkt sich offenbar die Heimatdimensionen der Durchgehenden, deshalb eben auch Bulben, obwohl Arniri dort nicht geboren ist."

„Aber warum Xhua?" Lusa zuckte die Schultern. „Und das Unlesbare – inwiefern war das unlesbar, Emm?"

„Naja, ich hatte den Eindruck, dass es eine Schrift sein sollte, aber ich kenn die nicht."

„Nimm den Block mit, vielleicht kannst du auf dem Rückweg die Zeichen abmalen", schlug Arniri vor.

Inari lächelte vor sich hin. Die drei Jugendlichen schienen sich wirklich gut zu ergänzen, die Fate hatten eine gute Wahl getroffen.

„Wenn ich nur etwas tun könnte!" stöhnte Emm nun schon zum wiederholten Male, aber ihre Gefährten nahmen ihr das nicht übel. Feno legte seinen Kopf auf Emms Schoß, die ihn gedankenverloren hinter den Ohren kraulte und Arniri sagte, als habe sie den Satz in den letzten zehn Minuten nicht schon ebensooft gehört: „Ich fühle mit dir, Emm. Es ist furchtbar, nur dazusitzen und zu warten." Sie setzte sich neben die Freundin und nahm sie in den Arm.

„Wieso dürfen wir nicht mitsuchen?" jammerte Emm. Auch das hatte sie schon mehrmals gefragt, trotzdem sagte Feno leise: „Keiner von uns ist als Sucher ausgebildet und wenn Lis gefunden wird, mußt du gleich für sie dasein."

Emm hob erschreckt die Hand. Es hatte sie immer schon beruhigt, wenn sie ein Tier streicheln konnte und Feno hatte das erkannt und lag nun in Fuchsform neben ihr auf seinem Futon. Emm hatte ihn die letzten Minuten gekrault, wie sie es mit Kater Max machte, wenn sie traurig war. Max allerdings pflegte dabei nicht zu reden und einen Moment lang war Emm verwirrt.

„Ich dachte, als Fuchs kannst du nur bellen."

„Quatsch. Ich bin und bleibe ein Mischwesen aus Fuchs, Geist und Mensch."

Es klopfte. Leise und zögernd, als zweifle das Wesen draußen daran, dass man ihm Eintritt gewähren würde. Feno schien das schon zu kennen, er rief gleich: „Komm nur rein, Maire, ich bin angezogen!"

Arniri kicherte, als sich die Waschfrau vorsichtig ins Zimmer schob. „Gabs da mal Probleme?"

„Ja, aber nicht mit mir, sondern mit einem Gast, den man ungern ohne Kleidung sieht", erklärte Feno fröhlich und wandte sich an Maire: „Kann ich was für dich tun?"

Maire schüttelte den Kopf. „Ich ... ich dachte, vielleicht kann ich euch helfen", brachte sie hervor.

Mitten im Sprung vom Bett wurde Feno zum Menschen. „Du hast recht, daran dachte ich gar nicht. Emm, wo hast du das Shirt?"

Emm holte ein T-Shirt von Lis hervor. Etwa 50 Kitsunen hatten bereits daran geschnuppert, sowie zwei Dutzend andere Wesen, die Emm nicht zuordnen konnte. Jeder Suchtrupp hatte sich eine Koordinate genommen von Tenyves Liste und war aufgebrochen, weitere Helfer durchsuchten den Fuchshügel und die Stadt. Und auch die Stadtbewohner durchkämmten die Felder und den Wald. Emm hatte gehört, dass sich sogar Rhys der Suche angeschlossen hatte und die Anteilnahme am Schicksal ihrer Schwester rührte sie sehr.

Statt daran zu riechen, nahm ihr Maire das Hemd aus der Hand und legte es in die Waschschüssel auf der Kommode. Sie rieb es kurz und spülte es dann aus. Feno sah gespannt in die Schale und bemerkte, dass sich das Wasser leicht rötlich färbte.

„Oh, es sollte eigentlich nicht mehr ausbluten, das Shirt ist schon oft gewaschen worden", Emm hatte die Verfärbung ebenfalls gesehen.

Maire schüttelte den Kopf. „D-daran liegt es nicht. Ich ... ich bin eine ... bean-nighe ..." Sie stockte und sah Emm ängstlich an.

Feno half ihr. „Sie will sagen, wenn sie die Kleider einer Person wäscht, kann sie erkennen, ob diejenige in Gefahr zu sterben. Wäre Lis tot oder in tödlicher Gefahr, wäre die Schale jetzt voller Blut. Dass es leicht gefärbt ist, zeigt uns, dass sie lebt, aber in Gefahr ist. Einer Gefahr allerdings, der sie noch entkommen kann." Er lächelte die scheue Bean-nighe an. "Vielen Dank, Maire, das hilft uns sehr weiter."

Die Waschfrau wurde rot. „Ich ... ich könnte das einmal pro Stunde machen, falls ..." Sie schwieg wieder.

„Das wäre toll", sagte Emm dankbar. „So weiß ich wenigstens, ob Lis lebt. Danke, Maire", sie hielt Maire die Hand hin und diese nahm sie zögernd.

„Dann ... dann ... dann ..."

„Dann bis in einer Stunde", vollendete Feno freundlich. „Und nochmals danke, dass du uns so hilfst."

Als Maire gegangen war, stieß Arniri hörbar die Luft aus. „Und vor diesem verschüchterten Etwas habe ich Angst gehabt! Dabei ist sie so lieb!"

„Ja, und sehr scheu", sagte Feno leise. „Sie fürchtet sich vor fast allen Wesen und wir schaffen es nur ganz allmählich, ihr mehr Vertrauen einzuflößen."

Arniri sah noch immer nachdenklich auf die Tür. „Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen?"

„Hm?"

„Wir können doch etwas tun. Ich wollte heute sowieso nach Hause gehen und ihr beide könnt doch mitkommen. Cluyranda kann uns die Runen werfen. Wenn uns die Fate heute gut gesinnt sind, verraten uns die Runen vielleicht, wo Lis ist."

Emm sprang auf. „Du meinst, deine Oma kann aus den Runen lesen, in welcher Dimension meine Schwester steckt?"

Arniri schüttelte den Kopf. „Nein, aber sie kann uns weitere Hinweise geben."

„Auf die Idee hätten wir schon früher kommen können", meinte Feno. „Aber wir können Cluyranda ja erst seit heute wieder erreichen, Vondrau wurde keinen Tag zu früh fertig."

Inari war einverstanden. „Aber unternehmt bitte nichts auf eigene Faust. Einfach nur Cluyrandas Runen befragen und zurückkommen, in Ordnung?" Sie reichte Emm einen Handspiegel. „Hat dir Lusa schon gezeigt, wie man damit umgeht?"

„Nein", sagte Emm ratlos, aber Feno unterbrach sie. „Ich kanns."

Inari zog die Brauen hoch. „Du? Ich kann mich nicht erinnern, dass das zu deinen Lektionen gehört."

Feno grinste verlegen. „Das ist doch kein Hindernis."

„Für dich nicht, ich weiß", Inari seufzte. „Also schön, zieht ab, ihr drei und viel Glück."

Neugierig geworden verglichen die Gefährten in den Tunneln nun, wie sie zu den Dimensionen fanden. Arniri erklärte, eine Art warmes Ziehen zu verspüren, welches sie zu ihrem Ziel führte. Feno sog die Luft durch die Nase und zählte dann die Dimensionen auf, die er erschnuppern konnte. Einige davon entdeckte Emm auf den Hinweisen, andere nicht.

„Also hat Feno die beste Orientierung", meinte Arniri, doch Feno lächelte nur. „Ich habe lediglich die meiste Erfahrung. Es ist durchaus möglich, dass mich Emm übertrifft, wenn sie mehr Dimensionen kennt. Immerhin ist sie Wächterin, ich habe nur Hüter-Instinkte."

„Dafür hast du wesentlich mehr Zeit", stellte Emm fest. „Immerhin bist du mehr als zehnmal so alt wie ich oder Arniri. Bis ich auch nur einen Teil der Dimensionen kenne, die du schon bereits besucht hast, bin ich wahrscheinlich schon tot."

„Ja", Arniri wirkte traurig. „Es ist sehr schade, dass die Menschen nur so kurz leben."

„Bist du etwa auch schon mehrere Jahrzehnte alt", fragte Emm erschreckt, doch Arniri schüttelte den Kopf. „Das nicht. Aber wenn Elben etwa 20 Jahre alt sind, altern sie sehr viel langsamer. So alt wie Kitsunen werden wir nicht, aber zwischen 300 und 500 Jahre kann ein Elb durchaus werden."

„Das stelle ich mir grad vor", murmelte Emm. „Wir drei in 60 Jahren – eine alte Frau, eine junge Frau und ein Teenie als Team und der Teenie ist der Älteste."

„Es hat schon absurdere Gruppierungen gegeben", tat Feno das ab. „Und hier und heute sind wir alle drei „Teenies". Belass es einfach dabei, Emm."

„Das ist wohl das Beste", gab Emm zu und prallte plötzlich gegen Arniri. "Wieso bleibst du stehen?"

„Weil wir da sind", erwiderte die Elbin und strich über das Tor, vor dem sie standen. Als es hell wurde, spähte sie hindurch und rief erfreut: „Tirili, Hanuie, dürfen wir durch?"

„Arniri! Yatiri!" freute sich der junge Elb auf der anderen Seite. „Vondrau sagte schon, dass du heute vielleicht zurückkommst, aber er wußte nicht wann. Schön, dich wiederzusehen."

Arniri hüpfte fröhlich durch den Spiegel und fiel dem Jungen um den Hals. „Wie kommst es, dass du den Spiegel bewachst, hat dein Vater nichts dagegen?"

Hanuie lachte. „Ich habe es mir nicht verbieten lassen! Es gibt zu wenige, die das können und sie brauchen jeden. Wen bringst du denn da mit?"

„Oh, das sind meine Gefährten", Arniri wandte sich zu ihnen um und Hanuie erhob sofort die Hände. "Tirili?" fragte er, während er dabei beide ansah.

„Yatiri!" antworteten sie prompt wie aus einem Mund, wobei Fenos Begrüßungsgeste wesentlich geschmeidiger ausfiel als Emms.

Hanuie wiederholte die Geste. „Hanuie Jukran, Gentry!"

„Fenyro kolfa Minsaj, Kitsune!"

„Emm Brede, Mensch – oder wie soll ich das sagen? Muß ich mich mit Emmalin vorstellen?"

„Emmalien, was für ein schöner Name", Hanuie betonte die letzte Silbe und irgendwie gefiel Emm ihr ungeliebter Name so viel besser.

„Du hast mir gar nicht gesagt, dass du Emmalien heißt", stellte Arniri fest, auch sie betonte die letzte Silbe.

„Ich werde eben lieber Emm genannt."

„Das paßt auch besser zu dir", Feno grinste. „Aber vergeßt nicht, dass wir es eilig haben. Hanuie, wo finden wir Cluyranda?"

Der junge Elb wies nach rechts. „Sie ist gerade zu eurer Höhle gegangen."

„Oh gut", Arniri nahm ihre Gefährten an den Händen und rannte los. Emm hatte alle Mühe, der flinken Elbin zu folgen und sah nur am Rande, dass sie sich in einer grasbewachsenen Ebene voller kleiner Hügel und Wälle befanden. Vor einem der Hügel bremste Arniri so plötzlich, dass Feno stolperte und plötzlich vor der hellhaarigen Elbin kniete, die gerade einen neuen Faden an ihren Webteppich knüpfte.

„Hau – äh, Tirili", stotterte er und vergaß völlig die zugehörige Geste. Aber die Frau lächelte ihn nur freundlich an. „Hau und Yatiri, junger Kitsune." Dann erst erblickte sie Arniri hinter ihm und sprang auf. „Arniri, wie schön, dass du zurück bist!" Sie nahm die Elbin in die Arme und sah zu Emm. „Wen hast du denn da mitgebracht, sind das deine Gefährten?"

„Ja, Großmutter", Arniri erwiderte innig die Umarmung. „Fenyro kolfa Minsaj und Emmalien Brede, aber du kannst einfach Feno und Emm sagen."

Zu ihrer Verblüffung nahm Cluyranda Emm und Feno, der sich aufgerappelt hatte und die erdigen Hände an der Jeans abwischte, ebenfalls in die Arme. „Seid mir willkommen!" sagte sie nur.

Emm staunte, dass sie so einfach aufgenommen wurde, war auch etwas verlegen und sah sich erstmal um. Auf dem Platz vor dem Hügel waren neben dem Webstuhl und einigen Stickrahmen auch Tische und Bänke aufgestellt, in Brusthöhe hatte man mehrere Leinen an Pfosten gespannt und ein gemauerter Ofen schloß an die Hügelwand an. „Lebt ihr draußen?"

„Zur Hälfte ja", erklärte Cluyranda lächelnd. „Du bist das Auge, eindeutig. Wir sind das Volk der Hügel, Emm, in der Alten Welt lebten wir innerhalb der Hügel. Hier in unserer eigenen Dimension müssen wir uns nicht mehr verstecken und haben daher alles nach draußen verlegt, was nicht unbedingt drinnen sein muss. Schlafräume und Lager sind nach wie vor im Hügel", sie wies auf eine hölzerne Tür, die unweit des Ofens direkt in den Hügel gebaut war. „Und auch die Ballräume. Aber wir halten uns lieber in der Sonne auf."

„Oder im Schatten", fügte Arniri grinsend hinzu und wies auf die Bäume, welche den Platz vor dem Hügel umstellten. Emm sah sich um und lächelte. „Es ist wunderschön hier."

Feno nickte. „Finde ich auch."

Cluyranda blickte die drei an. „So sehr ich mich freue, meine Enkelin wiederzusehen, so habe ich doch den Eindruck, dass euch etwas Wichtiges hergeführt hat."

„Ja, Großmutter, kannst du uns die Runen lesen?" fragte Arniri drängend. „Emms kleine Schwester ist verschwunden."

Cluyranda nickte. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Komm mit, Arniri", sie öffnete die Tür des Hügels und wandte sich den anderen beiden zu. „Setzt euch derweil, wir sind gleich wieder da."

Emm gehorchte und schrie entzückt auf. „Guck mal, Feno, Stühle wie aus dem Mittelalter! So schön geschnitzt und mit bestickten Kissen!"

Feno grinste. „Jetzt verstehe ich, warum sich deine Eltern nicht gewundert haben, dass du unbedingt den Spiegel wolltest."

„Nee, ich spinn schon ewig auf Mittelalterkram", gab Emm zu. „Aber meine Mutter auch, deshalb sagt mein Vater nicht mehr viel, wenn wir wieder was anschleppen."

Türöffnen unterbrach sie. Arniri trat mit einem Tablett zu ihnen und stellte einen getöpferten Krug und Becher aus Horn vor sie, dazu einen hölzernen Teller, dessen Inhalt Emm mißtrauisch beäugte. Arniri lachte. „Das sind keine Mäuse, sondern Haferkekse."

„Mäuse?" Cluyranda trat zu ihnen, in den Händen einen großen, schwer aussehenden Lederbeutel. „Haben euch die Kitsunen Mäuse vorgesetzt?" fragte sie schmunzelnd.

„Nicht die, die Heinzelmännchen", sagte Arniri, während Emm vorsichtig einen der Kekse probierte und Feno sich aus dem Krug klares Wasser eingoß. „Aber es ging eigentlich, zumindest habe ich sie bei mir behalten. Trotzdem, Kaninchen ist mir lieber."

„Das kannst du haben", noch während er sprach, wurde Feno zum Fuchs und verschwand im Gebüsch. Emm sah ihm verwundert nach, doch Cluyranda sprach nun sie an: „Emm, wann genau ist deine Schwester verschwunden?"

Emm sah auf die Uhr. „Vor etwa einer Stunde ist sie durch den Spiegel gefallen."

„Durch den Spiegel? Ein Menschenkind? Wie ging das zu?"

„Feno sagt, Lis hat etwas Talent."

„Das erklärt es. Wie alt ist sie?"

„Fünf."

„Und wie ist sie so? Nein, erzähle es mir nicht", Cluyranda hatte den Beutel geöffnet, ein besticktes Lederquadrat herausgeholt und es flach ausgelegt. Nun nahm sie einen Stein aus dem Beutel und reichte ihn Emm. „Nimm ihn in die Hand, reibe ihn und denk dabei an deine Schwester. Stell dir vor, wie du sie täglich erlebst und was Besonderes an ihr ist."

Emm gehorchte, nahm den Stein an und stellte sich Lis vor; wie sie ein Bild malte, die Zunge in den rechten Mundwinkel geklemmt; wie sie minutenlang vor dem Kühlschrank stand, bis ihr einfiel, was sie hatte holen wollen; wie sie aufgeregt hüpfte, wenn jemand ihr versprach, zum Spielplatz zu gehen; wie sie nachts einmal in Emms Bett gekrabbelt war, als sie einen Alptraum gehabt hatte; wie sie sich zornig vor einer Mitschülerin Emms aufgebaut hatte, die Emm geschmäht hatte ...

„Ich glaube, das genügt", Cluyrandas Stimme riß Emm aus ihren Gedanken. Sie blickte auf den Stein in ihren Händen und bemerkte verwirrt, dass die eingravierten Runen auf ihm grün leuchteten. Cluyranda nahm ihr den Stein aus den Händen, wählte noch einige aus dem Beutel aus und legte sie alle auf das Leder. Dann nahm sie es bei den beiden Holzstäben, die an die Seiten genäht waren und hielt es hoch, dass die Steine es nach unten ausbeutelten. Mit einem Ruck zog sie die Stäbe auseinander, so dass sich das Leder straffte, die Steine hochhüpften und dann erneut auf das Leder fielen.

Vorsichtig, um die Position der Steine nicht zu verschieben, legte Cluyranda das Leder wieder auf den Tisch und starrte eine Zeitlang auf die Steine. Das gab Emm Gelegenheit, sich die Großmutter der elbischen Freundin genauer anzusehen.

Zum Glück hatte Arniri sie gewarnt, dass Elben langsamer alterten. Cluyranda wirkte nicht alt, ihr gebräuntes Gesicht wies keine Falten auf. Sie hatte die gleichen grünen Augen wie Arniri, eine leicht gebogene Nase und einen breiten Mund mit schwungvoll geformten Lippen. Hübsch war die Seherin nicht, aber wie Inari strahlte sie Macht und Güte aus.

Ihre hellblonden Locken reichten ihr auf die Schultern. Sie trug ein ärmelloses besticktes Oberteil mit überschnittenen Schultern und einen weiten Rock mit Fransen, beides aus weißer Wolle und vorne und hinten spitz zulaufend. An den Füßen hatte sie Ledersandalen nach Art der Römer. An beiden Handgelenken klapperten mehrere Holzreifen, einige geschnitzt, andere mit Einlegearbeiten aus Perlmutt.

Plötzlich brach Feno aus dem Gebüsch, ein totes Kaninchen zwischen den Zähnen. Er sprang auf den Stuhl, legte Arniri das Tierchen hin und wurde wieder zum Menschen. „Kleine Entschädigung für die Mäuse", sagte er grinsend, während ihm das Blut von den Lippen tropfte.


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