4-2 Nächtliches Intermezzo
Da über Ufitis sehr wenig bekannt ist, konnte ich hier meine Fantasie spielen lassen. Erzählt wird lediglich, dass sie die Größe und den Schädel eines Gorillas haben, sonst aber eher Merkmale von Schimpansen aufweisen. Und ob es sich kryptozoologisch eher um Affen oder um Menschen handelt, ist auch ungeklärt. Für mich sind sie eher den Menschen zuzuordnen. Denn obwohl sie offensichtlich in mehreren afrikanischen Ländern leben und seit jeher von ihnen berichtet wird, haben sie es bisher geschafft, sich uns weitestgehend zu entziehen. Dafür brauchen sie eine menschenähnliche Intelligenz - und sehr gute Gründe. Wenn ich darüber nachdenke, was wir Homo sapiens zum einen den Tieren, zum anderen aber auch unseren eigenen Artgenossen antun, kann ich die Zurückgezogenheit der Ufitis, der Yetis, Yowies und Almastys sehr gut verstehen.
An der Tankstelle hielt Deik direkt vor dem Shop. „Willst du jemand treffen?"
Emm schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss nur einkaufen, mindestens soviel, wie in meinen Rucksack paßt."
Deik nahm zwei große IKEA-Taschen vom Rücksitz. „Reichen die?"
„Oh, ja, sicher! Nur weiß ich nicht, ob ich die dann noch tragen kann!"
„Das sollst du auch nicht, das mach ich schon", Deik betrat den Shop und fragte den Mann hinter der Kasse: „Haben Sie einen Handscanner?"
„Ja, sicher, warum?"
Deik wies auf Emm. „Dann können Sie ja alles scannen, was sie in die Taschen packt. Ich denke, so geht's schneller."
Es hatte wirklich Vorteile, einen Erwachsenen dabei zu haben, dachte Emm, während sie sich bei den Früchten und den Säften umsah. Deik hielt ihr die Taschen auf und der Tankwart konnte kaum so schnell scannen, wie Emm alles, was sie an Südfrüchten und entsprechenden Säften entdeckte, in die Taschen warf. Zum Schluß packte sie noch einige Früchtetees dazu, dann nickte sie zufrieden. „Das wars."
„Mehr ist auch nicht da", meinte Deik trocken, während der Tankwart abrechnete. Er stellte die Taschen ab und kramte nach seiner Mastercard, aber Emm stand schon an der Kasse und bezahlte mit 3 Hundert-Euro-Scheinen. Deik riß die Augen auf, fragte aber erst im Auto nach: „Wo hast du denn das Geld her?"
„Das hab ich für den Einkauf bekommen", gab Emm zu. Deik runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr zu dem Thema und erkundigte sich stattdessen: „Und wo soll das alles jetzt hin?"
„Oh – erstmal in mein Zimmer."
„Aha – du feierst eine Mitternacht-Südsee-Party."
Emm mußte lachen. „Nein, das nicht. Er holt es ab."
Deik fragte nicht, wer „er" war. Was auch immer das für Geheimnisse waren, die Emm da hütete, es konnte nichts Schlimmes sein. Nicht einmal MacGyver würde aus Südfrüchten und Tee eine Bombe basteln können. Und auf welchem Weg dieser „er" sich die Waren abholen würde, konnte sich Deik gut vorstellen.
„Das Gangl war nicht gerade die beste Idee, die Onkel Konrad je hatte", murmelte er.
Emm grinste. „Das klingt vielleicht drollig, wenn du bayerische Worte mit deinem friesischen Klang aussprichst!"
Ihr Kusin lachte. „Für mich klingt das auch teilweise, als ob ihr eine Fremdsprache redet. Vor allem dieses Fürti, das werde ich nie hinbekommen."
„Pfüat'di", verbesserte Emm lachend und Deik seufzte.
Dormin sah auf, als sich die Tür öffnete und sprang sofort hoch. "Warte, ich helf dir!" Er nahm Emm die Taschen ab, die sie gerade ins Zimmer zu ziehen versuchte. „Wie hast du die bloß bis hierher bekommen?"
„Mein Kusin hat sie mir hochgetragen", keuchte Emm. „Der ist noch größer als du und entsprechend kräftig. Friese halt!" Sie grinste.
„Friese?" Dormin runzelte die Stirn. „Was ist das für eine Art?"
„Ach, er kommt aus dem Norden, Mutter und meine Tante auch. Und im Norden sind die Menschen angeblich größer. Bei Deik trifft das zu." Emm kniete bereits vor ihrem Bett und wühlte in den Kartons darunter. „Hier, pack das mal alles in die Tasche!" Sie warf Dormin einen Stoffbeutel hin und der packte brav ein, obwohl er bei den meisten Dingen keinen Schimmer hatte, worum es sich handelte.
„So", Emm richtete sich schließlich wieder auf, setzte den Rucksack auf, nahm die Tasche in die eine Hand und griff mit der anderen nach einem Koffer in Form einer Birne mit extrem langen Stiel. Dormin beschloß, nicht nicht genauer nachzufragen; wahrscheinlich würden ihn Emms Erklärungen nur noch mehr verwirren.
„Wie stellen wir das jetzt an, dass wir nicht auf der Mordsee landen?" fragte Emm und Dormin lächelte. „Wir gehen durch die Dimensionstunnel bis zu meinem Spiegel. Die Wechselscheibe brachte dich an einen Ort, auf den sie eingestellt war; wenn wir jedoch die Tunnel betreten, entscheiden wir, wo wir herauskommen."
„Okay", noch etwas unsicher hob Emm die Hand, konzentrierte sich, wie Lusa es ihr beigebracht hatte und bemerkte erleichtert das Schimmern, welches ihr verriet, dass der Spiegeldurchgang frei war. Vorsichtig betrat sie den Tunnel und Dormin folgte ihr mit den schweren IKEA-Taschen. Der Ork lächelte vor sich hin. Er hatte Emms Unsicherheit bemerkt, aber auch die Schnelligkeit, mit der sie den Spiegel freigegeben hatte. Sie ist jung, aber sie hat Talent, dachte er.
Jetzt standen sie in den Tunneln, die Emm mittlerweile schon einige Male betreten hatte, bislang jedoch immer in Fenos oder Lusas Begleitung. „Wo müssen wir jetzt hin?" fragte sie Dormin und dieser deutete nach rechts.
„Woher weißt du das? Lusa behauptet, ich würde es irgendwann wissen, aber wie, hat sie nicht gesagt."
„Das kann sie nicht, weil jeder eine eigene Art der Wahrnehmung hat", erklärte Dormin. „Zudem erkennt man auch meist nur die Wege zu den Dimensionen, die man bereits einmal besucht hat. Ich persönlich konzentriere mich beim Durchgang auf mein Ziel und sehe den Weg dorthin als schimmernde Linie, weiß dann aber nicht, wohin die anderen Wege führen."
Emm nickte. „Feno meinte, er riecht es."
„Das kann ich mir denken. Füchse orientieren sich gerne mit der Nase und Feno hat einen besonders guten Geruchssinn. Ich glaube aber, nicht alle Kitsunen folgen ihrer Nase, wenn sie durch die Tunnel gehen. Wobei auch nicht einmal alle Kitsunen ohne Begleitung durch die Tunnel gehen könnten. Es braucht besondere Fähigkeiten, weißt du."
„Muss man Wächter sein? Und heißt das nicht, dass Feno auch einer ist?"
„Nein, aber Wächter gehören zu jenen, welche die Tunnel queren können. Fenyro ist seiner Art nach eher ein Hüter, aber auch die beherrschen die Wege."
„Hm, ist vielleicht deshalb Arniri durch die Tunnel gegangen? Ich habe mich schon gewundert, warum Cluyranda, also ihre Großmutter sie alleine gehen ließ", gab Emm zu, während sie dem Ork folgte.
„Cluyranda? Ich habe von ihr gehört, sie ist eine der ganz großen Seherinnen. Aber dass sie die Wege der Dimensionen kennen würde, hat noch niemand von ihr gesagt. Ihr Sohn ist ein Wanderer, soweit ich weiß, sie nicht."
„Achso. Also konnte sie wohl nicht selbst gehen und Arniri war die einzige, die die Fähigkeit, aber auch den Willen hatte."
„Das nehme ich an. So, wir sind da!"
Für Emm sah der Torbogen nicht viel anders aus als all die anderen, an denen sie vorbeigekommen waren. Dormin jedoch strich mit der Hand über den rauen Fels und plötzlich blickte Emm in Dormins Hütte, in der diesmal bereits ein warmes Feuer prasselte. Sie folgte Dormin durch den Spiegel und sah Dezor mit Aiwa auf dem Schoß in der Sitzecke.
Aiwa schluchzte haltlos in Dezors Schulter, doch ihr Vater sah auf, bemerkte Emm und schlug sich mit der freien Faust mehrmals auf die Brust. Erschrocken wich Emm zurück. „Ich tu dir nichts", versicherte sie. Dormin sah verdutzt von ihr zu Dezor.
Dezor lachte leise, im tiefsten Bass, den Emm je gehört hatte. „Keine Sorge, das war keine Drohgebärde, sondern eine Begrüßung. Du bist sicher Emm? Ich heiße Dezor und dieses Tränenbündel hier ist meine Tochter Aiwa."
„Ja und für die hab ich auch was!" Emm nahm einen Stoffaffen aus ihrem Rucksack und eine Banane aus der Ikea-Tasche. Dann setzte sie sich neben Dezor und streichelte mit der Affenhand Aiwas Köpfchen. „Hallo, kleines Mädchen", sagte sie dazu mit Kinderstimme. „Warum guckst du denn weg, ich mag dich gerne mal ansehen. Und ich hab ein Geschenk für dich, magst du das mal sehen?"
Verblüfft hob Aiwa den Kopf und sah den Stoffaffen an. „Wer bist du?" fragte sie.
„Ich bin Jimmy", quiekte Emm. „Und ich möchte gerne dein Freund sein, darf ich? Du musst mich aber auch ganz doll liebhaben. Und hier hab ich was für dich, das magst du doch sicher?" Sie ließ den Affen die Banane in die Pfoten nehmen und sie Aiwa reichen.
„Oh!" rief die Kleine überrascht und nahm die Banane entgegen. „Danke, Jimmy! Und du willst wirklich bei mir bleiben?"
„Wenn du mich liebhast, natürlich", ließ Emm den Affen weitersprechen. „Ich hab dich jedenfalls lieb." Sie legte die Arme des Affen um Aiwas Hals und diese strahlte und umarmte den Affen ebenfalls. „Du bist so nett! Du darfst bei mir bleiben, für immer!"
Dezor lächelte Dormin an. „Sie kann gut mit Kindern umgehen."
Dormin nickte. „Sie meinte, sie hat ne kleine Schwester."
„Genau und von der hab ich auch was", Emm wühlte schon wieder in ihrer Tasche. „Ja, das dürfte passen. Aiwa, ich hab warme Sachen für dich, damit du nicht frierst. Und noch ein paar Spielsachen. Aber am besten ißt du jetzt erstmal was und trinkst warmen Tee, magst du?"
Dormin hatte bereits die großen Taschen auf den Tisch gestellt und Dezor inspizierte den Inhalt. „Ja, das ist genau richtig", er riß eine Packung Mango-Tee auf und versenkte einen Beutel in der Tasse, die vor Aiwa stand. Dann begann er, eine Papaya zu zerteilen und Aiwa mit den Schnitzen zu füttern.
„Iß du auch was", mahnte Dormin freundlich und Dezor lächelte schuldbewußt. „Ich weiß, ich muss auf mich aufpassen, solange sie mich noch braucht. Du bist nicht der erste, der mir das sagt."
Während die beiden Ufiti aßen, betrachtete Emm sie genauer. Dormins Erklärung hatte sie vor allem entnommen, dass Ufitis wohl eine neue Menschenaffenart sein müßten, die den Menschen noch näher stand als die Schimpansen. Das interessierte sie sehr, da sie im letzten Jahr im Rahmen eines Klassenprojektes die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Hominiden verglichen hatte.
Bei genauerer Betrachtung schienen die Ufitis wirklich Hominiden zu sein. Und Emm verstand nun auch die Angst dieses Volkes vor der Entdeckung.
Dezor mochte gut zwei Meter hoch sein, er war dunkelbraun behaart und sein Kopf wies den typischen Schädelkamm der Gorillas auf. Doch da endete die Ähnlichkeit, sein unbehaartes Gesicht war milchkaffeefarben, ohne die affentypischen Furchen und so flach wie bei einem Gibbon. Die kleine, schmale Nase mit den nach unten gerichteten Nasenlöchern war ebenfalls wie beim Gibbon, die ausgeprägten, etwas aufgeworfenen Lippen waren jedoch von leicht rosa Farbe wie bei einem Bonobo und erinnerten von der Form eher an den Neandertaler in Emms Biologiebuch. Die schönen, lichtbraunen, großen Gibbonaugen lagen tief unter dicht und schwarz behaarten Brauenwülsten eines Neandertalers, die jedoch durch die menschlich hohe Stirn wesentlich weniger auffielen. Die starken Kiefer mündeten in einem vorspringenden Kinn, wie es keine Affenart hatte, sondern nur die Menschen.
Soweit Emm das im Sitzen abschätzen konnte, hatte Dezor eher den Körper eines Schimpansen als eines Gorillas, mit mäßig tiefem Brustkorb, langen, aber nicht überlangen Armen und zwar kräftigem, aber nicht massivem Bau. Die Beine schienen jedoch länger und gerader zu sein, der Hals lang und schlank, die Schultern nach hinten ausgerichtet. Dezor war offenbar wie ein Gibbon oder ein Mensch hauptsächlich auf aufrechten Gang ausgerichtet. Die heller gefärbten Hände wiederum glichen denen eines Schimpansen, schmal mit langen, starken Fingern und einem menschenartig langem Daumen.
Dezor braunes Fell war dicht, fein und wies einen seidigen Schimmer auf, es wuchs an den Unterarmen und Unterschenkeln länger und bildete auf dem Schädel eine dichte Mähne. Aiwa glich ihrem Vater sehr, nur war ihr Gesicht runder, der Schädelkamm noch kaum vorhanden und der untere Gesichtsteil flacher. Damit sah sie einem Menschenkind ähnlicher als einem Affen. Noch dazu war sie blond – dunkelblond zwar, aber doch wesentlich heller gefärbt als Gorillas oder Schimpansen.
„Wenn menschliche Wissenschaftler einen Ufiti in die Hände bekommen würden, gäbe das einen Mordsaufruhr!" Emm merkte gar nicht, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte, bis Dezor traurig nickte. „Ich nehme es meinen Leuten nicht übel, dass sie uns verstoßen haben", gab er zu. „Sie haben Angst. Die Zeit wird immer knapper, es ist immer noch keine geeignete Dimension gefunden und die Menschen rücken immer weiter vor. Bald wird es keine Rückzugsgebiete mehr geben."
„Was wollt ihr dann machen", fragte Emm beklommen. „Ich werde euch gerne weiterhin mit Südfrüchten und dann wohl auch mit Kleidung versorgen, aber könnt ihr auf Dauer in diesem kalten Land leben?"
„Darüber müssen wir noch nachdenken", meinte Dormin. „Wir werden ganz sicher eine Lösung finden, aber es wird eine Weile dauern. Dezor, wieso badest du eigentlich diese Beutelchen im Wasser?" Der Ufiti hatte sich einen weiteren Teebeutel genommen, diesmal Orange und in seine eigene Tasse getunkt.
„Das sind Teebeutel", erklärte Emm. „Da drin sind getrocknete Früchte, die geben dem Wasser dann Geschmack und ..."
„Danke, Emm, was Tee ist, weiß ich. Aber die Idee mit dem Beutelchen ist mir neu. Woher kennst du das, Dezor?"
Der junge Mann – Emm schätzte ihn auf Anfang zwanzig – lachte leise. „Ich stamme aus der gleichen Welt wie Emm, vergiß das nicht. Wir sind keine Primitiven und kennen die Lebensweise der Menschen recht gut. Einige von uns bewegen sich unerkannt unter ihnen."
„Du auch?" fragte Emm. Dezor schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Als Jugendlicher war ich einige Male in den Städten, aber inzwischen bin ich zu groß und sehe zu fremd aus. Aber in Jeans und Sweatshirt oder im Kaftan und vor allem mit Fes sehen unsere jungen Leute den Menschen ähnlich genug, um sich zwischen sie zu wagen."
Emm war fasziniert. „Und keiner merkt das?"
„Wir sind extrem vorsichtig", erwiderte Dezor und ein Schatten flog über sein Gesicht. „Und die Ignoranz der Menschen trägt viel dazu bei. Wenn jemand erzählt, er habe einen Ufiti gesehen, wird er von den sogenannten Gebildeten nur ausgelacht. Vor allem die Weißen sind so von ihrer Überlegenheit über die „Urbevölkerung" überzeugt, dass sie die meisten Sichtungen als Fantasien von ungebildeten Hexengläubigen abtun."
„Ja, leider", murmelte Emm. „Das erlebe ich auch dauernd. Neulich mußte Lis im Krankenhaus behandelt werden und erzählte dann im Kindergarten, dass der Doktor ganz dunkle Haut hatte. Eine andere Mutter fragte uns, warum wir nicht einen weißen Arzt verlangt hätten, so ein Schwarzer könne doch nichts." Sie grinste. „Ich hab der Frau gesagt, der kann wesentlich mehr als sie und ist zweifellos auch viel intelligenter. Die war vielleicht sauer!"
Dezor seufzte. „Und jetzt überleg mal, Emm – wenn ihr Menschen euch das schon gegenseitig antut, obwohl ihr eine Rasse seid, war würdet ihr dann mit uns machen?"
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