3-1 Abenteuer in Funchirasu
Gewidmet SeniSen-sen, die wahrscheinlich schon erkannt hat, wie Arniris Familienname entstanden ist.
Arniris Vorname ist übrigens einem Lesefehler meinerseits zu verdanken. In irgendeinem LTB kam eine Elfe namens A-mi-ri vor und ich las Ar-ni-ri und freute mich über den ungewöhnlichen Namen. Bis ich mal richtig las und feststellte, ist doch wieder so ein langweiliger Name. Dafür beschloß ich dann, dass die nächste Elfe, die in einer meiner Geschichten vorkommt, Arniri heißen soll.
"Tirili?"
"Was?"
"Tirili? Wächter?"
"Häh?" Jetzt fuhr Emm doch auf. "Lis, bist du das?"
"Arniri", kam die Antwort aus einer anderen Richtung als erwartet. "Tirili? Wächter?"
Emm seufzte und legte ihr Buch beiseite. "Moment bitte, ja?" Sie ging zur Tür. "Mam?" rief sie in den Flur. "Ich gehe noch kurz zu Freunden, okay?"
Aus der Küche kam ein "Okay, aber nur bis sieben", zurück. Emm sah auf die Uhr, das würde ihr immerhin fünf Stunden Zeit lassen. Sie ging ins Zimmer zurück, verschloß die Tür und ließ den Schlüssel stecken. Ihre Schwester Lis ließ ihr Zimmer in Ruhe (meistens), aber ihr Cousin Ove hatte im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Deik schon ein paarmal versucht, ihre Tür mit einem Dietrich zu knacken. Emm hatte aber in ihrem Zimmer Geheimnisse, die sie nicht jedem zeigen wollte - und schon gar nicht Ove. Dazu gehörte vor allem der altmodische, große Spiegel. Beide Brüder hatten ihn bewundert, als sie eingetroffen waren, aber dass der Spiegel ein Geheimnis hatte, ahnten sie nicht und Emm wollte es dabei belassen.
Eben zu diesem Spiegel ging sie nun und spähte angestrengt hinein. Wie sie erwartet hatte, erblickte sie nicht ihr eigenes Spiegelbild. Zwar war das Mädchen im Spiegel blond und schlank wie sie, wohl auch etwa in ihrem Alter, aber ihre schrägen Augen waren grün und nicht blau wie Emms und ihre Ohren waren spitz, was ihr Gesicht in Verbindung mit dem schmalen Kinn und der breiten, hohen Stirn dreieckig erscheinen ließ. Sie trug ein lichtgrünes Kleid aus mehreren halb durchsichtigen Stofflagen, welches Emm niemals anziehen würde. Auch der weiße, spitzenverzierte Hut mit der breiten Krempe war kein Kleidungsstück, das Emm für sich gefiel. Dem Mädchen allerdings stand diese Kleidung prächtig, mußte sie zugeben.
"Wächter?" fragte das Mädchen wieder mit einer sehr hellen, hohen Stimme, die ein wenig an Vogelzwitschern erinnerte.
"Nicht ganz, ich soll erst noch einer werden", erklärte Emm. "Wie kommst du her? Ich dachte, dieses Tor wäre zurzeit gesperrt."
"Unser Tor ist brocken", erwiderte das Mädchen. "Habe nextes Tor gesucht mit Impuls. Darf ick komen?"
"Äh, klar, komm nur rein", zu spät kam Emm zu Bewußtsein, dass sie eine fremde und vermutlich magische Person nicht so einfach hereinlassen sollte. Die Eishexe Luy hatte ihr ja deutlich gezeigt, dass eine schöne Gestalt und nette Worte nicht auch ein gutes Wesen bedeuteten.
Das Mädchen stieg bereits aus dem Spiegel. "Kaaalt", sagte sie mühsam. "Gaang in die Welten iist sehr kaalt." Dann legte sie die Handflächen vor der Brust zusammen und führte sie in einer geschmeidigen Bewegung über ihren Kopf und wieder hinunter. "Tirili?"
Inzwischen konnte sich Emm denken, was das Mädchen damit meinte. Sie streckte ihrer Besucherin die Hand hin. "Hallo", den Gruß des Mädchens bekam sie doch nicht hin, zudem klang das wie eine Frage und sie wußte die richtige Antwort nicht.
"Haalo", das Mädchen ergriff ihre Hand und lächelte. "Weelche Welt?" fragte sie dann.
Inzwischen wußte Emm wenigstens den Namen ihrer Dimension. "Okziram."
"Jahalay!" stieß das Mädchen erschrocken hervor. "Nickt diese Welt! Siind geflocken von da! Nickt zurück!"
"Von mir aus mußt du nicht hier bleiben", versicherte ihr Emm sofort. "Du bist frei, zu gehen, wann immer du willst."
Das Mädchen ging zum Spiegel und betrachtete ihn zweifelnd. "Fiinde Bulben nicht", sagte sie traurig. "Du helfen?"
"Das kann ich noch nicht", seufzte Emm. "Aber ich bin eh mit Feno und Tenyve verabredet und die können dir sicher helfen." Sie blickte wieder auf die Uhr. "Wenn du noch einige Minuten warten kannst ..."
"Waarten", sagte das Mädchen. "Guut."
"Ich bin übrigens Emm. Und wie heißt du? Und was bist du?"
"Bin Arniri Aseret Gentry. Aus Bulben."
Emm hatte inzwischen gelernt, dass die Wanderer zwischen den Dimensionen offenbar immer als letztes ihre Spezies angaben. "Also bist du eine Gentry?"
"Ja." Arniri lächelte, was ihr hübsches Gesicht regelrecht strahlen ließ. Emm fand sie sehr sympathisch und es gefiel ihr, dass Arniri ihr gleich vertraute.
"Hm", Emm schaltete den PC an und gab "Gentry" als Suche ein. Dieses Wesen war ihr völlig unbekannt. "Als Landed Gentry bezeichnete man in England ursprünglich den untitulierten Landadel - nee, das kann nicht stimmen. Ein Mensch bist du sicher nicht." Emm dachte kurz nach, dann gab sie kurzerhand "Bulben" ein. Vielleicht hatten die Menschen ja doch irgendetwas über Dimensionen in alten Sagen hinterlassen. "Das ist ein Berg in Irland", stellte sie verdutzt fest.
Arniri deutete auf den Tafelberg, der auf dem Monitor erschienen war. "Aaltes Land."
"Da habt ihr mal gewohnt?" erkundigte sich Emm und betrachtete das Bild. "Schöne Gegend."
"Ja. Aaber Menschen wolen nickt."
"Achso und da seid ihr woanders hin."
"Ja. Tuatha helfen, aber fehlen nooch viele."
"Und du willst die Versprengten deines Volkes suchen?"
Arniri nickte heftig. "Ja. Sucken."
Emm hatte inzwischen etwas mehr entdeckt. "Gentry - im Gegensatz zu den Sidhe großgewachsene irische Feen, die aristokratische Züge besitzen und hauptsächlich auf dem Berg Ben Bulben wohnen. Mehr steht da nicht über euch."
"Gentry wie Tuatha. Ein Rase, ander Famil."
"Entschuldigung, aber das verstehe ich jetzt nicht", gab Emm zu. Die Verständigung mit Arniri war doch schwerer als sie erst gedacht hatte.
"Sie wollte sagen, die Gentry sind mit den Tuatha de Dannan verwandt", erklang hinter ihr eine heisere Stimme und beide Mädchen fuhren herum. Feno stieg gerade aus dem Spiegel. "Hau, Emm. Wen hast du denn da zu Besuch?"
Arniri wandte sich zu Feno, legte wieder die Hände zusammen und vollführte die gleiche Geste wie vorhin. "Tirili?"
Zu Emms Erstaunen wiederholte Feno die Geste. "Yatiri."
Arniri strahlte. "Kitsune kenen Gentry." Diesmal führte sie die zusammengelegten Hände zur Stirn. "Arniri Aseret Gentry."
Feno tat es ihr wieder nach. "Fenyro kolfa Minsaj Kitsune." Er wandte sich an Emm. "Du fängst ja früh an mit deinen Wächter-Pflichten."
Emm kicherte. "Arniri kam von alleine her. Was glaubst du, wie doof ich geguckt habe, als mein Spiegel plötzlich Tirili sagte. Ich wußte ja nicht, dass das ein Gruß ist."
"Ja, aber irgendwas stimmt nicht. Arniri ist kaum zu verstehen."
"Tor brocken", erklärte Arniri. "Einziges Tor Bulben."
Feno nickte ernst. "Das ist natürlich ein Problem, wenn euer einziges Tor kaputt ist. Du bist sehr mutig, dass du das Tor trotzdem benutzt hast. Du hättest wer weiß wo landen können."
"Ja. Müsen sucken."
"Liegt das am Tor, dass sie so komisch spricht?" fragte Emm.
Feno bestätigte das. "Beim Durchgang wirst du angepaßt, damit du die Sprache der Dimension verstehst und ihre Luft atmen kannst. Ein kaputtes Tor kann das natürlich nicht. Arniri wurde nicht vollständig transferiert und das wirkt sich eben so aus."
"Und wie kann man das heilen?"
"Hier gar nicht. Aber beim Durchgang durch deinen intakten Spiegel wird das repariert." Feno wandte sich an Arniri. "Wo wolltest du überhaupt hin?"
"Eblis. Wolen Sito s-precken."
"Das paßt, da wollen Emm und ich auch hin." Feno ging zum Spiegel, strich kurz mit der Hand über die Fläche und streckte Arniri die andere Hand entgegen. "Kommt mit!"
"Äh", Emm war verunsichert. Schließlich war auch sie noch nie bewußt durch einen Spiegel gereist. Mit der Scheibe war sie eher durchgefallen, ohne zu verstehen, was eigentlich passiert war. Und zurück in ihr Zimmer war sie dann schlafend auf Fenos Armen gelangt.
Arniri nahm Fenos Hand und gab ihr die andere. "Kom. Habe auk Angst", gab sie lächelnd zu.
Emm grinste zurück und nahm Arniris Hand. Und dann traten sie durch den Spiegel.
Emm hatte erwartet, dass sie direkt durchfallen und in Eblis herauskommen würden. Stattdessen fand sie sich in einem Tunnel ohne Ausgang wieder. Sie blickte zurück. Auch hinter ihr war nur eine dunkle Wand, ihr Zimmer war verschwunden.
"Das ist der Raum zwischen den Welten", erklärte Feno. "Wer sich da nicht auskennt, kann sich leicht verirren."
"Aber die Scheibe brachte mich doch direkt hin?" wunderte sich Emm.
"Ja, aber die ist auch darauf eingestellt, dich an einen ganz bestimmten Ort zu bringen, der nicht einmal ein Tor sein muß. Die Torspiegel hingegen sind in diesem Tunnelsystem verankert und wer hindurchgeht, muss den richtigen Ausgang finden können."
"Und woran siehst du das?" fragte Emm. Feno ging gelassen einige Schritte vor und bog dann rechts ab. "Ich rieche es. Arniri wird es fühlen. Wie du es erkennst, werden wir sehen, wenn du deine Ausbildung hast."
"Da Tor", sagte Arniri und deutete nach vorne.
Feno nickte. "Ja, aber nicht Eblis. Kommt mit." Er zog die Mädchen hinter sich durch einen weiteren Tunnel links. Sie kamen an drei Öffnungen vorbei, die vierte nahm Feno dann und bog schon nach einem Schritt wieder rechts ab. Nun standen sie vor einer Wand.
"Tor", sagte Arniri. "Kann füllen. Ist warm. Aber zu."
Feno legte die Hand auf die Wand und die verfärbte sich silbern. Emm sah einen Spiegel vor sich, der ihr viele weitere Spiegel zeigte. "Was ist das?"
"Unser Torraum. Kommt." Feno trat durch den Spiegel und die Mädchen folgten ihm.
Sie standen in einem Raum voller Spiegel. Emm sah nun, dass die Spiegel nicht im Torspiegel gewesen waren, sie hatte nur einen Blick in den Raum werfen dürfen, in dem das Tor stand, sozusagen aus dem Spiegel heraus.
Der Torraum bestand komplett aus schwarzem Marmor. Drei Wände waren vollgestellt mit verschiedenartigen, aber mindestens mannshohen Spiegeln. In der vierten Wand war eine sehr massive Tür eingebaut. Möbiliert war der Raum überaus spärlich, neben der Tür stand ein Schreibtisch mit Stuhl, daneben zwei runde, hohe Sitzkissen.
Tenyve erhob sich von einem dieser Kissen, als sie eintraten. "Hau, Emm", begann sie und stockte dann. "Wen habt ihr denn da mit?"
Am Schreibtisch hatte ein junger Kitsune gesessen, der sich jetzt erhob, mit einem Handgriff die Tür zuschmetterte und fast gleichzeitig sein Schwert zog. "Eine Elbin ist nicht angemeldet!" sagte er finster.
Arniri machte sofort wieder ihre Begrüßungsgeste. "Tirili?"
"Nix Tirili", entgegnete der Kitsune energisch. "Erst will ich wissen, was du hier willst."
"Unser Torspiegel funktioniert nicht mehr richtig und das Phonoflex geht schon lange nicht mehr", erklärte Arniri hastig. "Ich konnte mich nicht anmelden und die Ältesten hätten mir das auch nicht erlaubt. Aber jemand muss unsere Verschwundenen suchen, weil Oryson verschollen ist und die Runen gaben mir recht, ich brauche nur die Kraft und die Augen. Ich habe sie mitgebracht, ihr könnt sie überprüfen." Das alles kam in einem solchen Wortschwall heraus, dass Emm sie nur verdutzt anstarren konnte. Auch Arniri bemerkte jetzt, was sich verändert hatte. "Ich kann wieder richtig sprechen!" jubelte sie. "Danke dir!" Sie flog dem verdatterten Feno um den Hals und küßte ihn auf beide Wangen.
Emm hätte es nicht geglaubt, aber auch Kitsunen konnte man sprachlos machen. Den drei Fuchsgeistern blieb die Sprache weg, erst nach einer Weile fragte der Kitsune mit dem Schwert trocken: "Geht das auch ein bißchen langsamer für die kleinen doofen Männlein in der Ecke? Auch Elben sollten wissen, dass man uns alles dreimal sagen muss." Er war offenbar zu dem Schluß gekommen, dass von Arniri zumindest keine unmittelbare Gefahr ausging, denn er legte das Schwert auf den Tisch und setzte sich wieder. Die Tür hielt er jedoch weiterhin verriegelt.
"Setz dich", lud Tenyve sie ein und deutete auf das Sitzkissen, das Arniri auch prompt annahm. "Und dann erklär mal alles von Anfang an." Sie offerierte Emm das zweite Kissen und schwang sich selbst auf den Tisch. Feno lehnte sich gegen die Tür, als wolle er sie bewachen.
Arniri seufzte. "Ich bin eine Gentry-Elbe", begann sie.
"Das ist uns aufgefallen", bemerkte der Kitsune.
"Laß sie ausreden, Tennao", bat Tenyve besänftigend.
Arniri holte Luft und begann von neuen. "Ich bin aus Bulben. Nicht vom Berg", wandte sie sich an Emm. "Als wir flohen, zeigten uns die Tuatha aus Eirennach eine ungenutzte Dimension, die unserer Heimat ähnelte und wir zogen ein und nannten sie nach unserem Berg. Die meisten von uns wollen ihre Ruhe haben, darum kümmerten sie sich nicht um die Spiegel. Aber Oryson ging vor einigen Jahren durch den Spiegel, weil er diejenigen unseres Volkes suchen wollte, die es nicht nach Bulben geschafft haben. Bis heute kam er nicht wieder. Meine Großmutter befragte die Runen, als ich ihn suchen wollte und sie meinte, sie würden darauf hinweisen, dass tatsächlich ich gehen müßte, mit zwei Gefährten. Ich habe das Runenbild dabei, das sie warf, damit ihr es auch noch einmal auswerten könnt. Ich wollte euch um Hilfe bitten bei der Suche."
Tennao holte aus einer Schreibtischschublade eine Achatscheibe hervor, oval und an der längsten Stelle gut 20 cm im Durchmesser. Durch diese Scheibe hindurch blickte er Arniri einen Moment lang an, dann nickte er. "Du sprichst die Wahrheit." Er stand auf und stellte sich vor Arniri hin, die Hände zusammengelegt vor der Brust.
Arniri sprang sofort auf: "Tirili?"
"Yatiri", erwiderte Tennao diesmal. Emm verfolgte die Begrüßung und ihr fiel auf, dass Tennao sich als "Tennao Aural Kitsune" vorstellte. "Kein Verwandter?" fragte sie.
"Doch, ein Kusin", erwiderte Feno und löste sich von der Tür. Offenbar vertraute auch er nun Arniri mehr.
"Du hast doch gesagt, die Sprache wird sozusagen übersetzt, wenn man durch die Spiegeltunnel geht", fiel es Emm ein. "Warum wird die Begrüßung nicht mit übersetzt?"
"Das ist eine sehr gute Frage, Menschenmaid", sagte eine tiefe, raue Stimme. Emm fuhr herum.
Aus einem der Spiegel - nicht der, aus dem sie gekommen waren - stieg ein Mann heraus. Wie die anderen Kitsune trug er Sandalen, eine weite Hose und einen gegürteten Kasack. Sein Kittel jedoch war dunkelblau und an Hals und Ärmeln bestickt, zudem länger als die der anderen, er reichte fast bis an die Knie. Sein schwarzsilbernes Haar bildete 5 offene Zöpfe, seine Augen waren wie Fenos und Tenyves goldbraun, mandelförmig und mit sehr dichten, dunklen Wimpern umrahmt. Sie blickten freundlich und offen drein und Emm vertraute ihm sofort.
"Was machst du hier?" fragte Tenyve und der Mann lächelte. "Wenn ihr die Tür verschließt, ist es doch klar, dass ich nachsehen gehe. Was nicht heißen soll, dass ich dir nicht vertraue", wandte er sich an Tennao, der sich sichtlich verkrampft hatte, als der Mann eintrat. "Reine Neugier, nichts weiter."
Tennao entspannte sich merklich. "Die Elbin war nicht angemeldet", erklärte er.
"Und du hast gleich den Raum versperrt, das war genau richtig", lobte der Mann und Tennao lächelte ein wenig. "Und ihre Angaben überprüft." Er sah Arniri einen Moment lang an und nickte dann. "Eine Anwärterin auf Wanderschaft", meinte er zu Tennao. "Wir können sie mit Emm zusammen prüfen." Nun sah er Emm an. "Ich nehme an, das bist du. Ich bin Sito, der Vater von Tenyve und Fenyro."
"Hallo", Emm reichte ihm die Hand, die er nach kurzem Zögern auch nahm. Dann schlug er vor: "Laßt uns in mein Besuchszimmer gehen, dort ist es gemütlicher. Du auch, Tennao, sende bitte einen Ersatz her." Tennao nickte, öffnete die Tür und sauste davon. Die übrigen folgten Sito durch einen Flur und ein Treppenhaus. Emm sah keine Fenster und die Wände bestanden aus schwarzem Stein. Der Fuchshügel schien in den Felsen gehauen worden zu sein. Die Gänge waren hoch genug für Menschen, oben abgerundet und auch die Wände waren nicht völlig glatt. Dadurch wirkte der Bau fast wie eine natürliche Höhle und so mochten es die Füchse vermutlich. Emm fiel auch auf, dass die Stufen recht flach waren, wohl auch, damit sie sowohl von Menschen als auch von Füchsen gut bewältigt werden konnten.
Im Übrigen war es keineswegs dunkel im Bau. In regelmäßigen Abständen hingen Papierlaternen an den Wänden und sie erhellten sich, wenn die Gruppe näher kam. So bewegten sich Mensch, Kitsunen und Elbin in einer wandernden Lichtinsel durch die höhlenartigen Gänge.
Sitos Besuchszimmer war ebenfalls mit diesen Lampen ausgestattet, doch sie blieben dunkel, als sie eintraten. Es war auch nicht nötig; die Wand gegenüber der Tür bestand fast vollständig aus einem glasreinen, grünen Material, das Emm an alte Kirchenfenster erinnert. Sie konnte wie durch ein nicht sehr gut geputztes Fenster hindurchsehen und das Licht strahlte herein und füllte den Raum. In der Mitte stand ein niedriger, großer Tisch und um ihn herum eine Unmenge von Kissen, kleine, große, runde, quadratische, weiche und feste. Sito kniete sich auf eines davon und bedeutete seinen Gästen, sich ebenfalls zu setzen.
"Wie in Japan", platzte Emm heraus und Sito lächelte. "Einige unserer Vorfahren haben lange in Japan gelebt und von dort einiges mitgenommen."
Er wandte sich an Arniri. "Du hast Runen erwähnt?"
Arniri nickte und zog irgendwo aus ihren grünen Schleiern ein Stück Leder heraus. Sito legte es auf den Tisch und studierte die aufgemalten Zeichen, während Tennao leise hereinkam und sich auf eines der Kissen kniete. "Wie hat das deine Großmutter gedeutet?" erkundigte er sich schließlich.
Arniri zitierte: "Viele noch sind verloren und müssen gefunden werden. Einer, der ging, ist verschollen und braucht Hilfe. Jene, die suchen, sind Kinder, die das Wissen besitzen. Eines hat die Magie, eines Kraft und eines das Auge. Drei ist die magische Zahl."
"Hm", Sito unterzog die Zeichen einer erneuten Untersuchung. "Meine Deutung lautet: Die Verschollenen werden vermißt. Hilfe bringen jene, die noch lernen und ihr Wissen erweitern. Sie haben die Magie, die Stärke und den Blick und zusammen werden sie viel erreichen."
"Aber ist das nicht das gleiche, was meine Großmutter sagte?" fragte Arniri.
"Nein, ist es nicht", widersprach Emm sofort und biß sich dann auf die Lippen. Ausgerechnet sie, die am wenigsten von Magie und Runen wußte, wagte hier eigene Prognosen!
Aber Sito lächelte sie nur strahlend an. "Emm, fürchte dich niemals davor, deine Meinung zu äußern. Denn sowohl die Runen als auch Feno sprachen wahr."
"Ich sagte doch, sie hat den Blick für das Wesentliche", erklärte Feno stolz.
"Emm", bat Sito sie nun. "Erkläre uns die Unterschiede, die dir auffielen."
Emm wurde rot, als alle sie gespannt ansahen, zögerte jedoch nicht mehr. "Sito sagte nicht, die Verschollenen müßten unbedingt gefunden werden, nur dass sie eben vermißt werden. Und dass da geholfen werden kann, aber das könnte ebenso heißen, dass diejenigen, die die anderen vermissen, Trost finden werden. Es muss nicht bedeuten, dass alle Gentry tatsächlich gefunden werden. Dann meinte Arniris Oma, die Hilfe käme von Kindern, Sito sprach aber von Wesen, die noch lernen. Auch Erwachsene müssen oftmals noch lernen. Mein Vater sagt immer, man lernt nie aus und wenn doch, ist man geistig tot."
Sito nickte anerkennend und ermutigt fuhr Emm fort: "Arniris Oma sagte, die Hilfe bringenden - ich weiß nicht, wie ich sie sonst nennen soll - hätten bereits das Wissen, Sito sagte, sie werden bei der Suche das vorhandene Wissen - und das kann viel oder wenig sein - erweitern, also das Wissen erst erwerben. Und Sito sagt, dass diejenigen, die suchen, drei Fähigkeiten haben. Arniris Oma meint aber, dass es darum auch drei sind, die suchen und jeder eine Fähigkeit von diesen dreien hat. Aber beide meinen wohl, dass diese drei Fähigkeiten zusammenwirken müssen."
"Das hast du sehr gut erkannt", lobte Sito sie. "Die Runendeutung hängt auch stark vom Deuter selbst ab. Ich bin neutral, Arniris Großmutter nicht. Da sie ihre Enkelin vor sich hatte und natürlich ihre Leute wiederhaben möchte, fiel ihre Interpretation verständlicherweise etwas anders aus als meine. Allerdings ist sie die fähigere Runenleserin." Er wies auf die Runen. "Aber in einer Sache stimmen wir überein. Die drei Runen, welche die Fähigkeiten anzeigen, liegen alle drei ziemlich weit unten. Das Auge und der Stab - stellvertretend für Zauberkraft - befinden sich auf der linken, der weiblichen Seite, die Hand ist weiter oben und rechts. Das kann, muss aber nicht auf zwei Mädchen und einen etwas älteren Jungen hinweisen." Er blickte die beiden Mädchen an. "Wie alt seid ihr?"
"Vierzehn", sagte Arniri und Emm nickte. "Ich auch."
"Und Fenyro wurde vor 152 Jahren geworfen", stellte Sito fest.
"Naja, das ist ja nur unwesentlich älter", sagte Emm trocken und von Tennao kam ein leises Kichern. Sito hingegen blieb ernst. "Wenn du sein Alter durch zehn teilst, ja, Emm. Kitsunen haben eine andere Lebensdauer als Menschen und Elben."
"Du findest also, die Runen könnten sich auf uns drei beziehen", fragte Feno seinen Vater und der nickte. "Zufall führte euch zusammen. So wirken die Fate oft, darum belassen es wir es gerne bei dem, was scheinbar der Zufall gefügt hat."
"Fate?"
"Parzen, Nornen, Moiren, wie auch immer. Schicksalsfeen", erklärte Feno. "Sie gesehen und ihre Existenz bewiesen hat noch keiner."
Emm schüttelte verwundert den Kopf. "Das hört sich für mich an, als würden Götter andere Götter anbeten."
"Wir sind keine Götter", sagte Sito sanft.
"Nein, aber übernatürliche Wesen."
"Auch das nicht. Wir mögen andere Fähigkeiten haben, aber wir sind alle Lebewesen. Das ist es, worin wir uns gleichen: wir leben. Und das bedeutet, wir werden auch sterben. Das ist Natur und ihr unterliegen wir alle."
Emm nickte beeindruckt. "Dann wäre ich also das Auge? Was bedeutet das?"
"Du bemerkst, was nicht ins Bild paßt", erläuterte Sito. "Das hast du schon bewiesen, als du die Unterschiede zwischen den Runendeutungen erkanntest. Und deine Frage nach den Begrüßungen zeigte es auch auf."
Emm kicherte. "Captain Beckmesser, ich weiß. So nennt mich mein Vater oft, weil ich jede Unstimmigkeit kritisiere. Beckmesser war glaub ich eine Figur in einem Theaterstück, der sich kein Musikstück anhören konnte, ohne zu schimpfen, weil die Trommel eine Sekunde zu früh einsetzte und die Flöte einen Tick zu laut war oder so."
"Sowas kann nerven, aber auch sehr nützlich sein", stellte Tennao fest. "Und bei einem Geschöpf, welches die Dimensionen gar nicht kennt und nichts als das ist eben so hinnimmt, ist das überaus vorteilhaft."
"Also habe ich Gefährten für meine Suche gefunden?" fragte Arniri aufgeregt. "Und einer davon ein Kitsune, das ist sehr gut! Ich glaube, dass er mich gut beschützen kann, er sieht sehr stark aus." Sie lächelte Feno an, der jedoch nur die Schultern zuckte.
Emm hatte bereits die Kitsune miteinander verglichen. Tennao war sehr groß, gut einen Meter neunzig und wie Feno schlank, aber sehr athletisch gebaut. Feno, der jetzt etwa 1,73 maß, würde später wohl auch so groß werden und so breite Schultern haben, dachte Emm. Sito war etwas kleiner als Tennao und stämmiger. Tenyve und auch Arniri, beide schmal und überschlank, wirkten wie Püppchen neben den männlichen Kitsune. Kein Wunder, dachte Emm, dass solch zarte Frauen einen muskelstarken Beschützer suchen. Emm dagegen verließ sich lieber auf sich selbst und ihre Taekwondo-Kenntnisse.
"Gibt es denn Hinweise, wo wir suchen sollen?" fragte sie und Feno lachte. "Sehr praktisch. Arniri, wir sollten uns Emms Führung überlassen, sie hat den besten Sinn dafür."
"Es gibt leider keine Anhaltspunkte", seufzte Arniri. "Ich habe mich bereits darauf vorbereitet, eine Dimension nach der anderen abzusuchen."
"So etwas werden wir Kindern, die noch keine Prüfung bestanden haben, ganz sicher nicht erlauben", sagte Sito streng. "Außerdem wissen wir noch nicht, wie ihr zusammenarbeitet. Und eine dauerhafte Suche ist ohnehin der falsche Weg. Es gibt mehr Dimensionen als selbst ein Kitsune sie in seiner Lebenszeit vollständig absuchen kann."
"Was machen wir dann?"
"Ihr werdet erstmal ausgebildet und einige Prüfungen bestehen", sagte Sito fest. "Und dazwischen euer Leben weiterleben und auf Hinweise achten. Wenn euch eine Fata zusammenführte, wird sie auch darauf achten, dass euch die Zeichen erreichen." Er blickte die drei Kinder an. "Fürs erste werdet ihr den Wettkampf des Grauens bestehen müssen."
"Sollen wir uns gegenseitig erschrecken?" fragte Emm und Feno kicherte. Sito hingegen blieb ernst. "Nein, Emm, es geht darum, sich seinen persönlichen Ängsten zu stellen. Jeder von uns hat andere Dinge, die er fürchtet und das ist auch ganz normal. Ihr stammt aus unterschiedlichen Dimensionen und keiner von euch kennt die Welt, in der die anderen leben. Dort werden Schrecken auf euch warten, die ihr euch nie hättet träumen lassen und die für anderen vielleicht völlig normal sind. Und damit müßt ihr fertig werden. Ob ihr das könnt, das werden wir bei dieser Prüfung sehen. Tennao?"
"Ich hole es", der junge Mann (Emm schätzte ihn auf etwa 20, sprich 200) verschwand.
Sito blickte Emm lächelnd an. "Inzwischen will ich dir die Erklärung geben, nach der du vorhin verlangtest. Beim Gang durch die Spiegel wird zwar die Sprache angepaßt, aber nur, soweit sie sich überhaupt übertragen läßt. Namen zum Beispiel werden ausgeschlossen, da die Bedeutung nicht einwandfrei übersetzt werden kann. Mit Grüßen ist es ähnlich. Du sagst Hallo. Was meinst du damit, Emm? Was bedeutet das?"
"Ohje, das sagt man halt so." Emm dachte nach. "Ich glaube, es war mal eine Art Anruf, wie wenn man auf Wache steht und bemerkt, dass sich einer nähert. Also so in der Art: Ich bin hier, wer bist du? Das hat sich aber bei uns zu einem lässigen Gruß entwickelt, den vor allem Freunde und gute Bekannte nutzen. Wir haben auch andere Grüße, zu den Lehrern sage ich brav Grüß Gott und als meine Kusins ankamen, um eine Weile bei uns zu leben, habe ich Willkommen bei uns gesagt."
Sito nickte. "Verschiedene Grüße für verschiedene Gelegenheiten, das ist sehr gut. Emm, wir sagen Hau, wenn wir jemandem begegnen. Hast du schonmal einen Fuchs bellen gehört?"
"Ja, einmal. Er hat sich furchtbar aufgeregt und immer wieder hauhauhau gerufen, ist aber nicht weggegangen. Mein Vater sagte damals, wir sind wohl in der Nähe seines Baus und als wir uns entfernten, hat sich der Fuchs beruhigt."
"Womit du unseren Gruß erklärt hättest", Sito lachte leise. "Dieses anhaltende Bellen bedeutet tatsächlich, geh weg, das ist mein Revier. Ein einzelnes Hau ist aber nur eine erste Warnung. Man könnte es mit: Hier ist mein Gebiet, du darfst es betreten, aber wehe, du benimmst dich nicht übersetzen.
Dormin und Luy sprachen dich mit Karkar an. Das ist ein altes Wort in ihrer Sprache für weiß, für das Weiße und Kalte wie Schnee. Karkar als Gruß läßt sich also als Ich wünsche dir immer Schnee unter den Füßen übersetzen. Tatsächlich sind die beiden Sommermonate in Allendun eine Qual für die meisten Lebewesen dort, weil alle Wege verschlammt und kaum passierbar sind.
Arniri begrüßte dich mit Tirili?. Damit fragte sie dich, ob ihr beide Frieden schließen wollt. Die Antwort darauf ist Yatiri, das ist Zustimmung. Man könnte es auch mit gut, laß uns Freunde sein erklären."
"Ach, und deshalb sagte Tennao erstmal Nix Tirili. Er traute Arniri noch nicht und wollte nicht voreilig etwas versprechen."
"Ganz genau. Oh, danke Tennao", Sito nahm den Stab entgegen, den ihm der junge Krieger reichte, verschob einige der dort angebrachten Ringe und berührte dann die drei Jugendlichen damit. "So, das stellt sicher, dass ihr in den nächsten Stunden einigen eurer persönlichen Schrecken begegnen werdet."
"Und wie?" erkundigte sich Emm sofort. "Sollen wir auf sie warten oder sie aufsuchen?"
"Sie werden euch finden", versicherte Sito und blickte seinen Sohn an, der nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen hatte. "Was überlegst du?"
Feno schnitt eine Grimasse. "Ich überlege, wovor ich eigentlich Angst habe."
Sito lächelte. "Wenigstens sagst du nicht gleich, du hättest vor nichts Angst, das ist gut."
"Ich glaube, jemand der nichts fürchtet, wäre auch ein Monster", murmelte Arniri. Emm nickte zustimmend. "So jemand hätte überhaupt keine Hemmungen."
"So jemand nennen wir einen ..." Feno brach ab, als ihn Sitos Blick traf. Emm konnte sich allerdings denken, was Feno hatte sagen wollen. Das war wohl eine Angst, die alle Kitsunen teilten - dass jemand von ihnen, vielleicht sogar sie selbst zu einem Nogitsune werden könnte.
"Wenn ihr durch die Welten reisen wollt, müßt ihr ausgerüstet sein", erklärte Sito nun. "Eure erste Aufgabe wird also sein, euch nützliche Gegenstände aus euren drei Welten zu beschaffen. Beziehungsweise erst aus zweien, denn Bulbens Tor müssen wir erst reparieren."
"Schaffen wir das bis sieben Uhr?" fragte Emm und Sito schmunzelte. "Es ist eure Zeit. Ihr könnt jederzeit abbrechen und am nächsten Tag weitermachen. Tennao wird euch jedoch begleiten. Es könnte sein, dass ihr einer Angst begegnet, die ihr alle drei teilt und der ihr euch nicht stellen könnt."
"Warum gerade er?" fragte Emm. "Nicht dass ich etwas dagegen hätte, ich bin nur neugierig."
"Das hat Sito doch gerade erklärt", meinte Feno. "Er hatte Wache, als wir kamen. Wir halten viel vom Zufall, mußt du wissen."
"Achso, weil der Zufall auch Schicksal sein könnte", Emm grinste. "Ich glaube, ich verstehe eure Denkweise allmählich besser."
"Wenn du dich in einen Kitsunen hineindenken kannst, hast du mehr erreicht als je ein Wanderer oder Wächter zuvor", sagte Feno trocken.
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