10-3 Immer Ärger mit den Kids
Vermutlich gibt es überall Personen, die sich das Recht nehmen, über alles und jeden zu urteilen und zu verfügen, was jetzt geschehen soll. Häufig treten sie mit einer solchen Selbstsicherheit auf, dass man zunächst zu verblüfft ist, um sie in ihre Schranken zu verweisen. Und hat man erst einmal nachgegeben, treten die Leute wieder und wieder nach. Vollkommen unbeeinträchtigt von der Tatsache, dass die Angelegenheit sie selbst eigentlich gar nichts angeht oder sie weder die Befugnis noch die Kompetenz besitzen, um hier zu urteilen.
Früher habe ich mich auch oft ins Bockshorn jagen lassen von solchen Menschen. Und erst hinterher fiel mir dann ein, was ich eigentlich hätte sagen sollen. In der Realität hat man meist nicht die Zeit, um eine angemessene Reaktion zu finden. Das ist beim Schreiben anders. Protagonisten fällt es leicht, schlagfertig zu sein, denn hinterher bemerkt kein Leser mehr, wie lange der Autor für eine passende Erwiderung gebraucht hat.
„Tennis!" Kattra zappelte in Arniris Armen und strebte in Richtung ihrer Mutter, die gerade die Terrasse betrat. Rasch nahm diese ihre Tochter auf. „Wie wars?"
„Guuut! Emm ist lustig und macht schönes Hmmmm!"
Tendris lachte. „Hat sie Musik gemacht? Ja, das kann sie gut."
„Ihr tut so, als wäre das etwas Besonderes", wehrte Emm verlegen ab.
„Hier ist das auch etwas Besonderes. Die wenigsten von uns können singen oder musizieren. Wir Kitsunen schon mal gar nicht und auch die meisten Völker, die hier leben, neigen eher zum Handwerk als zur Kunst."
„Das ist das Besondere an euch Menschen", stellte Inari fest. „Ihr seid in keinem Bereich so überragend wie die anderen Völker. Aber ihr habt Talent – mehr oder weniger – sowohl zu Kunst und Handwerk als auch zu Technik, Wissenschaft und Magie."
„Wenn auch nicht viel", Nathe trat zu ihnen. „Von allem etwas, aber nichts richtig, sagen wir bei uns." Sie nahm Fenos Reh auf und betrachtete es. „Ganz nett. Die typische Arbeit eines Minderbegabten. Jemand mit größerer Macht hätte den ganzen Stein geschmolzen, aber wer nur geringe Kraft hat, kann einzelne Körnchen schmelzen und neu fügen. Wie man sieht, ist auch schwache Magie manchmal von Vorteil."
Emm blickte wütend auf, als die Lenkerin von Dray Fenos Arbeit so geringschätzig abtat und sah direkt in die Grimasse eines Mannes hinter ihr. Der Reinecke trug eine Tunika aus einem braunschimmernden Stoff, welche auf halber Höhe der Oberschenkel endete und von einem gut bestückten Waffengurt zusammengehalten wurde, dazu einfache Sandalen. Sein rotes Haar war oben kurzgeschnitten, hinten jedoch zu einem langen Zopf zusammengebunden und seine dunklen Augen blickten wütend. Offenbar waren nicht alle Reinecke-Männer so gefügig, wie Nathe das gerne gesehen hätte, dachte Emm grinsend.
„Mit Verlaub, das ist meins", Rhys nahm Nathe das Reh aus der Hand und wickelte es sehr sorgfältig in Arniris Felle ein. Dann verstaute er seine Habseligkeiten in seinem Sack, schulterte diesen und ging, ohne sich zu verabschieden. Der Leprechaun hielt wirklich nichts von unnützen Worten, dachte Emm.
Nathe offenbar auch nicht. Sie wandte sich an die drei Gefährten und fragte rundheraus: „Wer von euch hat im Geist dieses Menschen herumgepfuscht?"
Alle drei sahen die Reinecke verdutzt an. Emm erholte sich als erste. „Sowas können wir gar nicht! Und warum sollten wir das tun?"
Nathe zuckte die Achseln. „Angabe? Selbstüberschätzung? Was weiß ich, was in euch Kindern vorgeht? Jedenfalls ist dem Geist dieses Mannes nicht mehr zu entnehmen, wie er die Dimensionen wechseln konnte. Die Fähigkeit dazu hat er nicht, es muß ihm jemand geholfen haben. Und was das nicht-Können anbetrifft – ich wurde bereits informiert, dass du", sie fixierte Feno, „keinerlei Skrupel hattest, im Geist deiner eigenen Partnerin zu stümpern. Wieviel weniger also bei einem Menschen, der dir egal sein kann. Die kleine Hexe", ein vernichtender Blick traf Arniri, „hat dir dabei geholfen – auch sie kann so etwas. Und das Menschenmädchen wehrte mein Tasten vorhin gekonnt ab und leugnet jetzt, solche Kräfte zu besitzen."
„Ich habe auch keine Kräfte", widersprach Emm.
„Sie ist sich ihrer noch nicht bewußt", erklärte Feno ruhig und trat neben seine Gefährtin. „Wenn sie das Abtasten abgewehrt hat, geschah das unwillkürlich und bedeutet nicht, dass sie diese Kraft steuern könnte."
Emm blickte ihn verblüfft an und der Kitsune grinste. „Ich spüre sowas, weißt du." Dann wandte er sich an Nathe. „Was ist überhaupt das Problem, erfahren wir das auch mal, bevor wir hier einfach beschuldigt werden?"
Ein flüchtiges Lächeln flog über das Gesicht des männlichen Reineckes. Nathe hingegen wurde wütend: „Was erdreistest du dich eigentlich?"
„So einiges", griff Inari ein. „Nathe, meinen Sohn wirst du so schnell nicht einschüchtern. Und denk bitte daran, dass Rüden bei uns durchaus ein Mitspracherecht haben!"
Nathe zog verächtlich die Brauen hoch. „Auch so kleine?" fragte sie und blickte zu Feno auf, der sie um gut 15 cm überragte. Emm versuchte verzweifelt, nicht zu lachen, denn es war ja eigentlich klar, dass Nathe von Fenos Alter sprach, nicht von seiner Körpergröße.
Inari ergriff wieder das Wort. „Irgendjemand hat bei Zieger einen teilweisen Gedächtnisverlust verursacht. Weder Nathe noch Yandigo konnten die Informationen wieder herbeischaffen. Wir können also nicht eruieren, wie es Zieger gelang, durch die Tunnel zu kommen und sogar den Knoten zu wechseln. Geschweige denn, wer ihm geholfen hat."
„Das würde bedeuten, sein Komplize hatte Zugriff auf seinen Geist, nachdem wir ihn gefangen haben", sagte Feno erschrocken. „Es ist also entweder jemand aus dieser Dimension oder jemand, der ungesehen hierher kommen kann."
„Oder jemand, dem ihr einfach so vertraut", bemerkte Nathe anzüglich. Inari runzelte verärgert die Stirn, sagte aber nichts. Vondrau hingegen ließ sich prompt provozieren: „Jetzt verurteile ihn doch nicht, bevor wir Genaueres wissen."
„Du vergißt, dass er ohnehin einer der Gründe ist, warum ich heute hier bin", konterte Nathe. „Das ist nur ein weiterer Verdachtsmoment!"
„Gegen wen?" Feno rollte bei Emms Frage nur noch mit den Augen. Wenn der Gefährtin eine Fähigkeit völlig abging, war es die, im rechten Moment den Mund zu halten.
„Es geht um den Wächter auf Allenduns Hauptinsel."
„Dormin?" fragte Emm entsetzt und Nathe war verblüfft: „Du kennst ihn?"
„Und ob! Und ich glaube nicht, dass Dormin etwas Böses tun würde!"
Typisch Emm, dachte Feno schmunzelnd. Immer mit dem Mundwerk vorneweg, aber auch immer bereit, für ihre Freunde einzustehen. Er stellte sich dicht zu ihr und bemerkte, dass Arniri das gleiche tat. Sie waren ein Team und wenn sich einer von ihnen mit einer so mächtigen Reinecke anlegte, dann würden sie eben zusammen in den Nesseln sitzen, basta.
„Dir ist aber bewußt, dass Dormin ein Ork ist?" fragte Nathe.
Zu seiner eigenen Überraschung antwortete diesmal Feno: „Was bitte hat das damit zu tun?"
„Diese Kinder sind reichlich naiv", wandte sich Nathe an Inari. „Hast du sie noch nicht aufgeklärt?"
„Über die verschwundenen Kinder noch nicht", gab Inari zurück. „Die Vorurteile gegen Orks kennt zumindest Fenyro, aber er teilt sie ebensowenig wie ich."
Nathe runzelte die Stirn. „Und du bestehst immer noch darauf, diese renitente Gruppe mitzunehmen?"
Inari nickte nur. „Ich habe das Gefühl, dass sie einiges aufklären können, ja. Die Kinder kommen mit!"
„Gut, daß ich warme Sachen eingepackt habe", meinte Emm, als sie sich umzogen. „Soll ich dir was leihen oder hast du auch was dabei?"
Arniri lachte leise und zog den grünen Pulli und die Steppjacke aus dem Beutelchen. „Das habe ich immer dabei. Und wenn ich den Pu-Li über mein Lederhemd ziehe, ist das sicher warm genug."
Emm lächelte und griff ebenfalls nach dem passenden Pulli und der Jacke in blau. Auch die grauen Jeans zogen die Mädchen an, dazu aber doch lieber die Stiefel, die ihnen Rhys gemacht hatte.
Im Torraum erwarteten sie Nathe, Inari, der zornige junge Reinecke, der Emm aufgefallen war, sowie Feno und Tennao – letztere zu Arniris Entzücken ebenfalls in die „Vierlingskleidung" gewandet. Nathe verzog verächtlich den Mund. „Kinder!"
„Stimmt!", bestätigte Inari gelassen. „Schön, dass sie noch so empfinden." Die Lenkerin selbst war in dickes Lederzeug gekleidet und trug einen Wollüberwurf, Nathe hatte sich in einen dunkelbraunen Pelz mit Kapuze gehüllt. Ihr Begleiter hingegen hatte sich nicht umgezogen. Emm dachte, dass die Kleidungsstile, die sie in den einzelnen Dimensionen fand, wirklich keinem irdischen Standard entsprachen. Nathes Kleid hatte sie an den Modestil erinnert, der Audrey Hepburn so wunderbar gestanden hatte, die Tunika ihres Begleiters war eher im Stil eines römischen Sklaven gehalten. Emm lächelte innerlich bei dem Gedanken, dass in den meisten Fantasyfilmen, die sie gesehen hatte, die Macher sich an strikt an einem Kleidungsstil aus der Vergangenheit orientiert hatten, in der Regel Hochmittelalter. Die Wirklichkeit würde diese Leute wohl ziemlich überraschen, dachte Emm.
„Was wollte er eigentlich hier?" erkundigte sich Nathe, während sie durch die Tunnel gingen. Inari schrak aus ihren Gedanken auf, wußte aber gleich, wovon die andere Lenkerin sprach. „Oh, es ging genau um das, was euch auch beunruhigt. Dormin bat mich um ein Ermittlungsteam, weil auch in Allendun Kinder verschwunden sind."
„Seltsamer Zufall. Und du weißt genau, wo er in der ganzen Zeit war, die er im Fuchsbau verbrachte?"
„Nun, fast. Er brachte Fenyro noch einige Bücher vorbei, bevor er zurückging."
Nathe wandte sich an den jungen Kitsune. „Kannst du das bestätigen?"
„Zumindest lagen die Bücher an meinem Bett, als ich ins Zimmer kam", erwiderte Feno.
Nathe schnaubte verächtlich. „Ihr laßt einen Ork unbeaufsichtigt in eurem Bau herumlaufen und verschließt nicht einmal eure Türen?"
Emm hatte genug von der hochnäsigen Reinecke und fiel einige Schritte zurück. Der männliche Reinecke, der sich hinter ihnen gehalten hatte, holte sie nun ein. Emm wandte sich an ihn: „Wie heißen Sie eigentlich? Nathe hat Sie nicht vorgestellt. Ich bin übrigens Emm."
Der junge Mann sah sie verblüfft an, dann antwortete er mit einer dunklen, angenehmen Stimme: „Ich heiße Ilossa. Und ich muss nicht respektvoll angesprochen werden. Ich bin nur ein Ausführer."
„Ein was?"
„Jemand, der lediglich Befehle ausführt", erklärte Vondrau und griff nach oben, um die Fäustchen seiner Tochter aus seinen Haaren zu lösen. Emm wurde sich bewußt, dass die Tunnel hoch genug waren, um Kattra ohne Anstoßen auf den Schultern ihres riesenhaften Vaters reiten zu lassen. Zuvor waren ihr die Tunnel niedriger vorgekommen.
Vondraus Aussage interessierte Emm jetzt allerdings mehr. Sie runzelte die Stirn. „Meinst du einen Sklaven?"
„So in etwa", bestätigte der Werwolf und der Reinecke schnitt eine wütende Grimasse. Offenbar gefiel ihm diese Tatsache nicht so besonders.
Dormin empfing sie erfreut. „Schön, dass ihr so schnell gekommen seid!"
„Dann warte mal ab, wie lange du dich darüber freust!" schnappte Nathe und Dormin sah sie verblüfft an. „Mit Euch habe ich eigentlich nicht gerechnet. Sind im Dray-Knoten auch Kinder verschwunden?"
„Ich glaube, das weißt du am besten!"
„Können wir vielleicht erstmal in Ruhe besprechen, was überhaupt vorgefallen ist?" Vondrau kam gebückt aus dem Spiegel und setzte Kattra auf dem Boden ab.
Dormin nickte und ging zum Regal, um Krüge und Becher zu holen. Nathe trat indessen zu einem der Fenster und sah hinaus. „Was ist das?" rief sie verblüfft aus.
Emm blickte ebenfalls hinaus und grinste, als sie die Felder und Plantagen entdeckte. Die Pflanzen waren durchscheinend weiß, irisierend gelb oder schimmernd grün, aber dennoch als Ananas, Mangos, Papaya, Orangen und Melonen erkennbar. Dezor hatte doch gemeint, dass er gut mit Pflanzen umgehen könne; offenbar hatte er die Samen in Rekordzeit zum Wachsen gebracht. Jetzt verstand Emm auch, warum Dormin sie nie um Nachschub von Südfrüchten gebeten hatte.
Vondrau warf ebenfalls einen Blick hinaus und lachte auf. „Also da sind sie abgeblieben!" Er wandte sich an seine Schwiegermutter. „Weißt du noch, die Meldung der Ufitis, dass ihnen zwei Verbrecher abhanden gekommen seien? Offenbar haben sie eine Möglichkeit gefunden, hier zu überleben. Das sind die Nahrungsmittel, die sie brauchen, angepaßt an Allenduns Klima."
„Aber eine solche Macht haben Ufitis doch gar nicht", wunderte sich Tendris und Inari lächelte. „Die nicht. Aber immerhin lebt hier auch eine Yuki-Onna."
Nathe musterte Dormin streng. „Du bietest also auch noch Verbrechern Unterschlupf?"
Als Dormin etwas sagen wollte, trat Inari dazwischen. „Diese Sache geht ohnehin nur unseren Knoten etwas an. Und ich habe schon damals, als die Meldung kam, beschlossen, die beiden nicht zu verfolgen. Es handelt sich um ein kleines Mädchen, welches den Menschenbauen zu nahe kam und ihren Vater, der sie nicht töten lassen wollte. Wären sie in Okziram geblieben, wäre das Todesurteil angemessen gewesen; da sie jedoch durch ihre Flucht verhindert haben, dass sie jemals wieder den Menschen unter die Augen kommen, handelt es sich nur noch um ein Vergehen, welches nicht weiter verfolgt wird."
„Wenn ich das gewußt hätte!" rief Emm und Inari wandte sich ihr schmunzelnd zu. „Ich verstehe. Es hätte mich auch gewundert, wenn die beiden bei ihrer überstürzten Flucht so viele Samen hätten mitnehmen können."
Emm wurde rot, als ihr aufging, dass sie sich selbst verraten hatte. Nathe musterte sie streng. „Inari, ist dir bewußt, dass dieses Mädchen deinen eigenen Sohn dazu gebracht hat, dich zu belügen?"
„Er wußte gar nichts davon", beteuerte Emm erschrocken. Feno trat zu ihr. „Stimmt, aber wenn, hätte ich Inari nicht mitgeteilt, wo die beiden sind, bevor ich nicht sicher gewesen wäre, dass ihnen keine Hinrichtung mehr droht."
„Ich ebenfalls!" Arniri trat zu den Gefährten. Ihrer Miene war zu entnehmen, dass sie nicht alles verstanden hatte, ihr das aber auch egal war. Feno hingegen schien mit dem schnellen Denken der Kitsunen bereits alles erfaßt zu haben.
Dormin trat jetzt an seinen mächtigen Schornstein und zog an einer Schnur. „Ihr werdet die beiden gleich kennenlernen und könnt euch selbst ein Bild von ihnen machen", wandte er sich an die beiden Lenkerinnen.
„Komm", Inari faßte Nathe am Ellbogen und drängte sie sanft, sich zu setzen. „Laß uns erstmal Dormins Tee genießen, bevor wir uns wieder ernsteren Dingen zuwenden."
Da strahlte der Ork. „Ich habe sogar etwas Neues", verkündete er und holte eine Schale herbei, in der etliche kräutergefüllte Beutelchen aus feinem Stoff lagen. „Ihr taucht sie einfach in heißes Wasser, so kann jeder den Tee bekommen, den er vorzieht."
„Das ist eine schöne Idee!" Inari griff sofort zu den Beuteln und schnupperte an ihnen, bevor sie einen auswählte. Nach einem Moment des Zögerns tat Nathe es ihr gleich, während Dormin den offenbar stets bereiten Wasserkessel vom Feuer holte.
Feno begutachtete die Krüge und goß dann Milch aus einem von ihnen ein. Einen Becher schob er zu Kattra, dann sah er seine Gefährtinnen an. „Auch Renmilch? Oder mögt ihr lieber Tee?"
Vondrau hielt dem Schwager seinen Becher hin, Ilossa und Arniri ebenfalls, während Emm und Tendris sich durch die Teebeutel schnupperten. Dormin war fleißig gewesen und ganz offensichtlich hatte ihm die Idee mit den Teebeuteln bestens gefallen.
Im Vorraum erklang jetzt Schleifen und Stampfen und ein frischer Luftzug kam herein. Dann kamen Dezor und Aiwa durch den Vorhang und schüttelten sich im Gehen noch die letzten Schneereste ab.
Dezor blieb wie angewurzelt stehen, als er die Gäste bemerkte. Aiwa hingegen stieß einen Jubelschrei aus und kletterte unbefangen neben Emm auf die Bank. „Emm, Emm, hast du wieder deinen Musikkasten dabei?"
„Meine Gitarre? Nein, leider nicht", bedauerte Emm.
Kattra tauchte mit einem prächtigen Milchschnurbart aus ihrem Becher auf. „Emm macht schön Hmmmm!" erklärte sie.
„Ja", stimmte Aiwa sofort zu. „Emm kann ganz toll Musik machen!"
„Setz dich, Dezor", Dormin wies auf den freien Platz zu seiner Rechten und schenkte eine goldene Flüssigkeit aus einem anderen Krug ein. „Und mach dir keine Sorgen, du wirst nicht in Fesseln nach Okziram zurückgeschleift."
Zögernd setzte sich Dezor zu den anderen. Inari blickte ihn aufmerksam an und lächelte. „Ein Schnee-Ufiti? Bei euch hatte Luy wohl auch die Finger im Spiel?"
„Ja, sie wandelte uns soweit in Yetis, dass wir hier überleben können", antwortete Dezor vorsichtig.
„Und wohl auch die Samen für eure Nahrung. Wer von euch ist der Erdmagier, der die Pflanzen so schnell wachsen lassen konnte?"
„Ich", gab Dezor zu. „Ich kann gut mit Pflanzen umgehen."
„So könnte mans wohl auch sagen, wenn man Samen innerhalb weniger Tage zur Ernte bringt!" Emm warf Dezor einen amüsierten Blick zu und bemerkte dabei, dass mit den beiden Schneeufitis auch ein silberhaariges Mädchen hereingekommen war, das verlegen am Türvorhang stehengeblieben war.
Dormin fiel ihr Blick auf, er drehte sich um und lächelte. „Tjalva, komm her und nimm dir auch einen Tee!"
Daraufhin krabbelte die Kleine auf den Stuhl zwischen Kattra und Aiwa. Auf Emm wirkte sie sehr seltsam, obwohl sie völlig menschlich aussah. Tjalva hatte sehr helle Haut, blaßblaue Augen, eine Stupsnase und kindlich aufgeworfene Lippen. Auch der Körperbau unter Lederhose und Felljacke entsprach der einer Dreijährigen. Tjalva war jedoch größer als Emms Schwester Lis, die demnächst sechs wurde.
„Sie ist eine Jötunn", erklärte Dormin, als ihm Emms verwunderte Miene auffiel. „Eine Frostriesin. Tatsächlich ist sie sechs Jahre alt, das entspricht drei Jahren bei den Menschen. Sie hat sich mit Aiwa angefreundet, meistens ist sie hier oder Aiwa bei Tjalvas Familie."
Nathe zog die Brauen hoch. „Soll das hier eine Spielgruppe werden oder eine ernsthafte Besprechung?" Sie wandte sich an Ilossa. „Sobald die Kinder getrunken haben und Kattra warm angezogen ist, gehst du mit ihnen raus zum Spielen."
Der junge Reinecke nickte nur. Dezor erhob sich. „Ich glaube, wir haben da etwas, was der Kleinen passen könnte." Er ging in den Vorraum und kam bald mit Stiefeln und einem Fellponcho zurück. Die Stiefel paßten, der Kapuzenponcho war ein wenig groß, aber das störte die kleine Kitsune nicht. Kaum war sie angezogen, sprang sie schon auf. „Ich will auch Nee! Vonau hat zuhause Nee und ich nicht!"
Emm sah verdutzt zu Feno und der grinste. „In Funchirasu schneit es so gut wie nie. Und Kattra hört gerne zu, wenn Vondrau von seiner Heimat erzählt – die um einiges kälter ist."
Ilossa sammelte jetzt die drei Kleinkinder um sich und blickte fragend zu den Jugendlichen, doch Nathe winkte ab. „Die brauchen wir noch, aber vielleicht schicken wir sie dir später raus. Bleib also in Sichtweite."
Ilossa nickte und verließ mit den Kleinen das Haus – immer noch in Sandalen und dünner Tunika, wie Emm stirnrunzelnd bemerkte.
Nathe wandte sich gleich Dormin zu, als die Kleinen verschwunden waren. „Was hast du gestern im Fuchshügel getan?"
Der Ork sah verwundert von seiner Teetasse auf. „Ich habe Inari gemeldet, dass in den letzten paar Tagen einige Jötunn-Kinder verschwunden sind. Zuerst glaubten wir, sie hätten sich verlaufen, aber am nächsten Tag fehlten wieder zwei und drei Tage danach wieder eines. Und keines der Kinder ist inzwischen wieder aufgetaucht. Unsere Suchen blieben erfolglos."
„Und das war alles?"
„Was hätten wir sonst tun sollen, außer die Kinder mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu suchen? Mittlerweile lassen wir Kinder bis zu 14 Jahren nicht mehr unbeaufsichtigt und in den letzten drei Tagen sind keine mehr verschwunden."
„Ich meine, war das alles, was du im Fuchshügel getan hast?"
Dormin sah erschrocken zu Inari. „Sag nicht, bei euch sind auch Kinder vermißt worden!"
„Du sollst nicht spekulieren, sondern antworten!" schnappte Nathe.
„Ist das ein Verhör?" erkundigte sich Dormin gelassen.
„Allerdings! Und jetzt zähle mir im Einzelnen auf, wo du warst!"
Dormin blickte sie groß an. „Ihr verhaltet Euch, als ob ich unter Verdacht stünde."
„Das stimmt, Nathe", mischte sich nun Inari ein. „Und vor allem benimmst du dich so, als wäre dies hier dein Knoten. Du bist zu sehr betroffen und genaugenommen ebenfalls eine Zeugin, also laß mich die Verhandlung führen!"
„Inari, wir haben den gleichen Rang, du kannst mir nichts befehlen!"
„Das gilt umgekehrt genauso und wie gesagt, dies hier ist mein Knoten." Inari blieb gelassen, aber ihre Stimme klang fest.
„Und es sind Kinder aus meinem Knoten, die gesucht werden!"
„Nicht nur, wie sich gerade herausgestellt hat. Nathe, trink einfach deinen Tee und rede nur, wenn du gefragt wirst. Ansonsten kannst du – da du mir ja bereits berichtet hast, was bei euch geschehen ist – auch gerne gleich in deinen Knoten zurückkehren."
Nathe starrte verblüfft auf ihre Kollegin, die noch immer ruhig wirkte, aber keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie ihr Hausrecht durchsetzen würde, wenn sich Nathe nicht daran hielt. „Du nimmst dir ganz schön was heraus."
„Wir können gerne das Tribunal entscheiden lassen", entgegnete Inari.
Nathe winkte ab. „Nein, die müssen wir nicht auch noch mit hineinziehen. Also gut, dann machs, wie du es dir denkst, aber wunder dich nicht, wenn du nichts herausbekommst."
Emm tauchte schleunigst in ihre Teetasse ab, um ihr Grinsen zu verbergen und beobachtete dabei, dass nicht nur ihre Gefährten, sondern auch Tendris und Vondrau auf einmal ebenfalls Durst zu haben schienen. Dormin und Dezor hingegen wirkten überaus angespannt.
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