Thirty-Seven | Kerzenlicht | XXXVII
PoV. Leo
'Scott Harvey immer noch nicht öffentlich aufgetreten', lese ich von der Zeitung, welche Nikita in den Händen hält. Ich schnaube und drehe mich weg, jedoch kann ich meinen Schmerz nur so halb verbergen. Die Sonne ist warm. Sommerlich warm. Das Meer rauscht. Es ist alles wie immer. Und doch fühle ich mich nicht angekommen. Ein wichtiger Teil von mir fehlt. Ein Wind zieht auf. Die warme Briese zerzaust meine Haare und knickt Nikitas Zeitung um. Er flucht und faltet sie zusammen. Ich sehe ihn jedoch nicht an. Mein Blick streift über den Rand des Tisches, hinweg in weite Ferne.
"Wie lange...", wispere ich dann. Nikita sieht auf. Er seufzt und sieht mich an. Sein Blick kribbelt. Und doch erwidere ich ihn nicht. Er weiß ganz genau, was ich meine. "Elena muss das entscheiden, nicht ich", erwidert er dann. In meinen Augen sammeln sich Tränen. Ich wette, Scott hat mich längst vergessen... Mein Blick gleitet zurück auf die Zeitung, die jetzt neben mir auf dem Tisch liegt.
'Scotts Freund Leo seit einem Monat spurlos verschwunden - keine Neuigkeiten, wir-'
Doch da knickt die Zeitung und ich kann den Rest der Schlagzeile nicht lesen.
...
- Einen Monat zuvor -
Farben verschwimmen langsam zu Objekten, Umrissen und festen Dingen. Der Nebel in meinem Kopf lichtet sich langsam. Ich seufze einmal und richte mich auf. Langsam festigt sich das Bild vollends, und ich erkenne die Konturen von Möbeln und Wänden. Ein Zimmer. Ich habe es noch nie gesehen.
Was ist passiert?
Langsam tröpfeln die Erinnerungen zurück in meinen Kopf, Stück für Stück. Die Underground-Labs, Jamie, die Explosion. Sofort bin ich hellwach und springe auf. Allerdings stoße ich mir sofort den Kopf an einem Dachbalken. Wieder etwas benommen halte ich mir den Kopf und lasse mich erneut auf das Bett sinken. Das Bett, welches aus altmodischem Holz gefertigt ist, ist sehr groß und klobig mit Verspielungen und Verzierungen. Ich runzle die Stirn und sehe mich verwirrt weiter um.
Ein Schreibtisch mit einem Zeichenblock für Kinder, ein paar Buntstifte und einem Glas Wasser. Der Schreibtisch sieht aus wie selbst gezimmert. Er besteht, wie das Bett, aus sehr massivem, unverarbeitetem Holz. Die Tischbeine sind allerdings kunstvoll zum Boden hin verziert. Ich befinde mich in einem Dachzimmer, wie es die Dachschrägen vermuten lassen. Ich denke, es ist sogar ein ganzer Dachboden, welcher von Sonnenlicht durchflutet ist. Der Boden besteht aus ebenfalls sehr grob gefertigten Holzdielen, welche schwer nach Splittern in den Füßen aussehen.
Neben dem Schreibtisch befindet sich lediglich ein Schrank, welcher halb offen steht. Er ist wie alles hier auch aus demselben Holz, identisch verziert. Ich erkenne ein paar merkwürdige Gewänder darin, die aussehen als kämen sie aus dem Mittelalter. Ich sehe an mir herunter. Jemand hat mich umgezogen. Ich trage meine Jogginghose und einen Pulli von Scott.
Was zum...
Ich richte mich wieder auf und setze einen Fuß auf. Mein Kopf pocht durch die Bekanntschaft mit dem Dachbalken. Langsam tapse ich zu der morschen Holztüre, doch bevor ich sie erreiche streift mein Blick das riesige Fenster. Ich schnappe nach Luft und renne zu dem Glas. Ich presse mich dagegen und starre in die sonnige Landschaft.
Beziehungsweise auf das sonnige Meer.
Etwa zwanzig Meter von dem Gebäude entfernt liegt eine Reihe aus Dünen, hinter der sich endloses blaues Wasser erstreckt. Ruhig fährt der Wind durch das Seegras auf dem Sand und lässt die blauen Wellen sich kräuseln, doch trotz dieser friedlichen Landschaft kriege ich Herzklopfen. Wo bin ich? Was ist passiert? Und wo ist Scott? Geht es ihm gut?
Langsam stolpere ich rückwärts zu der Türe und reiße sie auf. Hektisch haste ich die schiefe Holztreppe herunter, bis ich in einem kleinen Flur ankomme, welcher im Gegensatz zu dem Dachzimmer nur schwach erleuchtet ist. Nur drei Türen zweigen ab, eine davon ist die Haustüre. Sofort probiere ich sie zu öffnen, doch ist sie verschlossen. Ich atme genervt aus und versuche mein Glück bei der nächsten Tür. Sie ist aus dem gleichen Holz und hat ein herzförmiges Fenster aus Milchglas in der oberen Hälfte eingelassen. Ich lege meine Hand auf die Messingklinke, doch bevor ich sie drücke stocke ich. Ich höre eine Stimme.
"Ja... ich weiß nicht...", sagt eine männliche Stimme mit starkem Akzent. Ein Alpha Geruch steigt mir in die Nase, welcher ein seltsames Kribbeln auslöst. Ich kenne den Geruch. Er ist aber nicht Scotts Duft... er ist mir weitaus bekannter als das! "Das nichts heißen... nein, nein Elena! Tu das ni-... Er ist sicher hier!", schreit die Stimme auf einmal. Ich schrecke etwas von der Tür zurück. Er redet mit Silverstone! Doch da ich ihre Antworten nicht höre, gehe ich davon aus, dass er telefoniert. Ich beiße mir auf die Lippe und lege meine Hand wieder auf die Klinke.
"Ja... mach das... bis morgen...".
Stille.
"Leo, komm rein", schallt auf einmal die Stimme durch die Tür. Ich gefriere zu Eis und starre das Holz an. Langsam drücke ich die Klinke herunter und öffne die Tür mit klopfendem Herzen, welche knarrend aufschwingt. Mein Blick fällt auf ein gemütlich aussehendes Zimmer. Die Decke ist aus Holz mit Balken, die die Bretter stützen. Die Wände sind hell und reflektieren das einfallende Sonnenlicht in einer freundliche Atmosphäre. Die Möbel sind genauso designt wie die in dem Dachzimmer.
Mir gegenüber an der Wand befindet sich ein großer Kachelofen, in welchem ich ein Feuer brennen sehe. Dann fällt mein Blick auf den Mann. Er ist bestimmt schon Mitte fünfzig. Etwas älter als Perkins und Cade Harvey. Er hält ein Smartphone in der Hand, welches er seufzend auf den kleinen Holztisch in der Mitte des Raumes neben eine Blumenvase legt.
"Leo Silverstone", raunt er dann, und ein Schauer durchzieht mich. Wenn ich mit diesem Nachnamen angesprochen werde realisiere ich erneut meine schicksalsträchtige Abstammung. Ich sehe zu Boden, während meine Gedanken kreisen. Als der Typ aber immer noch nichts sagt, hebe ich erneut meinen Blick. Ich sehe ihn an, wie er mich mustert. Wie er immer wieder den Kopf schüttelt, als wäre er enttäuscht von mir. Genauso stelle ich mir jemanden vor, der das Leben kennt, in allen seinen Facetten.
Der Typ seufzt erneut, bevor er sich auf einmal umdreht, irgendwas von "Tee" murmelt und dann den Raum verlässt. Verdattert sehe ich ihm nach und schüttle jetzt selber den Kopf. Was soll das? Wer ist dieser Typ? Ich kenne ja nicht einmal seinen Namen. Oder unseren momentanen Aufenthaltsort. Würde ich nicht so planlos sein, würde ich hier vielleicht mal Urlaub machen oder so. Mein Blick gleitet ziellos umher, als mir ein Bild an der Wand auffällt. Es ist sehr mittig an der Wand platziert, nicht zu aufdringlich, aber trotzdem merkt man, dass es etwas besonderes darstellt.
Langsam gehe ich auf das Bild zu, und je näher ich komme, desto mehr ziehen sich meine Augenbrauen zusammen. Das Bild zeigt den Typen, deutlich jünger. Sehr viel jünger. Als Teenager. Doch neben ihm, da in seinem Arm, glücklich grinsend... das kann nicht sein... das bin ja-
"Das bin ich... damals... ", lässt mich die Stimme des Typen aufschrecken. Ich fahre herum und sehe ihn an. Er stellt ein Tablett mit zwei Tassen auf den kleinen Tisch, welche wunderbar duften. Ich beachte die Tassen nicht weiter sondern drehe mich wieder zu dem Bild um. Ich nehme war, wie der Typ hinter mich tritt und mir über die Schulter sieht.
"Und das da", fährt er fort, wobei sich mein Blick legt auf die andere Person auf dem Bild legt, "das da ist dein anderer Großvater, Leo...". Ich lasse seine Worte im Raum verklingen, doch in meinem Kopf bleiben sie bestehen, während ich den Teenager auf dem Bild anschaue. Die Worte erzeugen ein Echo in meinem Kopf, das nicht verstummen will. Und ein Gedanke formt sich, der mich diese Worte nicht anzweifeln lassen...
"Er sieht aus wie ich..."
Es ist nur ein Wispern, was meine Lippen verlässt. Trotzdem nehme ich das langsame Nicken des Typens wahr. Ich lasse meinen Blick über das Pärchen auf dem Bild gleiten. Sie sehen so glücklich aus. Ein leichtes Lächeln formt sich auf meinen Lippen, während ich sie anschaue. Es ist, als würde ich mir beim Leben zuschauen, und für den Bruchteil einer Sekunde meine ich, dass nicht der Typ hinter mir auf dem Bild zu sehen ist...
sondern Scott...
Ein Stich durchzieht mich, und ich schlucke. "Er war ein guter Mensch...", höre ich den Typen hinter mir. "Er hat sich immer gesorgt um alle. Immer erst gedacht an Andere...". Seine Worte verklingen erneut, während ich das Bild ansehe. Sein Aussehen ist meinem so verdammt ähnlich, dass ich erst dachte, ich wäre auf dem Bild. Langsam drehe ich mich zu meinem Großvater um und sehe ihm in die dunklen Augen.
"Er wurde mir genommen als er war achtundzwanzig. Wir grade haben bekommen Elena, da war er weg... von heute auf morgen...", fährt er fort, und seine Stimme wird belegter. "Es waren Omega-Händler, die ihn haben mitgenommen. Die kleine Elena hat es gesehen mit an, sie hat versucht, zu helfen. Aber er hat ihr gesagt, sie soll verstecken sich. Weder sie noch ich konnten tun etwas. Dann er war weg... bis heute..."
Ich schlucke, doch halte seinem Blick stand. "Ich bin Nikita Silverstone. Ich bin dein anderer Großvater, Leo", fügt er dann eindringlich hinzu. "Ich habe dich gesehen in Oxion, in Zeitung wegen der Explosion, die Oxion vernichtet hat. Ich dachte kurz... du wärst...", wispert er dann, und langsam drehe ich mich wieder um. Immer mehr Puzzleteile fügen sich zusammen.
Silverstone hat Angst vor Alphas, wie ich sie hatte. Weil uns beiden etwas in unserer Kindheit passiert ist, was mit ihnen zu tun hatte. Nur das ich Scott kennenlernte, welcher mir da heraus half. Nur wer soll das bei Elena Silverstone sein? Wer soll ihr helfen?
Auf einmal wandert mein Blick nach links auf den Tisch mit den Tassen. Neben dem Tablett befindet sich eine Zeitung, auf der ich halb ein Gesicht erkenne. Meine Augen werden größer, als ich etwas näher komme. Ist das... Scott? "Scott Harvey auf Intensivstation. Bricht sein Leben zusammen?", lese ich flüsternd die Schlagzeile und starre das Bild an. Scott grinst in die Kamera. Direkt daneben jedoch ist ein Bild von ihm in einem Krankenbett mit unzähligen Schläuchen und Kabeln. Mein Herz macht einen Aussetzer.
"Ich muss zu ihm zurück...", hauche ich und lasse die Zeitung sinken. "Du musst bleiben hier! Das sowohl rettet dich als auch dein Scott!", erwidert Nikita jedoch, und fassungslos sehe ich ihn an. "Das kannst du nicht machen! Wie lange denn? Und warum überhaupt?", fahre ich ihn an, doch er verzieht keine Miene. "Lange genug. Elena hat angeordnet. Sie will-"
"Sie hat mich doch gekriegt!", rufe ich hysterisch aus und starre meinen Großvater an. Seine dunklen Augen fixieren mich, sein tiefschwarzes Haar lässt Bilder von Silverstone in meinem Kopf aufblitzen. Ich verschränke die Arme und sehe ihn finster an. "Glaube mir. Ich schonmal habe verloren alles. Ich werde nicht wieder verlieren alles...", erwidert er leise, doch ich schnaube nur. Sauer stürme ich an ihm vorbei und schmeiße dabei die beiden Teetassen um, welche klirrend hinter mir zu Boden fallen.
Ich knalle die Türe zu und laufe die Treppe hoch in das Dachzimmer, dessen Türe ich auch zuschlage und dann abschließe. Ich schmeiße mich in das Bett und starre sauer die Wand an. Meine Gedanken kreisen wild umher, zu Scott und Nikita, Silverstone und meinem verschwundenen Großvater. Wo er wohl ist... was er macht... ob es ihm gut geht?
Wie geht es Scott? Ich habe ihn wieder verloren, obwohl wir grade erst zusammen waren. Und jetzt sitze ich hier, ohne ihn. Ganz alleine. Ich hasse es! Ich will doch nur glücklich sein! Ist das zu viel verlangt?! Ich kuschle mich in Scotts Pulli und versuche, mich an seinen Geruch zu erinnern. Das Sonnenlicht wärmt meinen Rücken, doch ist es schon die Abendsonne. Ich vermisse Scott sehr. Das Bild an der Wand taucht wieder vor meinen Augen auf, doch ist es nicht Nikita, sondern Scott und ich. Ich schniefe und schließe langsam die Augen.
Während ich Einschlafe und in tiefe Träume abdrifte wird es dunkel draußen. Meine Träume sind wirr und unrealistisch. Unruhig und verzerrt. Ich stürze durch Farben hindurch. Leute reden auf mich ein, schreien durch das Tosen des Sturms. Perkins ruft mir zu, ich solle die Wahrheit finden. Silverstone schließt mich in einen Käfig ein. Cade Harvey bedroht mich mit einer Waffe, sein Gesicht wutverzerrt. Und dann sitze ich aufrecht im Bett und stoße mir den Kopf erneut am Dachbalken. Doch ist es mir jetzt vollkommen egal!
Ich habe Scott gesehen. Das tiefe, schimmernde Grün. Er ist aufgewacht!
...
Langsam steige ich die knarzende Treppe runter. Die Sonne ist untergegangen und der Himmel ist mit einem dunklen blau übergossen. Erste Sterne funkeln. Ich erreiche den abgedunkelten Flur und sehe unsicher zu der Wohnzimmertür, die ich eben zugeschlagen habe. Sie ist nur angelehnt, und durch diesen Spalt dringt Licht, welches sich an der gegenüberliegenden Wand als heller Streifen abzeichnet. Lange sehe ich diesen Streifen an, bis ich ihn in Ruhe lasse und die Türe vorsichtig aufdrücke.
Mein Blick fällt auf Nikita. Er sitzt auf dem Sofa und hält das Bild von ihm und Großvater in der Hand. Das Zimmer wird von unzähligen Kerzen erleuchtet, was eine gemütliche Stimmung erzeugen würde. Doch grade wirkt sie eher bedrückt und deprimiert. Auf dem kleinen Tisch steht ein neues Tablett mit zwei neuen Tassen Tee, welche wie die eben wundervoll riechen. Ich schlucke und tapse langsam zu dem Sofa, um mich neben Nikita zu setzen. Wir schweigen erst einmal, während ich den Boden anstarre.
"Ich wirklich dachte, du wärst er...", vernehme ich auf einmal Nikitas belegte Stimme. Erneut schlucke ich, und sehe ihn an. Sein Profil ist immer noch etwas furchteinflößend. "Ich bin aber nicht er... entschuldige", erwidere ich ebenfalls etwas belegt. "Ich weiß, Leo", antwortet er trocken und lacht bitter. Dann schweigen wir wieder, während sich mein Blick auf das Bild legt.
"Ich wollte mich entschuldigen, Nikita", spreche ich es schließlich deprimiert aus. Ich fühle mich hier seltsam zuhause, auch wenn ich in Gefangenschaft bin. Etwas hält mich hier. Etwas was mir sagt, dass ich hier die Wahrheit finde. Etwas, was mich endlich weiterbringt. Während ich die Teetasse anstarre folgt Nikita meinem Blick und macht ein belustigtes Geräusch.
"Pfefferminztee. Das war sein Lieblingstee", erklärt er grinsend. Ich atme ein und schließe entspannt die Augen. "Es riecht wunderbar...", lächle ich. "Du hast noch nie probiert Pfefferminztee?", lacht er dann. Grinsend schüttle ich den Kopf. Vorsichtig reicht er mir eine Tasse. Ich nehme sie und setze mich im Schneidersitz auf das Sofa, ihm leicht zugewandt. "Nun denn, auf die Liebe!", ruft er rau lachend aus und stößt seine Tasse gegen meine, sodass ein leichtes Klirren durch den Raum halt.
Dann hält er das Bild mittig, sodass wir beide es anschauen können. Er beginnt zu erzählen, wo es aufgenommen wurde, ehe er nach Scott fragt. Ein leichter Stich durchzieht mich, als er seinen Namen ausspricht. Doch dann erzähle ich über meinen Freund, während der Schmerz weniger wird und ich erneut spüre, wie ich ihn liebe. Nikita grinst leicht und sieht wieder auf das Bild.
"Im inneren bist du fast wie er, nur doch so anders", wispert er, "und übrigens, sein Name ist Nils".
(2477 words...)
...
// A/N: dieses Kapitel ist sehr, sehr alt und stammt noch aus der zweiten Originalfassung. Ich habe es nur leicht an den Kontext dieser Version angepasst, weshalb der Schreibstil minimal anders sein könnte. Aber ich finde dieses Kapitel einfach so sweet und irgendwie refreshing nach den kalten Kapiteln in Oxion, dass ich es nicht grundlegend ändern wollte. \\
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