Six | Geisterhaus | VI

PoV. Leo

"Was denn für ein Unglück?"

"Eine Frau ist hier gestorben... "

Mein Blick gleitet an seinem Arm herab zu seiner Hand, in der er etwas hält. Doch lange kann ich mich damit nicht abgeben, denn da sehe ich, was er vorhat.

Will er etwa in das Haus einbrechen?

Mit mulmigem Gefühl folge ich ihm durch die Dunkelheit in Richtung Hausnummer 33. Langsam drückt Scott das quietschende Tor auf, welches den Vorgarten von der Straße abtrennt. Mein Blick wandert an der zerstörten Fassade hoch. Ich bin irgendwie froh, nicht alleine hier zu sein. Ich sehe zu Scott, welcher die Tür begutachtet. Dabei hält er immer noch dieses Objekt in der Hand. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass es sich um eine Kette, oder ein Amulett handelt. Der Kies des Weges, welches die Eingangstür mit dem Tor verbindet, knirscht gespenstisch unter meinen Schuhen. Vorsichtig, als könnten meine Schritte Tretmienen auslösen, stelle ich mich neben ihn.

"Perkins", liest Scott von dem verwitterten Klingelschild vor. Die Tür sieht komplett morsch und instabil aus. Wie viele hier wohl schon eingebrochen sind? Auf einmal drückt Scott den Klingelknopf, was mich zusammenfahren lässt. Doch es passiert nichts. Gespenstisch liegt die Stille über uns, welche nur von meinem pochenden Herzen unterbrochen wird. Das ist eine einzige, schlimme Idee. Doch ich werde jetzt nicht nachgeben! Er wird sehen, wie viel ich mich traue!

Scott drückt erneut, doch erneut passiert nichts. Langsam atme ich aus. Glück gehabt. Auch wenn ich es ihm beweisen will, die Geschichten, die mir über dieses Haus erzählt wurden, musste ich jetzt nicht unbedingt auf Richtigkeit überprüfen. Grade als ich von der kleinen Treppe, auf der wir uns befinden, runterspringen möchte, drückt Scott leicht gegen die Türe, welche daraufhin mit einem tiefen Knarzen aufschwingt.

"Scott...", wimmere ich schweren Herzens, doch er grinst nur. Er aktiviert die Lampe an seinem Handy und leuchtet in den dunklen Flur. Auch ich nehme mein Handy heraus und aktiviere meine Taschenlampe. Der silberne Schein trifft auf Türme aus Kartons, die bis unter die Decke gestapelt sind. Man erkennt einen Flur mit schwarz-weiß gekacheltem Steinboden. Rechts an der Wand führt eine alte, instabil wirkende Treppe in die Höhe, an der einige Stufen fehlen. Die Kartons stehen überall im Raum verteilt und blockieren die zwei Türen, die von dem Flur abzweigen.

Alles ist mit einer Schicht aus Spinnenweben überzogen, was mich angeekelt erschauern lässt. Am anderen Ende der Treppe kann man das flackernde Licht erahnen. "Echt ekelhaft hier...", raunt Scott und leuchtet mit seiner Handylampe umher. Ich gebe keinen Mucks von mir. Dass ich mich jemals in diesem Haus befinde, hätte ich mir nie Träumen lassen.

Die Spinnenweben glitzern in unserem Handylicht in einer grusligen Weise. Es wirkt ein wenig, als hätte jemand das Haus für eine Halloween-Party vorbereitet. Nur, dass es komplett abgedunkelt wurde. Dieses Haus hat einen eigenartigen Geruch. Einen einschüchternden und angstmachenden. Ich kenne diesen Geruch. Ich habe ihn schon einmal in einer ähnlichen Form gerochen. Aber wo?

Es riecht wie ein Alpha...

Ich stocke. Es ist nicht Scott, sein Geruch ist anders. "Scott?", wispere ich in die Richtung seiner Taschenlampe, "Könnte es sein, dass die Person die hier lebt ein Alpha ist?", hauche ich mit geschlossenen Augen und atme tief ein und aus. Kein Zweifel, es ist ein zweiter Alpha hier. "Naja, theoretisch schon. Da freust du dich besonders, was?", feixt er mit gedämpfter Stimme. Ich schlucke erneut. Er ist noch sauer auf mich. Und jetzt bin ich auf ihn angewiesen. Auf einen Alpha. Komisches Gefühl.

Erneut hadere ich, ob ich hinterher oder abhauen soll, doch meine Neugier siegt. Vorsichtig folge ich ihm die Treppe hoch, die er angefangen hat zu erklimmen. Sie mündet in einen weiteren, kleineren Flur. Von diesem nun drei Türen ab. Der Flur ist nicht so extrem vollgestellt. Er ist einfach komplett leer. Unser Handylicht wird hier oben durch den Kerzenschimmer, der aus einer der geöffneten Türen dringt gedimmt.

Ehrfürchtig nähern wir uns dem Zimmer. Ich erkenne eine alte und schwer aussehende Holztüre. Scott sieht als Erster in das Zimmer. Ich folge ihm, teils mit Neugier, teils mit Angst. Auch ich spinkse hinter seinem Rücken mit pochendem Herzen in den Raum. 

"Sieh einer an... Leo Wyne...", kommt uns auf einmal eine kratzige Stimme entgegen

 Ich erstarre. Scott scheint auch überrascht zu sein, denn seine ganze Haltung wirkt auf einmal merkwürdig angespannt. Der Raum ist komplett leer bis auf einen ausladenden Schreibtisch in der Mitte, auf dem dutzende Kerzen platziert sind. Überall im Zimmer liegen Zettel verteilt, auf die jemand immer ein und dasselbe Symbol gezeichnet hat. Hinter dem Schreibtisch an der Wand wurde ein etwas größeres Banner mit eben diesem Symbol aufgehangen. Ein paar altmodische Stühle stehen um den Schreibtisch verteilt, und an dem Schreibtisch selber sitzt eine Frau.

Ihre dichten, braunen Haare sind verfilzt und wirken sehr verwahrlost. Sie trägt einen grauen, zerrissenen und dreckigen Umhang, welcher an einer Schulter einen großen Flicken vorweist. Ihre tiefbraunen Augen strahlen einen gewissen Wahnsinn aus, doch insgesamt wirkt sie erstaunlich ruhig und ausgeglichen.

Sie wirkt sehr heruntergekommen. Ihr Alter ist schwer zu bestimmen. Ich schätze sie auf Mitte Vierzig. "Trete vor, Leo...", raunt sie, und wendet sich dabei wieder ihrem Papier zu, dass sie momentan bekritzelt. Beim genaueren Hinsehen erkenne ich, dass es erneut das Symbol ist. Scott drückt mich nach vorn, und ehe ich mich noch darüber wundern kann, woher die komische Frau eigentlich meinen Namen so genau kennt stolpere ich in den Raum hinein. Die Kerzen strahlen ein warmes Licht aus. Endlich erkenne ich, wobei es sich bei dem Symbol handelt. Es ist eine Schlange, welche in sich gewunden das Zeichen der Unendlichkeit ergibt.

Während ich noch überfordert dieses omnipräsente Symbol mustere richtet sie ihren Blick schon auf mich. Doch nach einigen Sekunden der Stille wandern ihre braunen Augen zur Seite und fixieren Scott. Ihr Lächeln erstirbt und sie winkt ihn nach vorne. Langsam tritt er neben mich während sie ihn von oben bis unten mustert. "Scott Harvey, prominenter Besuch...", murmelt sie dann und fängt hektisch an, in ihrem Papierstapel zu suchen. Scott und ich wechseln einen Blick, der nichts als Verwirrung ausdrückt. Auch wenn er mich eben noch fast zusammengeschlagen hätte, jetzt bin ich froh, dass er da ist.

"Glückwunsch, dass du noch am Leben bist, Scott Harvey", raunt sie dann, während sie anscheinend gefunden hat was sie sucht. Sie ließt sich den Zettel mehrfach durch, und lacht dann plötzlich. Erneut wechseln Scott und ich einen Blick, ehe sie das Blatt sinken lässt. "Deine Mutter ist bestimmt froh, dass dem so ist", setzt sie dann hinzu, woraufhin Scott überrascht den Mund öffnet. "Wer zur Hölle sind sie?", ruft er dann aus, wobei seine Stimme leicht zittert. 

Aggressiv starrt er die Frau an. Dabei ballt er die Hände zu Fäusten, wobei er immer noch seine Kette umklammert. Maximal verwirrt sehe ich zurück zu der Frau, welche sich nur zurücklehnt als hätte sie einen harten Arbeitstag hinter sich. "Beruhige dich, meine Güte", raunt sie dann und ordnet ihre verfilzten Haare. "Mein Name ist Mrs. Perkins. Scott Harvey, Leo Wyne, euer Schicksaal ist verbunden!", offenbart sie uns dann feierlich, "Es ist kein Zufall, dass Scott bei dir, Leo, untergebracht wurde. Es alles hat seinen Ursprung! Und dieser liegt... tja... wo eigentlich...". Sie versinkt in Murmeln und durchsucht erneut ihre Papiere.

Das war ein riesiger Fehler. Wir hätten niemals in dieses blöde Haus gehen sollen! Ich sehe zu Scott, doch dieser starrt nur weiter Mrs. Perkins an. Dabei erkenne ich eine Vene, welche an seiner Schläfe pocht. "Sie wissen etwas von meiner Mutter?", presst er dann hervor und wirkt, als hätte er das schon die ganze Zeit fragen wollen. Perkins sieht wieder auf und grinst dann. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Was hat seine Mutter denn auf einmal damit zu tun? Ich werde immer verwirrter.

"Ich kannte sie gut, sie hat viel getan bis sie verschwand", erwidert Perkins dann mit einem schiefen grinsen. "Moment!", ruft Scott aus, tritt vor und haut mit einer Faust auf Perkins Schreibtisch, "sie ist nicht tot? Nur verschwunden?". Seine Stimme zittert erneut. Ich öffne den Mund. Was geht hier vor sich? Ist seine Mutter verschwunden? "Autoritär hebt Perkins eine Hand um Scott zum Schweigen zu bringen. "Lass mich erklären", erwidert sie ruhig. Scott tritt wieder zurück und schnaubt. Dann hält Perkins ein Blatt Papier hoch.

"Es begann mit einer Entscheidung des höchsten Rates!", ruft sie aus, "vor ungefähr einhundertzehn Jahren wurde in unseren neu gegründeten Hauptstadt Alypolis der Beschluss verabschiedet, dass Omegas endgültig von ihren Rechten befreit werden sollen. Dies blieb natürlich nicht unbeantwortet. Schnell formten sich Gegenbewegungen", beginnt Perkins zu erklären und wirkt dabei wie Boltersbach. "Der Omega Tribe war damals nur eine kleine, unbedeutende Gruppe unter vielen. Bis dann 'sie' ins Spiel kam!".

Wieso erzählt die Frau auf einmal über so etwas? Was ist hier los? Warum bleiben wir hier? Was ist mit Scotts Mutter? Wieso ist er auf einmal so angespannt?

"Um den ganzen Gruppen entgegen zu wirken, rief der höchste Rat eine Staatsgewalt ins Leben, die 'NERO'. Wir alle kennen sie, oh ja. Eine fataler Schachzug. Vor ungefähr sechzehn Jahren hatte Familie Harvey den Höhepunkt ihrer Macht erreicht. Jessie Harvey, welche nach dem großen Krieg Oxion aufgebaut hatte und nun in ihrem riesigen Palast über eben diese Stadt herrschte, entdecke einst bei einem ihrer Dienstmädchen eine Schwangerschaft. Ihr müsst euch vorstellen, das war eine Schande und gehörte sich keinesfalls für eine Dienstkraft, erst recht nicht wenn diese eine Omega ist"

Auch wenn diese ganze Situation höchst merkwürdig ist, irgendwie ist es auch interessant. Was mich vor allem zufrieden stellt, ist das bis jetzt die Alphas die meiste Schuld tragen.

"Das Kind wurde ihr entzogen, weiß der Teufel wo es hin ist. Das Dienstmädchen hat daraufhin ihren Dienst bei den Harveys beendet und ihnen Rache geschworen. Gerüchten zufolge trat sie dem Omega Tribe bei und organisierte ein Jahre später einen Angriff auf die Harveys um Jessie Harveys Enkel aus Rache für ihren Sohn zu entführen. Niemand anderen als unseren Scott. Das dieser hier steht zeugt jedoch vom Scheitern dieses Versuchs"

Ich sehe zwischen Perkins und Scott hin und her. Dabei steht mein Mund offen. Scotts Blick hat etwas tiefes angenommen, was mir ungemein Angst macht. Doch Perkins scheint sich keinesfalls davon beeindrucken zu lassen. "Die Harveys erhielten seither Drohbriefe, sie schützten ihre Kinder und bereiteten die NERO SafeZone vor. Doch dann, als niemand auf sie achtete, verschwand auf einmal Hannah Harvey, die Mutter von Julie und Scott Harvey. Ich weiß, dass sie von jenem Dienstmädchen entführt wurde, um sie als Geisel für ihren Sohn zu verwenden. Doch die NERO befreite Mrs. Harvey aus der amateurhaften Gefangenschaft. Sie verschwand jedoch seither. Der Druck auf die Harveys wurde jedoch so groß, dass sie ihre Kinder nun in diese SafeZone bringen..."

Perkins Stimme verhallt in dem Zimmer, während sie grinsend zwischen uns hin und her schaut. "Meine Mutter ist nicht tot, ich hatte recht!", knirscht Scott auf einmal und stürmt dann aus dem Zimmer. Ich starre mit pochendem Herzen die Stelle an, an der er eben noch stand. Dann gleitet mein Blick langsam zurück zu Mrs. Perkins. "Kümmere dich um ihn, das braucht er jetzt", murmelt sie dann, als würde sie Scott schon ewig kennen. Sie hat leicht reden, wegen ihr ist er doch erst so. Langsam nicke ich ehe ich aus dem Zimmer haste um Scott zu erreichen.

Ich öffne die knarzende Haustüre und stolpere auf die Straße. Hektisch sehe ich mich um und erkenne ihn schließlich unter einer der noch halb funktionierenden Straßenlaternen stehend. Erleichtert laufe ich zu ihm rüber. Kurz bevor ich ihn erreiche stocke ich jedoch. Schluchzt er etwa? Überfordert nähere ich mich seinem Rücken und will grade eine Hand auf seine Schulter legen, da dreht er sich zu mir um. Seine Augen blitzen feucht, doch wirken sie jetzt noch mehr wie Messerstiche.

Ich schlucke und weiche etwas zurück. "Glaubst du immer noch, mein Leben wäre perfekt und rosig, nur weil ich ein scheiß Alpha bin?", spuckt er mir entgegen, wobei seine Stimme brüchig und zittrig wie nie zuvor ist. Ich erkenne, wie blitzende Tränen seine Wangen herunterrollen, doch macht er sich keine Mühe, diese zu verbergen. Ich bringe kein Wort heraus. Noch immer drückt seine Präsenz auf mich ein, als er mir die Kette vor die Augen hällt.

Ein Medaillon. In der Dunkelheit erkenne ich die Form eines Diamanten. Und auf seiner Oberfläche...

Eine Schlange, welche in sich selbst gewunden das Symbol der Unendlichkeit ergibt.

"Perkins", wispere ich. Doch bevor ich das Medaillon noch länger anstarren kann, nimmt er es schon wieder weg und schmeißt es aggressiv auf den Steinboden. "Sie sagt die Wahrheit! Meine Mutter ist da draußen! Und sie wird mich hier rausholen! Weg von... weg von dir!", schreit er, wobei er fast schon verzweifelt wirkt. Ich starre ihn an, unfähig etwas zu machen, etwas zu sagen.

Ich starre ihn einfach an. Den unkontrolliert schluchzenden Alpha. Den sonst so unglaublich charmanten und sympathischen Jungen in einer total instabilen Stimmung. Mein Puls pocht in meinen Ohren. Mein Atmen ist schnell wie als wäre ich gesprintet.

"Du hast nicht die leiseste Ahnung von meinem Leben", wispert er dann und geht schnellen Schrittes an mir vorbei in Richtung Hauptstraße. Wie angewurzelt starre ich die Road entlang. Nicht ein Windstoß, nicht ein Blatt bewegt sich.

Langsam senkt sich mein Blick auf das Medaillon. Vorsichtig, als wäre es aus Glas, hebe ich es vom Boden auf und betrachte es im goldenen Schein der Laterne. Es besteht aus einfachem Messing und ist nur minimal verziert. Durch Scotts Wut hat es nun einen Sprung mittenhindurch, wodurch der Verschließmechanismus ebenfalls beschädigt wurde. Ich runzle die Stirn und klappe vorsichtig das nun unverschlossene Medaillon auf.

Darin befindet sich lediglich eine Inschrift:

'Niemand kann dir vorschreiben wer du bist, nicht einmal du selbst - von deiner dich liebenden Mutter Hannah'

In diesem Moment flackert die Laterne über mir und ich stehe mit dem Medaillon in der Hand in der dunklen Nacht, die nur minimal von einem mit Kerzenschein erleuchtetem Fenster erhellt wird.

(2319 Words...)

...

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