Fourty-Two | 180 Grad | XLII

Victores fulgebunt, victi in cinerem vertent!

...

PoV. Scott

"Der Omega Tribe ist ungefährlich, verdammt!", schreit die Stimme von Jessie Harvey durch das Harvey-Anwesen. Dann herrscht Stille. Cade Harvey sieht seine Mutter nur an, während sie mit hinter dem Rücken verschränkten Händen die große Tafel betrachtet, welche fast die gesamte Wand ihres Arbeitszimmers einnimmt. Ihre Haare sind buschig und wehend, ihre Haltung massiv und furchteinflößend. Dad ist deutlich weniger muskelbepackt. Fast schon ehrfürchtig sieht er sie an, als wäre sie eine Gottheit. "Der Krieg ist grade mal drei Jahre her, Idiot. Was glaubst du, was diese Parasiten groß anstellen wollen?"

"Mutter, die Omegas sind nicht zu unterschätzen-"

"Halt deine Fresse, Weichei!", fällt sie meinem Vater ins Wort, welcher sofort verstummt. "Ich will diese hässlichen Viecher nicht in meiner Stadt haben. Sie sollen gar nicht erst existieren. Wie kommen die Jungs in den Underground-Labs voran?", fährt sie dann fort und dreht sich zu meinem Vater um, der sich etwas tiefer in seinen Sessel krallt. "Ich denke gut. Die Technologie ist hochmodern und die ersten Tests-", beginnt er betont ruhig, doch erneut fällt ihm Jessie ins Wort. "Ihr sollt nicht testen, ihr sollt machen! Du nichtsnutziger Bastard! Kein Wunder, wenn du halb von einer Omega abstammst!", spuckt sie ihm ins Gesicht.

"Mutter... bitte", wimmert mein Vater nur. Doch sie wendet sich nur ab als sei nichts gewesen. "Was ist mit den Sklavereien? Sortiert ihr die aus, die kein Geld bringen?", fährt sie nüchtern fort, als würde sie über das Wetter reden. "Ja... ja, natürlich. Besonders die in den Greenlands läuft sehr gut", erwidert mein Vater sichtlich erleichtert, etwas für Jessie Erfreuliches berichten zu können. "Mh", macht sie jedoch nur. Dann dreht sie sich wieder zu ihrem Sohn um, wobei ihre bernsteinfarbenen Augen gefährlich aufblitzen.

"Du darfst gehen", zischt sie dann nur. Sofort fährt Cade hoch und verbeugt sich vor seiner Mutter. "Danke, Mutter, danke", säuselt er dann und läuft rückwärts, immer noch sich verbeugend, aus dem Raum. Leise schließt er die Tür, woraufhin sofort eine unsichtbare Last von ihm abfällt. Mit hängenden Schultern schlurft mein Vater den Gang des Anwesens entlang, bis er in ein weiteres Zimmer abbiegt. Dieses ist jedoch um einiges heller und freundlicher als das Arbeitszimmer von Jessie Harvey. "Oh Hannah, was soll ich nur tun", seufzt er ergeben. Erst da erkenne ich die Person, die an dem Kinderbett sitzt.

Sie dreht sich um und sieht Cade an. Mir stockt der Atem. Meine Mutter. Und erst jetzt fällt mir die tatsächliche Ähnlichkeit mit Perkins auf. Perkins kann aber nicht meine Mutter sein! Etwas in mir will das immer noch leugnen. Aber sie war es die ganze Zeit. Ich wusste nur nicht mehr, wie meine Mutter aussah! Ich schlucke. "Hey, Schatz, was ist passiert?", stammelt Hannah besorgt, steht auf und kommt auf ihren Mann zu. "Ich weiß auch nicht... sie kommandiert mich herum, macht mich fertig... ich will das alles nicht. Die Omegas haben uns doch nichts getan. Der Krieg ist doch vorbei, wieso sollen wir sie weiter drangsalieren?", beginnt Cade zu schluchzen und schlingt seine Arme um seine Frau.

Ihre Haare sind schön und gepflegt, ihre Augen leuchten Haselnussbraun. Sie strahlen eine Wärme aus, die ich nicht beschreiben kann. Und doch sieht Perkins ganz anders aus. Wie eine andere Person. Und doch sind sie die selbe Frau. Etwas muss passiert sein. Doch was? Dann höre ich etwas anderes. Ein Baby beginnt zu weinen. Mein Blick wandert in die Ecke des Raumes. Dorthin, wo meine Mutter eben noch gesessen hat. In dem Kinderbett liegt auch ein Kind drin. Ein Säugling, um genau zu sein. Langsam trete ich auf das Kind zu und spähe in das Bett hinein.

Die Augen sind das erste, was mir auffallen. Ein so leuchtendes, funkelndes Grün. Das Baby sieht mich an und hört auf zu weinen. Wie als würde es mich erkennen. Als hätte es genau den gleichen Effekt wie ich. "Ist er nicht schön?", vernehme ich auf einmal meine Mutter neben mir. Ich schrecke auf als ich die beiden neben mir bemerke. Sachte hält mein Vater dem Baby einen Finger hin, den es sofort umklammert und daran herumkaut. Ich muss leicht grinsen. "Ja, das ist er", erwidert mein Vater. Meine Mutter streicht dem Baby über die Wange und lächelt liebevoll.

"Unser schöner Scott"

Instinktiv lege ich meine eigene Hand an meine Wange und schniefe leicht. Eine Träne rollt über meine Handfläche, während ich das Baby anschaue. Was würde ich nicht alles für diese Familienkonstellation geben.


...

PoV. Leo

Ich beobachte, wie sich die Haustüre öffnet und jemand hereinkommt. Es sind mehr als eine Person. Durch den Garten versuche ich, die Personen auszumachen, die sich jetzt in Nikitas Küche sammeln. Durch die Glasfronten hat man super Einsichten in das Haus. Ich sehe, wie Nikita Tee aufsetzt. Was auch sonst. Und dann tritt eine Frau auf die Terrasse. Ich kneife die Augen zusammen. "Mrs. Perkins?", rufe ich aus. "Entschuldigung, Mrs. Harvey", korrigiere ich mich jedoch sofort, doch sie winkt nur ab. Ich erhebe mich von meinem Liegestuhl, auf dem ich angefangen habe, Nikitas alte Bücher zu lesen.

Langsam komme ich auf die Terrasse und beäuge Mrs. Harvey etwas. Sie sieht sehr gepflegt aus. Modische Kleidung, gepflegte Haare. Sie grinst mich an. "Na du?". Etwas misstrauisch sehe ich hinter ihr die geöffnete Terrassentür an. Und dann tritt sie tatsächlich heraus. Meine Statue versteift sich. Ich mache einen Schritt zurück. Ich kneife die Augen noch mehr zusammen.

"Hallo Leo", vernehme ich Silverstones Stimme wie durch eine Wand aus Watte. Ich erwidere nichts. Sie trägt noch einige Verbände und zieht ihr linkes Bein etwas unsauber hinter sich her. Doch ihre Haare sitzen so streng wie eh und je. Es ist das erste Mal, dass ich sie in ganz normalen Klamotten sehe. Und doch sind diese enganliegend und elegant. Nach einigen Sekunden der Stille taucht Nikita hinter Silverstone auf und trägt ein Tablett mit Wassergläsern nach draußen.

"Setzen wir uns", ordnet er an, was alle wortlos auch tun. Schweigend starre ich mein Wasserglas an. Nikita stellt eine Tasse Tee vor mich, wie immer. Ich werde nie wieder Tee trinken können, ohne an Nikita denken zu müssen. Die Menge an Tee, die dieser Mann konsumiert, ist unfassbar. "Wie geht es dir, Leo?", unterbricht Perkins meine Gedanken. Ich sehe auf. Die beiden Frauen sitzen mir gegenüber. Nikita sitzt neben mir. Und ganz ehrlich, ich bin froh darüber. "Bescheiden", erwidere ich mit brüchiger Stimme. "Du vermisst deinen Alpha, richtig?", klingt sich Silverstone dazwischen.

Es ist so komisch, an einem Tisch mit ihr zu sitzen als wären wir in einem lustigen Sommerurlaub. Und dennoch nicke ich, ohne sie anzusehen. Ihre silbernen Augen fixieren mich. Und doch tun sie nicht so weh wie sonst. Sie stechen nicht, sie sind nicht wie Dolche. Es ist ein ganz gewöhnlicher Blick. Trotzdem traue ich mich nicht, ihn zu erwidern. Dann nehme ich wahr, wie Silverstone Nikita zunickt. Nach einer weiteren Sekunde erheben sich Perkins und Nikita, sodass ich mit Silverstone alleine bin.

Jetzt steigt mein Puls doch etwas. "Leo... ich weiß, du wirst mir eher nicht glauben. Doch ich muss es trotzdem versuchen", beginnt Silverstone schließlich. Ihre Stimme ist ergeben. Sie wirkt kraft- und antriebslos. Ich starre weiterhin mein Glas an. Sie schweigt, ich schweige. Nur die Pinien rauschen im Hintergrund. Das Meer schlägt Wellen. Ein lauer Wind treibt trockene Blätter über den Asphalt. Das Licht ist hell-orange. Die Sonne wird bald untergehen. Dann beginnt Silverstone wieder zu sprechen.

"Wieso glaubst du, wollten wir Scott haben?"

Ich sehe auf. Bei dem Erwähnen des Namens meines Mates brennt eine Sicherung in mir Durch. "Wieso? Weil du krank bist! Weil dein Kopf voller Ideologien ist! Weil du dich rächen willst. Ich weiß von deiner Vergangenheit bei den Harveys! Du warst ein Dienstmädchen. Mrs. Perkins hat es erzählt! Und jetzt willst du mich und Scott auseinanderbringen! Weil du Alphas hasst!", schreie ich sie an und springe auf. Schwer atmend sehe ich auf die Frau runter, welche mich ausdruckslos anschaut.

Ihre farblosen Augen lassen sie dabei etwas wie einen Zombie wirken. In ihren pechschwarzen Haaren erkenne ich tatsächlich einige graue Strähnen. "Ach Leo", erwidert sie schließlich nach einigen Sekunden Stille. "Bitte, setz' dich wieder", ordnet sie dann etwas gefasster an und deutet auf meinen Stuhl. Ich schlucke. Da hat die alte Silverstone durchgeblitzt. Dann holt sie tief Luft.

"Ich gebe zu, ich hatte Rachefantasien. Und ich gebe zu, dass das vielleicht mein ursprünglicher Plan war. Doch das ist lange, lange her. Leo, es ist Zeit für die Wahrheit", beginnt sie dann dramatisch. Ich halte die Luft an. Werde ich endlich jene mysteriöse Wahrheit erfahren? Ich starre ihre Lippen an, welche sich langsam öffnen. Wird jetzt alles aufgeklärt werden?

"Jessie Harvey hat diese Welt verraten"

Gebannt starre ich Silverstone an.

"Sie beendete zwar den Krieg doch schuf etwas, was viel schlimmer ist als das"

Mein Mund öffnet sich immer mehr. Irgendwie habe ich mehr Fragen als vorher.

"Cade Harvey ist der Böse, nicht ich"

Jetzt bin ich vollkommen verwirrt.

"Die Wahrheit ist, Leo, du wurdest getäuscht. Von Anfang an"


...

PoV. Scott

"Elena! Was ist passiert?", ruft meine Mutter panisch aus, als das Dienstmädchen mit schwarzen Haaren auf sie zugelaufen kommt. "Hannah! Hannah!", schluchzt sie dabei und wirft sich meiner Mutter in die Arme. Der Flur ist sonst menschenleer, nur Elijah Harveys Gemälde wachen über uns. "Sie hat es herausgefunden, das mit meinem Kind", wimmert das Dienstmädchen. Hannah versteift sich in der Umarmung. Dann drückt sie das Dienstmädchen etwas von sich weg, nimmt ihr Gesicht in beide Hände und sieht sie eindringlich an.

"Das ist nicht wahr, sag mir, dass das nicht wahr ist!", ruft Hannah aus. Doch Elena nickt nur. Ihre silbernen Augen leuchten durch das Zwielicht. Geschockt sehe ich Hannahs Rücken an, als sie das Dienstmädchen loslässt. "Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße!", flucht diese vor sich hin, legt sich eine Hand auf die Stirn und beginnt, im Kreis zu laufen. "Hannah?", flüstert das Dienstmädchen schließlich. Meine Mutter bleibt stehen und sieht das Dienstmädchen an.

"Es war dein Mann... Cade hat mich verraten", wispert sie dann.

Hannah gefriert zu Eis. "Was... Cade?", widerholt sie den Namen. "Das kann nicht sein, das würde er nicht machen", fährt sie fort. "Ich werde sofort mit ihm reden!". Dann drückt sie das Dienstmädchen zur Seite und stürmt den Gang entlang. Ich schlucke und sehe die junge Silverstone an, die meiner Mutter hinterherschaut. Ich schüttle den Kopf, dann folge ich meiner Mutter hastig. Sie biegt um eine Ecke und steuert das Arbeitszimmer von Jessie Harvey an.

Und mit einer gezielten Bewegung lässt sie die Tür aufkrachen. Etwas außer Atem folge ich ihr in den Raum, in dem nur ihr Mann Cade sitzt. "Was hast du getan?", fährt sie ihn an. Dieser sieht nur von dem Blatt Papier auf, welches er grade unterzeichnet. "Hannah. Du kannst hier nicht einfach so hereinplatzen!", erwidert er etwas überrascht. "Du hast sie verraten! Du weißt genau, dass sie eine gute Freundin von mir ist!", fährt Hannah bissig fort. "Hannah, beruhige dich bitte", erwidert Cade nur und steht ebenfalls auf.

"Du hast sie an deine Alte verraten! Die wird uns noch auseinanderbringen, diese böse alte Hexe!", schreit Hannah ihn an. In Cades Augen sammelt sich auf einmal blanke Panik, doch Hannah sieht ihn nur weiter böse an.

"Weißt du, du kannst gleich mit deiner dreckigen Omega-Freundin in die nächste Sklaverei verbrannt werden"

Die Stimme ist wie ein Regen aus Messern, ein Orkan aus Klingen, der sich einem ins Herz bohrt. Hannah gefriert zu Eis und fährt herum, nur um in das feixende Gesicht von Jessie Harvey zu blicken. "Aber ich werde gnädig sein. Du bist nur etwas verwirrt, armes Ding", fährt Jessie fort und streicht Hannah über die Schulter. Doch ehe Hannah etwas erwidern kann löst sich die Szene vor meinen Augen auf.

...

PoV. Leo

"Wie meinen Sie das, getäuscht?", stammle ich etwas überfordert. Silverstone lehnt sich zurück. "Jessie Harvey, die NERO, Cade Harvey, die Underground-Labs, die Sklaverei", setzt sie dann an und beobachtet jede meiner Reaktionen. "Sie alle haben eines gemeinsam: Sie richten Schaden an Omegas an". Ich schlucke. "Und genau das ist es, was Jessie Harvey geplant hat. Was glaubt du, warum der Krieg ausgebrochen ist? Die Omegas haben sich gegen die Alphas aufgelehnt. Damals, vor vielen, vielen Jahren, als der Tribe gegründet wurde".

"Doch wir haben den Überblick verloren. Jessie Harveys Strategien waren zu gut, wir haben verloren. Doch sie bestrafte uns härter als jede Niederlage. Sie wollte uns das Omega-Dasein entfernen. Sie ließ jenes Labor bauen, riesige Räumlichkeiten nur zum zerstören der Omega-Kultur. Und jetzt rate mal, wer jetzt in diesen Ruinen ihre Bunker gebaut haben?"

Ich sehe wieder die Tischplatte an. "Cade Harvey", wispere ich dann leise.

"Leo! Sie täuschen Alle. Sie wollen die Unterdrückung weiterverfolgen. Cade Harvey wird die Underground-Labs wiederbeleben. Er wird die Omegas dieser Welt zur Ware machen, wird sie jagen und umbringen lassen. Er ist der Böse, nicht wir-"

"Stopp! Rufe ich dazwischen und sehe sie fassungslos an. "Sie sind krank! Sie sind besessen! Cade Harvey will nur das beste für uns! Er hat Scott und mich in ein Sicherheitshotel verfrachtet. Er hat uns beschützt, er hat-"

"Gar nichts hat er. Er hat nur etwas erkannt. Etwas, was seinen ganzen Plan gefährdet. Seinen kranken Plan, den er von Jessie Harvey eingepflanzt bekommen hat", erklärt Silverstone ruhig weiter. Ich starre sie nur an. "Und was soll diese Erkenntnis gewesen sein?", fahre ich sie an.

"Ganz einfach: Scott ist das Problem. Er hätte die Macht, den Plan seines Vaters mit einem Mal fünfzig Millionen Leuten zu offenbaren. Die Presse würde sich überschlagen und ein Bürgerkrieg würde ausbrechen. Omegas auf der ganzen Welt würden sich aus der Täuschung erheben und alles geben, diesen Plan zu verhindern. Den Krieg könnte Cade Harvey niemals managen. Das weiß er"

Ich schüttle den Kopf. Nicht aus Unglaube, sondern aus Wahnsinn. "Was soll das? Was erzählen Sie mir hier?", rufe ich überfordert aus.

"Weil du der Schlüssel bist, das Element, das alles ändert"

"WARUM BIN ICH DAUERND EIN SCHLÜSSEL?!", schreie ich sie an.

"Weil du und Scott Mates seid", beginnt Silverstone, jetzt doch etwas aufgebracht, "du bist auf einmal für Cade Harvey genauso gefährlich wie Scott, den Scott würde dir sofort glauben. Harvey muss nun nicht nur ihn, sondern auch dich manipulieren. Er konnte euch auch nicht einfach so auseinanderreißen oder eure Liebe verbieten. Er musste Scott immer beschäftigt halten. Er darf es nie erfahren"

Ich kann es nicht verhindern. Ihre Worte fügen sich wie Puzzleteile in meinem Kopf zusammen. Als würde sich mein Kopf einmal um seine eigene Achse drehen, um 180 Grad wenden. "Das... das kann alles nicht sein", wispere ich und sinke in meinen Stuhl zurück.

"Deshalb bist du hier. Deshalb haben wir dich gesucht. Deshalb haben wir Scott gesucht", beantwortet sie selber ihre Frage von vorhin. 

"Deshalb haben wir dich nach der Explosion hergeholt. Die NERO würde nicht nach dir suchen, da allen glauben, du seihst tot" 

...

PoV. Scott

Während ich langsam in das Kalte zurückkehre sehe ich noch, wie meine Mutter und Silverstone gemeinsam versuchen, mich aus dem Harvey-Anwesen zu befreien. Wie sie von Julie aufgehalten werden. Wie Hannah mir einen Abschiedskuss auf die Stirn haucht und schließlich in die Dunkelheit verschwindet. Wie sie einen gefälschten Brief des Omega-Tribes dalässt. Ich sehe meinen Vater, wie er voller Wut den Brief in Fetzen reißt. Und erst jetzt verstehe ich, dass ich nie entführt werden sollte. Dass ich gar nie in Gefahr war. Im Gegenteil, ich wurde von einer ganz, ganz anderen Person bedroht.

Meinem eigenen Vater.

Ich sehe, wie er mich drangsaliert. Dafür, dass mich meine Mum geliebt hat. Er missbrauchte mich als Boxsack für seinen Frust. Für den Frust über seinen Kontrollverlust. Ich sehe, wie er von seiner Mutter verprügelt wird, wie sie ihn anschreit und fertig macht. Ich sehe Julie, wie sie vor der Tür sitzt und weint. Und ich sehe Leo, welcher seine ersten Jahre in der Sklaverei verbringen wird. Ich sehe es alles. Und alle Lücken schließen sich.

Als ich wie in Zeitlupe durch die dünne Eisschicht stoße spüre ich, wie mit ihr auch die ganzen Illusionen zersplittern, die mir mein Vater sorgsam eingeprägt hat. Bittere Kälte empfängt mich. Unendliche Dunkelheit umrundet mich. Noch nie habe ich mich so belogen und hintergangen gefühlt. Doch auch wenn es einige Unklarheiten gibt spüre ich, dass dieser See genau das zur Aufgabe hatte. Mich auf meinen richtigen Weg zu leiten.

Ich sehe gen Himmel. Der Mund ist hinter Wolken verschwunden, und erneut fallen Schneeflocken vom Himmel. "Scott! Um Himmels Willen!", höre ich Ayleens aufgeregte Stimme. Vorsichtig lässt sie sich auf das Eis gleiten und krabbelt zu mir rüber, damit das Eis nicht unter ihr bricht. Geübt zieht sie mich aus dem Eisloch heraus. Bibbernd lande ich am Ufer und sehe komplett nass zu ihr hoch.

"Was machst du denn, Scotty?", fährt sie mich außer Atem an. "Ich... ich habe so viel gesehen, also...", setze ich zitternd an. Dann hole ich tief Luft und beruhige mich etwas, doch kommt mir auf einmal ein Gedanke. Er wirkt fremd, als hätte ihn mir jemand eingeflüstert. Wenn mich nicht alles täuscht ist es sogar Leo... oder?

"Ich war nur unvorsichtig, das ist alles", breche ich meine Erzählung dann ab. Ayleen zieht nur eine Augenbraue hoch und hebt mich dann auf die Füße. "Lass uns zurück, bitte. Das war eine furchtbare Idee, Mensch!", flucht sie vor sich hin.

Während wir uns den Bäumen nähern sehe ich nochmal auf den See zurück. Ich stocke. Die Eisfläche ist wieder geschlossen. Als wäre nichts gewesen. Ich schüttle den Kopf, drehe mich dann jedoch um. Ich muss verarbeiten, was passiert ist. Ich fühle mich, als wäre alles um 180 Grad gedreht.


(2851 Words...)

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