Forty-Nine | Schmelzender Schnee | XLIX
"Sieh' dich doch mal an. Du warst bestimmt seit Tagen nicht trainieren! Du siehst widerwertig aus. Du weißt, dass du niemals diese Nation führen wirst. Oh nein, lieber bringe ich mich um. Jetzt lass deine Social-Media-Wichser irgendeinen anderen Post machen. Ich will deinen hässlichen Körper heute nicht auf deinem Feed sehen. Die Leute sollen ja keinen Kotzreiz bekommen. Und jetzt zieh' Leine, geh' mir aus den Augen"
"Ja, Dad"
...
Eine Woche nach Jamies Anschlag
PoV. Scott
Ich habe das Geräusch von Schnee unter meinen Schuhen immer schon geliebt. Wenn Julie und ich unter Evas wachsamen Augen im riesigen Garten des Harvey Anwesens Schneemänner gebaut haben. Die dann zwar später von Dad beseitigt wurden. Oft haben wir die Schneemänner so versteckt, dass sie bis zum Ende des Winters überlebten. Dass Dad sie niemals finden würde. Dass er nicht das zerstören konnte, was wir teilten. Die NERO-Agenten im Harvey Anwesen meinten, sie hätten Nachrichten von Julie. Julie hätte Jamies Anschlag überlebt. Sie sei auf dem Weg nach Oxion.
Die Agenten sagten dies, als sei es die tollste Nachricht überhaupt. Doch Julie hat sich für meinen Vater entschieden. Sie wollte sich ihm anschließen, anstatt mir. Erneut hat mich jemand hintergangen, von dem ich es nicht erwartet hätte. Langsam strecke ich meine Hand aus. Wie als würde ich versuchen, eine der Schneeflocken zu fangen. Was geschieht mit mir? Ich stehe hier draußen. Ich wollte nur etwas durch die Gartenanlage streifen. Doch stattdessen stehe ich hier rum, die geschlossene Türe im Rücken. Und die Schneeflocken landen nur auf meiner teuren Jacke, wo sie sofort wieder schmelzen.
Die Schneedecke ist bestimmt schon einen halben Meter hoch. Die Skyline von Oxion, welche sonst immer in der Ferne prangt, ist nur schemenhaft durch den Schneefall zu erahnen. Man erkennt nur hin und wieder ein goldenes Glitzern. Oxion bereitet sich auf Weihnachten vor. Oder wollte es. Denn Jamie kam dazwischen. Weihnachten ist auch so eine Sache. Früher hat immer Eva für uns Geschenke geholt. Teure, kitschige Sachen. Sie hat immer gedacht, wir würden sie als Mum akzeptieren. Doch sie ist nur ein Abklatsch der Mutter, die ich kannte. Die Mutter, die ich immer wollte.
Doch wenn ich ehrlich bin... weiß ich gar nichts mehr von Mum. Von Mrs. Perkins. Ich weiß nichts mehr von ihr. Nur die Bilder, die Dad früher aufhängen hatte. Die Bilder, die er irgendwann alle verbannt hat. Doch trotzdem bin ich sauer auf Eva. Sie hat ein Monster geheiratet. Sie tat so, als würde sie sich um uns Sorgen. Ich schnaube, dann setze ich mich doch endlich in Bewegung. Der Schnee knirscht. Mein Schaal ist etwas zu fest. Meine Jacke fühlt sich fremd an. Als hätte ich sie von einem Freund ausgeliehen. Als hätte ich dieses Leben nur ausgeliehen.
Etwas in mir verändert sich. Etwas fühlt sich anders an. Leo anzufassen ist immer noch so unglaublich schwer. Und doch vermisse ich ihn. Ich spüre, wie er sich von mir entfernt. Die Person, die ich am meisten brauche. Die Person, zu der ich gehöre. Und doch ist es, als würde ich Leo durch eine Wand aus Eis sehen. Wie er immer weiter verschwimmt. Ich fasse mir ans Herz. Durch meinen Handschuh fühlt sich meine Jacke noch komischer an. Ich schließe die Augen. Fast schon manisch versuche ich, mich auf Leo zu fokussieren. Auf sein Lachen, sein Lächeln. Seine wuscheligen Haare. Leicht muss ich lächeln.
Dann durchzieht mich ein Ruck. Auf einmal zucken mehrere Bilder an meinem inneren Auge vorbei. Dad, Mrs. Perkins... ich selbst. Ich reiße die Augen auf. Dann schüttle ich den Kopf. Das ist so frustrierend. Ich beiße die Zähne zusammen und drehe mich um. Das Harvey-Anwesen ist tief verschneit. Die Strahler, welche die Außenwand normalerweise nachts anleuchten, sind sogar jetzt an. Obwohl es früh am morgen ist. Doch die Lichtsensoren nehmen nicht genug Tageslicht wahr. Ich atme tief ein. Ich atme tief aus. Dann schließe ich die Augen erneut. Was ist los mit mir?
Ich fokussiere mich wieder auf Leo. Auf seine Berührung. Es muss doch irgendwie gehen, verdammt! Meine Gedanken kreisen nur um den Jungen, welcher mein Leben verändert hat. "Leo", wispere ich leise, "Ich liebe dich doch". Nichts passiert. Genervt öffne ich die Augen wieder. Wo ist die Verbindung nur hin? Als wir so weit entfernt waren ging es doch problemlos! Das ist alles die Schuld von Dad. Von Cade fucking Harvey! Ich hasse diesen Namen! Ich hasse alles an ihm! Ich balle die Hände zu Fäusten. Dann hebe ich etwas Schnee auf und forme es zu einer Kugel.
"ICH HASSE DICH!", rufe ich aus, ehe ich den Schneeball mit voller Wucht auf das Harvey-Anwesen schmeiße. Ein dumpfes 'pock' ertönt. Mehr nicht. Angestachelt von diesem mickrigen Ergebnis hole ich mir die nächste Ladung Schnee. "Ich hasse alles an dir!". Auch dieser Schneeball verursacht keinen Schaden.
Meine Adern beginnen zu pochen. Das erste Mal seit gefühlten Jahren habe ich das Gefühl, wieder zu leben. Als würde wirklich Blut durch meine Adern schießen. Als würde mein Puls langsam meinen Körper auftauen.
"Ich schäme mich dafür, den Namen Harvey zu tragen!", schreie ich dem Haus entgegen, wobei mein Atem kleine Wolken vor meinem Mund entstehen lässt. Der Schneeball trifft erstmals ein Fenster. Doch reicht mir das nicht.
"DU HAST MICH ZERSTÖRT!". Diesmal werfe ich zwei Schneebälle auf einmal und beginne, mich auf das Anwesen zuzubewegen. "DU HAST MEINE BEZIEHUNG ZERSTÖRT!". Langsam werde ich heiser. Alles um mich herum verschwimmt. Ich sehe nur den Mann, der mich großziehen sollte.
"Ich will mein Leben zurück! ICH WILL LEO ZURÜCK!"
Wieder nur ein dumpfes 'pock'.
"BITTE! LASS MICH IN RUHE!".
Mein Atem ist schwer. Die kalte Luft brennt in meinen Lungen. Doch ist es mir egal. Es ist mir komplett egal. Ich will nicht mehr. Ich will endlich ich sein!
"ICH TUE ALLES! ICH TUE ALLES FÜR LEO!"
Der Schneeball zerschmettert mit voller Wucht das große Fenster des Speisesaals.
Meine Armmuskeln brennen von der enormen Kraft, die ich auf das tiefgefrorene Geschoss übertragen habe. Ich starre das zerstörte Fenster an. Wie in Zeitlupe produziert mein Atem weiterhin kleine Wolken vor meinem Gesicht. Doch ist das alles bedeutungslos.
Ich strecke die Hände aus. Ein Lächeln formt sich auf meinen Lippen. "Hey, Leo", wispere ich sanft. Die Verbindung ist wieder da, als hätte man einen Schalter umgelegt. Etwas überrascht sieht mich Leo an. Ich weiß, dass er nicht wirklich hier ist. "Wir haben eine Mate-Verbindung", füge ich vollkommen überflüssigerweise hinzu. Gefühle schleichen durch meine Adern. Wie bunte Tinte, die man in warmes Wasser gießt. Liebe, Glück, Fröhlichkeit. Wie ein langsames und sanftes Karussell umspielen sie mich. Ich schließe die Augen und atme die kalte Luft ein.
Ich habe den Winter schon immer geliebt.
...
PoV. Leo
Ich starre die Wand an. Ich habe Scott gesehen. Es war wirklich Scott! Seit Tagen haben wir nicht wirklich geredet. Wir sind wie die Welt draußen versunken. Nur Nachts hat er mich festgehalten. Doch das grade... es war, als hätte man einen alten Apparat, der seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet wurde, erneut zum Leben erweckt. Das Gefühl der Mate-Verbindung. Scotts Berührung war nur ganz leicht, und doch hat sie sich so intensiv angefühlt. So stark wie noch nie. So schön wie noch nie.
Auf einmal löse ich mich aus meiner Starre. Ich springe auf und stürme zu Scotts Zimmertür. So schnell wie lange nicht mehr sprinte ich durch die Flure. Ich fühle mich, als könnte ich fliegen. Mein Herz pocht in meiner Brust und meine Beine schmerzen. Doch das alles ist mir scheiß egal! Der hochwertige Teppichboden kitzelt meine nackten Füße, während ich darüber hinwegsprinte. Noch nie kam mir dieses dunkle Haus so unglaublich aufregend vor. Auch wenn durch die Fenster nur ein trübes Blau ins innere dringt. Seit gefühlten Jahren war ich nicht mehr so lebendig.
Ich komme in der Eingangshalle an und stürme die Treppe hinunter. Doch als ich unten ankomme merke ich, dass etwas nicht stimmt. Ein merkwürdiger kalter Wind strömt mir entgegen. Ich fröstle etwas. Aus dem Speisesaal dringen aufgeregte Stimmen. Jetzt doch etwas vorsichtig tapse ich in Richtung des großen Portals und schiebe es auf. Mein Blick fällt auf Eva, Jason und Pia. Um sie herum stehen ein dutzend NERO-Agenten. Sie alle betrachten das-
Zerstörte Fenster?
Ich staune nicht schlecht. Der Speisesaal ist übersäht mit Glasscherben eben dieses Fensters, vor dem ich letztens mit Eva saß. Ich blinzle einmal. "Was zur Hölle?", höre ich eine Stimme hinter mir. Ich zucke leicht zusammen. "Man, was schleichst du dich so an?", erwidere ich, doch Rae reibt sich nur die Augen. "Ich habe jemanden schreien gehört. Dann war dieser Knall... was ist denn passiert?", erwidert Rae nur und gähnt. Ich drehe mich wieder um. "Ich habe keine Ahnung. Hoffentlich ist nichts mit Scott...", murmle ich, da entdeckt mich Eva.
"Leo! Gott sei Dank. Ich glaube, Scott geht es gar nicht gut. Er hat das Fenster mit einem Schneeball eingeschmissen. Der Junge ist nicht mehr bei Vernunft!", beginnt sie aufgeregt, während sie hektisch auf mich zugelaufen kommt. Dabei weht ihr Morgenmantel, welcher vermutlich aus schwarzer Seide besteht. "Scott hat...", setze ich etwas verdutzt zu einer Antwort an. "Ja, ja, hat er. Er ist noch draußen irgendwo. Vielleicht solltest du nach ihm sehen?", fährt Eva fort und dreht sich erneut zu dem Fenster um, um es von unserer Position erneut zu betrachten.
Ich schweige immer noch komplett verwirrt. "Ich kann das auch machen", wispert Rae neben mir, doch ich lege nur eine Hand auf seinen Arm. Dann lächle ich leicht. "Nein, danke. Ich würde das gerne machen", erwidere ich flüsternd. Rae nickt nur als Antwort. Dann lächelt er auch. "Das letzte, was er geschrien hat, war: 'Ich würde alles für Leo tun'. Das habe ich perfekt verstanden", fügt Rae dann noch leiser flüsternd hinzu und grinst mich an. Mein Herz macht einen Hüpfer. Auch wenn es nicht mehr so ganz wusste, wie das geht. Trotzdem sammeln sich Tränen der Freude in meinen Augen. Raes ehrliches Lächeln und die kurze Verbindung mit Scott wenige Minuten zuvor haben mir irgendwie eine Energie verliehen, von der ich nicht mehr wusste, dass ich sie habe.
Ich blicke noch einmal gedankenverloren zu Eva, welche immer wieder unschlüssig zur Tür schaut. Dabei verschließt sie ihren Morgenmantel und verschränkt die Arme. Schneeflocken wehen in den Speisesaal. Es ist ein abstruses Schauspiel. Mein Puls pocht in meinem Hinterkopf, während ich die Türe ansteuere. Eva macht kurz Anstalten, mir zu folgen, doch wird sie von Pia sanft zurückgehalten. Eine merkwürdige Kraft zieht mich immer weiter nach draußen. Meine Hand legt sich auf den Türgriff. Mit einer sanften Bewegung lasse ich die Türe automatisch aufgleiten, als hätte ich es schon tausendmal gemacht.
Die Luft knistert. Schneeflocken wirbeln durch die Gegend und vernebeln mir die Sicht. Mein Blick schweift durch die Gartenanlage. Einige Meter entfernt erkenne ich einen Körper. Was um alles in der Welt macht er da? Fröstelnd tapse ich auf nackten Füßen durch den schneidenden Schnee. Die Eiskristalle sind scharf, angesichts der extremen Kälte. Je näher ich Scott komme, desto mehr knistert die Luft. Wie eine Spannung. Scott liegt rücklings im Schnee. Als ich näher komme, höre ich ihn lachen. Ich runzle die Stirn. Das hat schon etwas irres an sich. Trotzdem wird mein Atem schwerer. Mein Puls beschleunigt sich.
"Leo?", höre ich die Stimme meines Freundes. Schnell rappelt er sich auf und kommt auf mich zu. Er verströmt eine mysteriöse Energie. Eine Energie, die ich von ihm nicht gewohnt bin. Etwas ist hier anders. Unter diesen dicken Schneeschichten hat sich etwas verändert. Etwas, das nun endlich beginnt, durchzubrechen. Beim Klang seiner Stimme strömen aufregende Gefühle durch meine Venen. "Scott", erwidere ich wispernd, was fast von dem Geräusch der fallenden Schneeflocken übertönt wird.
"Hast du es gespürt?", erwidert Scott fast ebenso leise und bleibt kurz vor mir stehen. Ich nicke nur leicht, hypnotisiert von dem funkelnden Grün seiner Augen. Dieses Grün ist so wunderbar. Ich habe das Gefühl, mich in ihnen zu verlieren. Wie ein unaufhörlicher Sog zieht mich das Grün in seinen Bann. Die Kälte des Winters um mich herum verschwindet. Wie als würden die Schneeflocken schmelzen, die in unsere Nähe gelangen. Mein Herz pocht. Es fühlt sich an, als würde etwas in mir versuchen, eine Blockade zu lösen.
Scott kommt näher. Seine Augen strahlen wie zwei Kerzen in einer kalten Dunkelheit. Sein Atem schlägt gegen meine Lippen. Unser Blickkontakt stoppt immer noch nicht. Die Welt geht in Zeitlupe, als sich unsere Lippen berühren. Meine Augen schließen sich, während uns die Schneeflocken wie in einer perfekten Symphonie umspielen. Als würde alles Unwichtige zufrieren. Erst spüre ich nur mein Herz pochen. Wie als würde eine Uhr in tosende Stille hinein ticken. Dann spüre ich seine Hände an meinen Hüften.
Besitzergreifend drückt er mich an sich. Von seinen Berührungen strömt eine Hitze durch meinen Körper. Eine Hitze, die mich komplett immun gegen die Kälte von außen macht. Der Rhythmus meines Pulsschlages führt mich durch den Kuss. Sein Duft umhüllt mich. Meine Hände legen sich auf seinen Oberkörper, ertasten die Strukturen unter seiner Winterjacke. Ich spüre, wie sich seine Oberarme anspannen, als er mich enger an sich drückt. Ich beginne leicht zu zittern, da realisiere ich, was los ist.
Und mit einem Mal besiegt meine Heat die Unterdrücker. Eine heiße Welle durchströmt mich, als hätte man einen Eimer heißes Wasser über mir ausgekippt. Es durchdringt mich, strömt in jede meiner Venen, füllt mich bis zur letzten Muskelfaser. Mein ganzer Körper vibriert. Ich spüre, wie meine Kraft schwindet. Scotts Arme fühlen sich wie das beste und schönste auf der ganzen Welt an. Wie ein sicherer Hafen, in den ich gehöre. Die ganze fehlende Zuneigung der letzten Wochen entlädt sich auf einmal. Als hätte mich ein Blitz getroffen und mit Millionen Volt aufgeladen.
"S-Scott", wimmere ich leise gegen seine Lippen. Er unterbricht den Kuss und sieht mich an. Sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. "Du bist so wunderschön", haucht er sanft und küsst mich erneut. Eine erneute Welle schießt durch meinen Körper. Was hätte ich damals dafür gegeben, so etwas von ihm zu hören. Leicht und doch bestimmt legt er eine Hand in meinen Nacken und drückt meinen Kopf näher an sich, um den Kuss zu verstärken. Mein Verlangen wird unermesslich. Ich spüre, wie die Mate-Verbindung in diesem Moment so synchron wie nie ist. Als würde ich spüren, was er spürt und umgekehrt.
Schwer atmend löse ich mich von ihm. Ich beobachte kurz, wie Schneeflocken in seinen Haaren landen und fast sofort schmelzen. Seine Augen strahlen wie nie zuvor. Ein Funkeln, dessen Kraft und Stärke mich verzaubert. Er hält mich immer noch fest, als wäre ich komplett hilflos.
"Ich liebe dich", hauchen wir beide komplett synchron, dann lächeln wir.
Ich brauche ihn, hier und jetzt!
(2394 Words)
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