Prolog


Ich hatte noch nie groß darüber nachgedacht, wie es wohl ist anders zu sein.
Warum auch? Schließlich war ich nie Anders.
Ich war perfekt, zumindest sagte mir das jeder.
Hübsch, klug, reich, begehrenswert... So wie jeder andere Bewohner des Nordviertels.
Anders sein hingegen war schlecht.
Anders aussehen, Anders denken, Anders auftreten.
Wer Anders war, der war verdorben, böse, ein Schwerverbrecher.
Ich hatte noch nie groß darüber nachgedacht, Anders zu sein, denn dieses Wort hatte ich immer gefürchtet.
Doch das Anders sein geht nicht von sowieso bis sowieso.
Es überfällt dich nicht auf einmal wie ein Raubtier oder ein gefährlicher Virus und vernichtet deine bisherige Existenz.
Viel eher sitzt es tief in deinem Inneren, verborgen und schlummernd, wartet nur darauf, an die Oberfläche zu gelangen.
Ich hatte noch nie groß darüber nachgedacht, wie es wohl ist Anders zu sein, bis ich realisierte, dass ich es vielleicht auch war.
Auch wenn ich noch gestern dem Ideal entsprach, konnte ich heute dennoch böse, verdorben, ein Schwerverbrecher sein, weil ich nun Anders war?
Ich hatte noch nie groß darüber nachgedacht, wie es wohl ist Anders zu sein, hatte es verdrängt, bin vor der riesigen Sünde geflohen.
Doch wie kann etwas so schlechtes, so verdorbenes, sich nur so gut anfüllen.
Wie kann ich vor dem Anders sein nur fliehen, um mein altes Ich zu retten, wenn der bittersüße Klang in meinem Herzen mir den Glauben schenkt, dass mein wahres, erfülltes Ich, ohne Kummer und Schmerz, nur darauf wartet, frei gelassen zu werden.
Ich hatte nie groß darüber nachgedacht, wie es wohl ist Anders zu sein, bis ich selber vor der Wahl stand.
Lebe ich weiter in meiner alten Gewohnheit, in der riesengroßen aber sicheren Seifenblase meiner eigenen Lüge, oder kämpfe ich, lasse die Veränderung über mich ergehen und stelle mich meinen eigenen Konsequenzen.
Ich hatte früher nie groß darüber nachgedacht, wie es wohl ist Anders zu sein, bis mich die Erkenntnis traf.
Wozu lohnt sich ein einziges, langes Leben, wenn keiner es nach seinen Träumen Leben darf?
Lasse das Anders sein zu, lass andere leben, lebe dein Leben, denn wenn du erstmal den riesigen Schatten deiner selbst Überwindern hast, so wirst du merken, dass das Anders sein nicht nicht verdorben ist, im Gegenteil.
Das Anders sein ist das, was dich Lebenswert und einzigartig macht.
Es ist das, was dich und jeden anderen, menschlich macht.

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