Kapitel 4

Benommen und verschlafen schreckte Isabella hoch.
Sie befand sich in ihrem Bett.
Noch immer trug sie ihre Klamotten vom Vortrag, die verdreckt vom Baum waren und ihre Hände waren noch immer ganz dreckig vom schmutzigen Hausdach.
Am liebsten hätte Isabella sich wieder zurück ins Bett gelegt, die Augen geschlossen und Stunden, nein lieber den ganzen Tag geschlafen.
Sie hatte den Weg zum Südviertel eindeutig unterschätzt und war gestern sowieso viel zu spät heimgekehrt.
Außerdem verspürte Isabella ein weiteres Gefühl tief in ihrem Bauch.
Unbehagen und Scham.
Was war gestern nur in sie gefahren?
Wie konnte sie ihre Eltern nur derart hintergehen?
Das Südviertel war schlecht, die Menschen waren Böse und dennoch war Isabella zu ihnen gegangen und hatte mit ihnen gesprochen.
Verdammt, sie hatte dem Mädchen ihre Tasche geschenkt.
Verlegen kaute sie auf ihrer Lippe herum.
Konnte denn ein so kleines Mädchen wahrhaftig die gleiche Boshaftigkeit besitzen wie die übrigen Bürger?
Laut ihres Vaters eindeutig ja!
„Miss Isabella"
Leise klopfte es an der Tür.
„Ihr Essen steht bereit für sie.", teilte die Haushälterin ihr mit.
Isabella seufzte, dann murmelte sie ein kleines „Danke", schlug die Decke zurück und rappelte sich widerwillig auf.
Nachdem sie sich in Windeseile gewaschen hatte, warf sie ihre Sachen über ohne auch nur darauf zu achten, was sie anzog und ging in den Speisesaal.
Dort wartete bereits ein Vollbedeckter Tisch auf sie.
Ein riesiger Stapel Pfannkuchen, frisch gebackene Brötchen, Rühreier und die verschiedensten Obstsorten türmten sich auf dem Tisch.
Isabellas Eltern wahren anscheinend schon fertig mit dem Essen und bereits aus dem Haus.
Dies verriet zumindest die noch aufgeschlagene Zeitung ihres Vaters, die auf dem Tisch lag.
Isabella setzte sich und betrachtete mit flauen Magen das Essen, bekam sie überhaupt irgendetwas hinunter?
Aus Höflichkeit schnappte sie sich eine Gabel und angelte sich ein paar Erdbeeren und Himbeeren, die sie mühselig hinunterschluckte.
Sie wusste nicht, warum sie heute nur so dermaßen neben der Spur war.
Sie hatte doch gestern dem Mädchen die Tasche wiedergegeben, sie hatte doch ihren Roman wieder, woran lag also das Problem?
Sie fühlte sich Schuldig!
Schuldig gegenüber ihrer Eltern, sie derart hintergangen zu haben und gleichzeitig verwirrt, verwirrt, weil sie einfach nicht begreifen konnte, wie alle Menschen aus dem Südviertel nur so derart böse sein konnten.
Sie wirkten alle auf den ersten Blick doch so normal.
Oder war das der Trick hinter der ganzen Sache?
Doch wenn sie dieses Verhalten besaßen, wenn sie so Böse waren, warum betrachteten sie Isabella alle so, als wäre sie der schlechteste Mensch, den es jemals gegeben hatte?
Sie seufzte, legte die Gabel auf den Teller und bedankte sich mit einem kurzen Lächeln bei ihrer Haushälterin.
Als sie sich die Zähne geputzt hatte und ihn ihre Schuhe geschlüpft war, machte sie sich auf den Weg zur Schule.
Diesmal fuhr sie einer der Angestellten.
Unbehagen machte sich in Isabella breit, es war lange Zeit her gewesen das sie ihren Vater morgens nicht gesehen hatte.
Zugegeben sahen sich die beiden nicht oft, doch am Morgen hatte er sich immer bemüht seine Tochter zu sehen, mit ihr zu Frühstücken oder sie zur Schule zu fahren, oder ihr wenigstens guten Morgen zu sagen.
Doch heute war er nicht da gewesen, was bedeutete, dass er ihr das gestrige benehmen übel nahm.
Isabella schämte sich.
Sie hasste es, ihren Vater enttäuscht zu haben.
Ihr Vater war ihr Vorbild, ihr Held!
Schon seit Isabella ein kleines Mädchen war, versuchte sie ihren Vater ständig und überall zu beeindrucken, wahrscheinlich weil sie eben ein Held sein wollte, so wie er.
Doch jetzt hatte sie ihn wieder enttäuscht!
Isabella schlug sich innerlich mit der Flachen Hand gegen ihr Gesicht.
Dabei war die Beziehung zu ihrem Vater davor doch so gut verlaufen.
Das Auto hielt vor dem Gebäude der Schule.
Isabella bedankte sich, stieg aus und ging mit nur wenig Motivation in Richtung des Gebäudes.
Auf dem Weg dorthin, nahm sie sich fest vor, alles bei ihrem Vater wieder gutzumachen.
Sie konnte ihn ja ein schönes Stück auf dem Klavier vorspielen.
Doch eins war sicher und das schwor sich Isabella hoch und heilig, sie würde nie wieder auch nur einen Positiven Gedanken an das Südviertel verschwänden!
Als Sie in den Klassenraum kamen, war es laut.
Die Jungs saßen in ihrer Ecke und lachten laut und die Mädchen taten dasselbe, in ihrer Ecke des Raums.
Obwohl es Isabella zugegeben nicht sonderlich mochte sich zu den anderen zu stellen, tat sie es diesmal.
Sie wusste wie sehr es ihre Eltern hassten, wenn sie sich von den übrigen Menschen absonderte.
Natürlich war das Hauptgesprächsthema, der gestrige Ausflug.
Innerlich verdrehte Isabella die Augen.
Warum musste sie nur immer wieder daran erinnert werden?
„Da habe ich also mit diesem jungen Mann geflirtet und es stellte sich heraus das es einfach nur ein dreckiger Südviertler ist!", rief Blondi eins pikiert.
„Wie aussehen nur so täuschen kann", Blondi zwei Schüttelte angewidert den Kopf.
„Wahrscheinlich haben wir uns jetzt alle einen Virus oder schlimmeres eingefangen und ich fand den Jungen erst so süß, stellt euch vor, ich habe überlegt ihm zum Essen einzuladen!"
Die Mädchen brachen in ein schallendes Gelächter aus, doch Isabella schwieg.
Die Menschen aus dem Südviertel waren böse, schlechte Menschen, doch warum ekelte man sich vor ihnen?
„Isabella!", noch tief in Gedanken versunken blickte Isabella auf.
„Ich habe gehört, einer dieser Unmenschen hätte dich beklaut und dein Vater wäre persönlich hingefahren, um für Ordnung zu sorgen", ihre Augen blitzen aufgeregt.
„Und hat er sie bestrafen lassen?".
Kurz überlegte Isabella was sie antworten sollte, dann entschied sie sich aber für die Antwort, bei der sie sich ohnehin sicher war, dass alle sie hören wollten.
„Klar!", sie versuchte so amüsiert wie möglich zu gucken.
„Es war ein Vergnügen!", die Mädchen brachen in ein schallendes Gelächter aus und Isabella füllte sich auf einmal so Unbehagen, das sie sich wünschte, auf der Stelle wieder nach Hause zu können.
Den ganzen Tag über war sie in Gedanken versunken.
Als sie endlich auch die letzte Schulstunde hinter sich gebracht hatte, beschloss sie anstatt wie üblich auf ihren Wagen zu warten, heute lieber nach Hause zu gehen.
Sie trat aus dem stickigen Schulgebäude und atmete die klare Luft ein.
Obwohl es grade mal August war, war es ein sehr milder Tag.
Eine kalte Priese flog durch Isabellas Haar und ließ sie erleichtert ausatmen.
Keine Mitschüler, sondern nur die leise Natur.
Während sie nach Hause ging, überlegte sie fieberhaft, was sie wohl tun könnte um das dicke Eis, das sich zwischen ihr und ihren Vater befand, zu brechen.
Nach einer Weile erreichte sie ihr Grundstück.
Sie öffnete die große Eingangstour und machte sie gleich auf den Weg in ihr Zimmer.
Dort ließsie sich auf ihr Bett fallen und starrte müde gegen die Decke, bis sie schließlich einschlief.
Als Isabella wieder erwachte, war es bereits dunkel draußen.
Sie gähnte, streckte die Arme und erhob sich von ihrem Bett um nach unten zu gehen.
Das leise Gemurmel ihrer Eltern verriet ihr, dass diese bereits zu Hause waren.
Für einen kurzen Augenblick spielte Isabella mit dem Gedanken, einfach wieder in ihr Zimmer zu gehen und so zu tun als hätte sie den kompletten Tag durchgeschlafen, doch innerlich wusste sie, dass sie ihren Eltern nicht ewig aus dem Weg gehen konnte.
Also straffte sie die Schultern und trat ins Esszimmer.
Ihre Eltern saßen am Esstisch, ihr Vater hatte wie gewohnt die Nase in die Zeitung gesteckt während ihre Mutter an ihrem Kaffe nippte und gleichzeitig an der verzierten Spitze der Tischdecke herumfummelte.
Schweigend zog Isabella einen Stuhl zurück und setzte sich.
„Guten Abend", begrüßte sie ihre Eltern.
Isabellas Mutter nickte lediglich kurz, während ihr Vater nicht einmal von der Zeitung aufblickte.
Ein Teller mit Spargel und Schweinebraten wurde vor ihre Nase geschoben.
„Ihr Essen Miss Isabella", sagte die Haushälterin.
Isabella bedankte sich, nahm ihre Gabel und spießte ein Stück Spargel auf, dann blickte sie fragend zu ihren Eltern.
„Habt ihr keinen Hunger?"
Ihre Mutter schüttelte den Kopf.
„Wir haben bereits gegessen!"
Isabella schluckte.
Ihre Eltern hatten doch immer mit dem Essen auf sie gewartet.
Mit ein wenig Mühe, versuchte sie ein Lächeln aufzusetzen und ihre Nervosität zu überspielen.
„Ich habe beschlossen, den neuen Walzer, der neulich bei dem Sommerkonzert zu hören war, auf der Pianoforte zu erlernen!"
Ihre Mutter verzog ihr Gesicht zu einer Art Grimasse, bei welcher es schwer zu deuten war, ob es ein Lächeln, oder viel mehr Spot darstellen sollte.
„Ach ja?"
Isabella nickte.
„Ja, es ist zugegeben eine Herausforderung aber ich werde Tag und Nacht üben!"
Isabella wandte sich zu ihrem Vater, der während der Konversation kein einziges Mal den Kopf aus seiner Zeitung gehoben hatte.
„Was sagst du dazu Vater?"
Doch dieser antwortete nicht, sondern leckte sich mit einer vollkommen übertriebenen Geste den Zeigefinger, um die nächste Seite der Zeitung umzublättern.
Also war Isabellas Versuch, ihren Vater mit Dingen wie Musik aufzuheitern, misslungen.
„Vielleicht", überlegte sie laut.
„Vielleicht, kann ich auch ein Duett draus machen, in meiner Klasse sind ein paar begnadete Musiker, nicht ganz so geschickt beim Spielen wie ich, doch ein Mädchen spielt die Geige sehr wunderschön und ein Junge sogar die Hafe!"
Überrascht blickte Isabellas Mutter auf.
Isabella hatte noch nie freiwillig Leute in ihr Heim eingeladen!
Mitschülerinnen und Mitschüler hatten lediglich ihr Haus betreten, wenn sie oder ihr Gatte diese eingeladen hatten.
Insgeheim hatte sich Isabellas Mutter immer gewünscht, dass ihr einziges Kind, ihre einzige Tochter, die sie sich immer so sehr gewünscht hatte, vielmehr so wäre wie sie.
Keine Frage, Isabella war in ihren Augen das wunderschönste Mädchen des ganzen Landes, dennoch war sie mehr als enttäuscht darüber wie sich ihre Tochter verhielt.
Sie hatte sich immer ein Mädchen gewünscht das beliebt war, dass von jeden Mann bewundert wurde und von jedem Mädchen durch ihre kokette Art beneidet wurde, dass kein Blatt vor den Mund nahm und über die neusten Dinge tratschte.
Das jeden Tag mit ihren Freundinnen unterwegs war, um in den Einkaufszentren die neusten Kleider zu kaufen.
Stattdessen war ihre Tochter ein schüchternes und zurückhaltendes Mädchen, dass anstatt ihre Schönheit auszunutzen, lieber das Alleine sein bevorzugte und ihre Nase in Bücher vergrub.
Selbst während des Tanzunterrichtes zu diesem fast jedes Mädchen der Stadt ging, fand sie keine Freunde.
Isabella spürte den überraschten Gesichtsausdruck ihrer Mutter auf sich und lächelte leicht.
Sie konnte man wenigstens schnell Überzeugen.
„Das ist zur Abwechslung mal eine erfreuliche Idee!", murmelte ihre Mutter.
Doch Isabella erkannte sofort den bitteren Unterton.
Nun erkannte Isabella, dass es wohl oder übel nichts nützte, um den heißen Brei zu reden.
Also räusperte sie sich nervös und richtete sich zu ihrem Vater.
„Ich entschuldige mich für mein törichtes Verhalten vom gestrigen Abend!"
Nun blickte ihr Vater endlich von der Zeitung auf.
„Ist das so?"
„Ich versichere es dir Vater!", fieberhaft überlegte Isabella, was sie überzeugendes sagen konnte.
„Es war dumm von mir gewesen, dich bei der Ausübung deiner Strafe zu unterbrechen, jeder hätte eine Strafe verdient gehabt!
Doch ich hatte Angst, dass die Familie dieser dummen Göre, oder gar der verdreckte Junge dir etwas antun könnten!
Ich wollte nicht, das du es riskierst, dich unnötig mit solch einem Volk herumschlagen zu müssen!"
Nun legte ihr Vater die Zeitung beiseite.
„Du junge Dame kommst aus dem obersten Stand des Nordviertels!
Niemals, niemals darfst du dich von solch Minderwertigkeiten beeinflussen lassen!"
Isabella nickte schnell.
„Ja Vater ich verstehe."
Ihr Vater seufzte.
„Trotz deines ungeheuren Verhaltens und deinem Verrat gegenüber mir und dem System, vergebe ich dir."
Erleichtert atmete Isabella aus.
„Ich danke dir Vater!"
Der Rest des Essens lief um einiges entspannter ab, als zuvor.
Ihre Eltern begannen mit Isabella wieder zu reden und das flaue Gefühl in ihrem Magen war verschwunden, dass sie ihr Mahl komplett essen konnte.
Nach dem Abendessen gab Isabella ihrem Vater den gewohnten Gute Nacht Kuss auf die Wange und begab sich nach oben.
Da sie den halben Tag geschlafen hatte, war Isabella kein bisschen Müde als sie sich zu Bett begab.
Stattdessen griff sie nach ihrem Lieblingsroman, froh darüber ihn wieder in ihre Arme schließen zu können.
Also machte sie es sich auf ihrem großen Himmelbett gemütlich, kuschelte sich in ihre rosafarbene Seidendecke und öffnete die erste Seite von ihrem Buch.
Doch schon nach wenigen Wörtern fiel Isabella auf, dass etwas an ihrem Buch anders war.
Kleine Randnotizen waren mit einem Bleistift an die Ränder der Seiten geschrieben worden.
Zunächst war Isabella sauer darüber, dass Collin einfach albern in ihr Buch gekritzelt hatte, nach genaueren hinschauen jedoch, bemerkte sie, dass diese Kritzelei aus fein säuberlich überlegten Kommentaren und Anmerkungen zum Buch bestand.
Isabella war überrascht.
Noch nie hatte sich jemand in ihrem Umfeld solch viele Gedanken zu einem Buch gemacht.
Obwohl Isabella das Buch schon viele Male gelesen hatte, war es nun so, als würde sie das Buch zum ersten Mal lesen, so interessiert war sie an den Bemerkungen.
Lange blieb sie wach, studierte die Notizen, überlegte sich was sie davon halten sollte und las weiter bis spät in die Nacht.
Als Isabella bei der letzten Seite angekommen war, hielt sie kurz inne und blickte nach oben.
Die große Runde Wanduhr verriet ihr, dass es bereits weit nach null Uhr war.
Na toll, das würde mal wieder einen unausgeschlafenen morgigen Schultag bedeuten.
Sie wandte sich wieder zu ihrem Buch und schlug die nächste Seite auf.
Sofort fiel ihr auf, dass unter den letzten Zeilen des Buches, ein langer Text geschrieben war.

Ein Buch eines wahren Freiheitskämpfers zu beehren gibt einen Kraft, Kraft sich selber vor all dem erdrückenden Dingen deines derzeitigen Lebensstandards zu befreien.
Kraft aufzustehen, den Schwierigkeiten deines Lebens entgegenzutreten und dagegen an zu Kämpfen.
Doch dies alleine macht einen Freiheitskämpfer nicht aus!
Erst ein Mensch der derartige Güte besitzt, dass er an das Wohl anderer denkt, der keiner Furcht trotzt, um das Wohl anderer zu retten, der für dich Hände und Füße ins Feuer hält, erst dieser Mensch ist ein Freiheitskämpfer, denn letztlich macht einen Freiheitskämpfer die zentrale Frage aus, ob man ein Held ist oder nicht.

Eilig blätterte Isabella die letzte Seite um, auf welcher eigentlich für gewöhnlich nichts mehr gestanden hätte.

Doch das Buch eines Helden, eines Freiheitskämpfers zu verehren, unter völliger Kontrolle, mit völligem Egoismus und trotz!
Dies gleicht nicht nur völligen Spot, sondern ist vielmehr ein einziges Trauerspiel!

Isabella schluckte.
Auf einmal hatte sie so ein bedrückendes Gefühl im Bauch, dass sie eilig das Buch zuschlug und an die hinterste Ecke ihres Zimmers pfefferte.
Das konnte nicht sein, Collin konnte niemals sie damit gemeint haben.
Doch wen sollte er sonst damit gemeint haben?
Jedes Mal, wenn Collin, oder einer der Bewohner des Südviertel sie wieder mit diesem Blick voller Abscheu und Hass begegnet hatte, hatte Isabella sich instinktiv gefragt, was sie ihnen nur furchtbares angetan haben sollte.
In Collins Kommentar schien sie die Antwort zu sehen und diese Aussage machte sie mehr als wütend.
Sie hatte es versucht, sie hatte wirklich versucht den Menschen aus dem Südviertel unvoreingenommen entgegenzutreten, zu ihnen nicht ganz so hart wie alle anderen zu sein, obgleich alle Schwerverbrecher und Minderwertige waren!
Doch die Zeilen, die auf das Papier niedergeschrieben wurden, machten Isabella nur mehr als deutlich das bewusst, was ihre Eltern und nahezu jeder Bewohner des Nordviertels dachte.
Die Menschen aus dem Südviertel waren Krank!
Sie waren Menschen voller Bosheit und Abschaum von denen man sich fern halten sollte!
Von diesem Augenblick an, war sich Isabella bewusst, dass sie nie wieder auch nur einen Positiven Gedanken gegenüber dem Südviertel verschwenden würde.
Sie hatte mit ihnen Abgehackt!
Wenn sie daran dachte, dass sie erst vorherige Nacht, dass Viertel betreten hatte und so nett gewesen war, bekam sie Bauchschmerzen vor lauter Scham.
Doch eine kleine Stimme in Isabellas Kopf fragte sich, ob die Bewohner des Südviertel womöglich dasselbe über sie dachten.
Und mit dieser brennenden Frage schlief Isabella ein.
Als Isabella am nächsten Morgen in die Klasse ging, hatte sie nicht die Kraft dazu, sich zu ihren Mitschülerinnen zu gesellen.
Stattdessen ließ sie sich auf ihren Platz fallen.
Das bedrückende Gefühl vom vergangenen Abend war nicht überwunden.
Isabella fühlte sich einerseits so unglaublich betrogen und beleidigt andererseits war sie auch neugierig, neugierig warum die Leute des Südviertels wohl solche schrecklichen Gedanken haben konnten.
Am liebsten hätte sich Isabella jemanden anvertraut, sich das ganze Leiden von der Seele geredet.
Doch in diesem Moment wurde ihr mehr als deutlich bewusst, dass sie niemandem etwas sagen konnte.
Würde sie jemanden ihren wahren Gedankengang mitteilen, so würde diese Person sofort mitkriegen, was Isabella für scheußliche Gedanken hatte.
Sie würden glatt denken, dass Isabella selber ins Südviertel gehörte.
Isabella schüttelte den Kopf.
Das konnte sie nicht tun, das konnte sie ihrem Vater nicht antun.
Als Isabella nach der Schule nach Hause kam, ging sie ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer.
Sie hatte schon wieder ihren Fahrdienst ignoriert und war gelaufen.
Isabella hatte einen Haufen von Hausarbeiten zu tun und das erste Mal in ihrem Leben, war sie auch froh darüber!
Dies bat ihr endlich die Möglichkeit, an etwas anderes zu denken.
Doch als sie über den Tisch gebeugt an ihren Matheaufgaben saß, konnte sie einfach keine einzige Zahl auf das Blatt Papier bringen.
Isabella stützte den Kopf an ihren Händen ab und blickte leer auf die Matheformel.
Konnte sich ihr Kopf nicht einmal ausschalten?
Sie seufzte und richtete sich wieder auf, dabei fiel ihr Blick auf einen ganz bestimmten Gegenstand.
Ein Notizbuch
Ihr Vater hatte es ihr zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt und neben all den teuren Geschenken die Isabella bekommen hatte, war ihr dieses das liebste gewesen.
Sie hatte sich in ihren Kopf ausgemalt, wie die größten Autoren selber mal ihre Romane in solchen Bücher geschrieben hatten.
Sie fuhr mit den Fingern über die Rosenverziehrungen des braunen Einbandes.
Isabella hatte schon viele male Tagebuch geschrieben, doch dieses Notizbuch hatte sie immer für die wirklich spannenden Abenteuer in ihrem Leben aufheben wollen.
Doch jetzt war das Bedürfnis so groß, ihre Gedanken von der Seele zu schreiben, dass sie kurzerhand nach dem Buch griff und zu schreiben begann.
Und so schrieb und schrieb sie Wort für Wort auf.
Als Isabellas Hand zu schmerzen begann und sie eine kleine Pause einlegte, um ihre Hand zu schonen, blickte sie auf die Uhr und zog überrascht die Augenbrauen hoch.
Die letzten zwei Stunden waren wie im Flug vergangen, jetzt musste sich Isabella so langsam fertig machen, um noch pünktlich zum Ballett Unterricht zu kommen.
Widerwillig stand sie auf und zog ihre Uniform an.
Dann schnappte sie ihre Tanztaschen und ging die Treppen hinunter.
Isabellas Vater war noch nicht zu Hause, doch ihre Mutter saß auf der Couch des Wohnzimmers und blätterte in einer Modezeitschrift herum.
„Ich gehe jetzt zum Ballett", teilte Isabella ihrer Mutter knapp mit und schnappte sich einer der Wasserflaschen, die auf dem Tisch standen.
„Ist gut, sag doch bitte dem Personal Bescheid damit dich einer fährt!"
„Nicht nötig" winkte Isabella ab, sie machte eine kurze Pause.
„ Äh, ich fahre mit dem Fahrrad."
Überrascht blickte ihre Mutter von der Zeitschrift auf.
„Mit dem Fahrrad?"
Isabella zuckte mit den Schultern.
„Ja, in den nächsten Monaten wird es immer kälter werden, warum also nicht die letzten Sommerwochen ausnutzen."
Verdutzt blickte ihre Mutter sie an.
„Na schön, wenn du meinst", antwortete sie perplex.
„Bis bald!", verabschiedete sich Isabella und schloss die Haustür hinter sich.
Dann ging sie zur Garage des Hauses, in der ihr Fahrrad stand.
Vorsichtig schob sie den Ständer zurück und schob ihr Fahrrad in Richtung des Ausgang.
Es war ein wirklich schönes Modell.
Himmelblau, mit einem großen geflochtenen Korb, dennoch hatte es Isabella nur wenige Male benutzt, obgleich sie es schon viele Jahre besaß.
Warum auch, wenn man immer jemanden hatte der einen fährt.
Doch der Grund dafür das Isabella heute mit dem Fahrrad fuhr, beunruhigte sie, dennoch konnte sie es nicht lassen.
Sie packte ihre Tasche in den Korb und fuhr los.
Während Isabella fuhr und der Wind durch ihre Haare fegte, konnte sie für einem Moment alles völlig vergessen.
Das Einzige woran sie dachte, war das warme prickeln der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und der Wind der durch ihr Haar fegte.
Doch als sie mit dem Fahrrad am Tanzstudio ankam, war der ganze Gedankenwirr wie von Zauberhand wieder da.
Als Sie im Studio ankam, waren bereits die meisten Tänzerinnen und sogar ihre Tanzlehrerin da.
Schnell setzte sich Isabella hin und zog ihre rosafarbenen Ballettschuhe an, dann angelte sie sich hastig einen Platz an der Stange und begann sich zu dehnen.
Sie kannte jeden aus diesem Kurs.
Beinah jedes Mädchen aus ihrer Klasse besuchte diesen Kurs sowie zahlreiche Mädchen aus Nachbarschulen.
Dies fand Isabella zugegeben ein wenig schade.
Das Tanzen konnte solch eine Intime und verletzliche Sache sein, bei solch einer emotionalen Sportart konnte man pubertierende Mädchen, die über alles lachten, nicht gebrauchen.
Isabella hatte das Glück, dass sie anscheinend im Tanzen sehr begabt war, so sagte es zumindest ihre Lehrerin.
Das lag wahrscheinlich aber eher an ihren Eltern, die Isabella seit sie laufen konnte zweimal in der Woche zum Tanzen schickten.
„Also gut", rief die Tanzlehrerin und klatschte in die Hände.
„Wir machen dort weiter wo wir letztes Mal angefangen haben, alle auf Anfangsposition!"
Die Mädchen versammelten sich alle in ihren Positionen, während Isabella sich weit vorne aufstellte.
Sie hatte den Haupttanz des Stückes.
Doch als der Sommernachtstraum ertönte und alle zu Tanzen begannen, konnte sich Isabella einfach nicht auf die richtige Schrittfolge konzentrieren.
Zu sehr wahren ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt.
Streng blickte die Lehrerin sie an.
„Isabella, im Takt bleiben!", mahnte sie.
Isabella nickte und versuchte sich auf ihre Füße zu konzentrieren, doch die ganzen Gedanken in ihrem Kopf wollten einfach nicht verschwinden.
„Wenn du so tanzt, komm ich aus dem Rhythmus!", schimpfte ein Mädchen hinter ihr, was Isabella nur noch mehr aus der Fassung brachte.
„Okay Stopp so geht das nicht!"
Die Lehrerin seufzte und schaltete die Musik ab.
„Wenn du erst auf Vier anstatt auf drei anfängst zu tanzen, kommst nicht nur du, sondern auch deine Mitschülerinnen aus dem Rhythmus Isabella!"
Isabella nickte.
„Ja tut mir leid, es kommt nicht wieder vor!"
„Na dann!", sie klatschte wieder in die Hände.
„Also auf Anfang!"
Die Musik ertönte und Isabella begann von neuem zu Tanzen.
Diesmal stolperte sie jedoch versehentlich über ihren Fuß und fiel.
„Stopp!", die Musik wurde abermals abgeschaltet.
„Isabella du musst dich jetzt wirklich konzentrieren!"
Isabella wurde knallrot.
„Tut mir leid!"
Der Rest der Stunde wurde auch nicht viel besser.
Ständig vergaß Isabella ihre Schritte, stolperte oder verpasste den Einsatz.
Als ihre Lehrerin endlich die Stunde beendete, atmete Isabella erleichtert aus.
Erschöpft ging sie zu ihrer Tasche und nahm ihre Flasche raus um einige Schlücke Wasser zu trinken.
„Ich hoffe, dass dieses Tanzen heute Zukünftig nicht zur Gewohnheit wird!", sagte die Lehrerin und trat neben sie.
„Nein Nein", versicherte Isabella.
„Ich hatte äh Migräne"
Dies war die erst beste einigermaßen akzeptable Ausrede, die in Isabellas Kopf kam.
„Dann wünsche ich dir gute Besserung!"
Isabella lächelte, bedankte sich und packte ihre Tasche.
Als sie draußen bei ihrem Fahrrad angekommen war, blickte sie auf ihre Armbanduhr.
Ihre Lehrerin hatte den Unterricht frühzeitig beendet.
Dadurch fühlte sich Isabella mehr als bestätigt, dass sie sicherlich noch nicht nach Hause fahren würde.
Eilig schwang sie sich auf ihr Fahrrad und fuhr in die entgegengesetzte Richtung, in die sie eigentlich musste.
Während sie so schnell radelte, wie sie nur konnte, blickte sie einige Male hektisch nach hinten, um darauf zu achte, dass keiner hinter ihr wahr den sie auch kannte.
Als sie nach einer Weile endlich angekommen war, stieg sie ein wenig erschöpft vom Fahrrad und schmiss es ihn die Ecke neben dem Gebüsch.
Nun stand sie schwer atmend vor den großen Toren des Südviertels.
Innerlich gab sich Isabella eine Backpfeife.
Sie verspürte solch ein Schamgefühl, gegenüber dem was sie im Begriff war zu tun, dass sie am liebsten ihr Fahrrad gepackt hätte und umgedreht wäre.
Doch egal wie sehr sie dagegen ankämpfte, egal wie oft sie sich sagte, dass sie umdrehen und nie wieder kommen sollte, fühlten sich ihre Füße wie Blei an und wollten sich einfach nicht fort bewegen.
Eine Weile stand Isabella so vor dem Tor, hadernd mit sich selber.
Dann konnte sie es nicht länger aushalten, bückte sich und krabbelte durch das kleine Loch des Zaunes neben dem Gebüsch.
Vorsichtig ging sie durch die Straßen.
Wie immer waren die Straßen wie leer gefegt.
Hoffnungsvoll ging Isabella weiter den Weg entlang und bog zwischen zwei kleinen Hütten in den kleinen Rasenweg ab.
Nun hatte sie guten Blick auf das alte, verschmutzte Dach.
Leise Gitarrenmusik erklang und bei genauerem hinsehen, erkannte Isabella eine dunkle Gestalt.
Als Isabella näher kam, verstummte die Musik plötzlich.
Kurz zögerte sie, dann riss sie sich aber zusammen und kletterte Vorsichtig die Zweige des Baumes hinauf, bis sie schließlich wackelig auf das Dach sprang.
„Ich weiß nicht, ob ich überrascht bin, oder es schon geahnt habe.", sagte Collin amüsiert und legte seine Gitarre neben sich.
Isabella runzelte die Stirn.
„Wie meinst du das?"
„Was?"
„Naja", vorsichtig kam Isabella auf Collin zu und setzte sich.
„Das du es geahnt hast, dass ich wieder komme?"
Collin zuckte grinsend mit den Schultern.
„Tja ich habe mir schon gedacht, dass du wohl doch auf ungezogenes kleines Mädchen machst und dem Charme unseres Viertels nicht entkommen kannst"
Nun packte Isabella die Wut.
„Ich bin nur aus einem Grund hier!", fauchte sie, öffnete ihren Rucksack und knallte die zerlesene Ausgabe von Wilhelm Tell aufs Dach.
Das Grinsen auf Collins Gesicht wurde breiter.
„Du hast meine Randnotizen gelesen?"
„Allerdings!", Isabella knirschte mit den Zähnen.
„Wie konntest du nur sowas über mich schreiben?"
Er zog spöttisch die Augenbrauen hoch.
„Also entsprechen meine Worte nicht der Wahrheit?"
„Nein, ich habe dieses Buch schon tausende Male gelesen, wie kannst du also sagen ich hätte keine Ahnung?"
Ein wenig abgelenkt zupfte Collin an seiner Gitarre rum.
Im Gegensatz zu Isabella, schien er vollkommen ruhig zu sein.
„Ich habe lediglich meine Verwunderung darüber geäußert, dass dein Lieblingsbuch das eines der größten Freiheitskämpfer aller Zeit ist."
„Ach ja", wütend gestikulierte Isabella mit ihren Händen.
„Weil wir aus dem Nordviertel gute Menschen sind? Weil wir im Gegensatz zu eurem Viertel etwas aus unserem Leben machen und es nutzen ohne irgendwelche falsche Spielchen?"
Nun war das eben zuvor schiefe Grinsen in Collins Gesicht wie eingefroren und seine Augen begannen gefährlich zu funkeln.
„Ach ja? Dann beantworte mir nur eine Frage, was willst du dann hier?"
„Ich will wissen, warum du uns so hast, warum du mich so hasst?"
Collin lachte spöttisch auf.
„Das willst du wirklich wissen?"
„ Ist es alles nur Neid?", fuhr Isabella fort
„Neid, weil wir aus unserem Leben etwas machen konnten?"
„Weil du unter einer Lüge lebst!"
Collins Stimme wurde auf einmal so laut, dass Isabella reflexartig zurückwich.
„Kein Luxus der Welt, kein glamouröses und Zukunftsversprechendes Leben würde ich gegen eine Lüge eintauschen!"
Isabella schüttelte verständnislos den Kopf.
„ Wie kann man nur so sein? Ihr seid alle Unmenschen, Lügner, Verbrecher, wie kannst du nur solche Dinge behaupten, wie kannst du es nur wagen solche Dinge über meine Familie und mich zu behaupten?"
„Ach ja?", konterte Collin.
„Dann beantworte mir doch bitte mal die Frage was wir getan haben sollen?"
Eilig rappelte sich Isabella auf und klopfte den Sand von ihrem Rock.
„Wie kann man einen Menschen nur derart hassen, dass man ihm solch grausamen Dinge an den Kopf wirft?"
Als Collin schwieg drehte sie sich schnaubend um und wandte sich zum Gehen.
„Wahr ja klar, dass du darauf keine Antwort findest!"
„Ich hasse dich nicht!", hörte sie Collin schließlich leise hinter sich sagen.
Überrascht drehte sie sich um.
„Ich bemitleide dich, weil du glaubst, dass du so viel zu wissen scheinst, obwohl du gar nichts weist"
Das hatte gesessen.
„Du kannst mich mal Collin!", überrascht von sich selber drehte sich Isabella um und ging Richtung Baum.
Noch nie hatte sie ein solches Wort in den Mund genommen.
Schnell kletterte sie die langen Äste des Baumes hinunter.
Sie wollte nur hier weg.
Weg und niemals wieder kommen.
„Tu mir einen Gefallen Prinzessin!", hörte sie Collin hinter sich herrufen.
„Frag mal Mommy und Daddy ein wenig darüber aus, warum das Südviertel ist, was es ist!"

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